Ich zweifle, also gibt es Kunst
Am Ende einer Präsentation eines EDUCULT-Forschungsprojektes zur Qualitätsentwicklung kultureller Bildung entspann sich eine anregende Diskussion mit unseren Auftraggebern zur Qualität von Kunst. Im Verlauf des Gesprächs wurde eine grundsätzliche Verunsicherung deutlich, ob und wenn ja, wie man die Qualität von Kunst bestimmen, messen und darstellen kann, in der Hoffnung, damit einleuchtende Begründungen für einen Befund zu liefern, warum „Bach“ besser sei als „Lady Gaga“ – oder warum doch nicht.
Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Fragestellung PädagogInnen ganz besonders verunsichert. Immerhin ist es Teil ihres professionellen Selbstverständnisses, Qualitätsvorstellungen anhand mehr oder weniger vorgegebener Lernziele zu messen und die Lernergebnisse auf dieser Grundlage zu beurteilen. Dieses Verfahren funktioniert in der Beschäftigung mit Kunst ganz offensichtlich viel weniger gut (einer der Gründe, warum sich Kunst- oder MusikerzieherInnen soviel schwerer tun, zumindest die künstlerisch-kreativen Leistungen ihrer SchülerInnen anhand definierter Vorgaben zu bewerten als dies die VertreterInnen klassischer Lerngegenstände vorgeben zu können).
Und doch wabern in uns allen zumindest vage Vorstellungen, was „gut“ ist in der Kunst und was nicht. Bei näherem Hinsehen kommen viele der diesbezüglichen Kriterien von „außen“: Es sind in erster Linie eine begrenzte Anzahl von KunstexpertInnen, die als TeilnehmerInnen in einem mehr oder weniger hermetischen Diskurs die Qualität künstlerischer Produktion definieren. Das ist der Grund, warum junge KünstlerInnen in ihrem Bemühen, die Erfolgsleiter hinaufzuklettern, gar nichts anderes übrig bleibt, als Zugang in diese Kreise zu suchen, in der Hoffnung, dort bemerkt zu werden und sich in der Folge in einschlägigen Referenzmedien wie Fachzeitschriften, Ausstellungen, Festivals oder anderen einschlägigen Präsentationskreisen wieder zu finden.
Als Außenstehender kann man schon den Eindruck gewinnen, dass dieser Qualitätsdiskurs nicht eben transparent geführt wird. Stattdessen deutet vieles darauf hin, dass nach wie vor eine streng hierarchische Priesterschaft aus KuratorInnen und KritikerInnen über die herrschenden Qualitätsvorstellungen wacht (und damit handfeste materielle Interessen eher verschleiert als sichtbar macht).
Das potentielle Publikum wird über die Ergebnisse dieser internen Verhandlungen in Form „angesagter Events“ informiert, die zu besuchen ein „must“ ist, weil sie versprechen, noch einmal die Erwartung allgemein vermittelbarer Qualitätsvorstellungen einzulösen. Und so pilgern wir zu all den gehypten Veranstaltungen in der Hoffnung, auf das zu treffen, was künstlerische Qualität ausmacht.
Was wir bei der Gelegenheit gerne außer Acht lassen ist die spezifische Geschichte, die wir über die Entwicklung künstlerischer Qualitätsvorstellungen miterzählen könnten. Immerhin ist das, was als „das große kulturelle Erbe“ auf uns gekommen ist, ohne seine religiösen Implikationen nicht zu denken. Es waren die säkularen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, die sich mit dem Verlust des göttlichen Referenzrahmens noch einmal auf die Suche nach dem Absoluten gemacht haben und vermeinten, es ausgerechnet in der Kunst finden zu müssen. Erst damit war es möglich, in der Nachfolge eines alles bestimmenden Herrgotts (und seiner priesterlichen Entourage) den Künstler zu einem säkularen Schöpfergott hochzustilisieren, der es auf sich nehmen sollte, die Essenz der Welt auf immer neue (innovativ!) Weise aus sich heraus zu gestalten. Und so kam das Genie in die Welt, dem nicht nur die Aufgabe zukam, sich mit seiner Schöpferkraft über den Normalbürger zu erheben sondern mit seiner künstlerischen Existenz auch gleich die damit verbundenen Qualitätskriterien mitzuliefern. Das Ergebnis war eine weitgehende Gleichsetzung von Künstlerschaft mit einer ihr immanenten Qualität (die Normalsterbliche als nicht mit vergleichbaren „göttlichen Funken“ ausgestatteten Talenten nur bewundern aber nie selbst erreichen können) zu ermöglichen.
Im historischen Kontext erscheint es verblüffend, dass die Konstruktion eines solchen Künstlerbildes mit der Aufgabe, das Absolute bereits im Diesseits zur Erscheinung zu bringen, einhergeht mit der Endphase absolutistischer Herrschaftsformen, deren erstes Ziel es war, aufkommende Forderungen der Mitsprache und politischen Mitgestaltung zu verhindern.
Und so treffen wir bei genauerem Hinsehen auf eine sehr unheilige Allianz künstlerischer und herrschaftlicher Ansprüche, die vor allem eines gemeinsam haben: Mitsprache auszuschließen.
Folgt man dieser Interpretation, dann kann der gesamte Verlauf des 20. Jahrhunderts mit seiner Geschichte der künstlerischen Avantgarden mit ihren Versuchen, Kunst und Leben noch einmal zu versöhnen, als Kampf gegen die Hüter des Absoluten und ihren Qualitätsdiktaten gesehen werden. Dieser Kampf hat politisch unendliche viele Opfer gefordert. Davon haben Aufstieg und Fall von auf ideologische Absolutheitsansprüche gerichtete, totalitäre Regime mit ihren wahnwitzigen Lebensvernichtungsstrategien eindrucksvoll Zeugnis abgelegt.
Aber auch in der Kunst dominieren ganz offensichtlich nach wie vor traditionelle Vorstellungen, die es so schwer machen, ein neues, auf demokratische Errungenschaften beruhendes Verhältnis zwischen Kunstproduktion und Rezeption zu schaffen (Eine Annahme, vor deren Hintergrund sich die Selbstzuschreibung Österreichs als ein „Kulturstaat“ nicht nur als Form der internationalen Wertschätzung seines überreichen kulturellen Erbes, sondern auch als anhaltende symbolische Repräsentation demokratischer Defizite lesen lässt).
Immerhin „funktioniert“ der überwiegende Teil des Kulturbetriebs nach wie vor (siehe oben) auf der strikten Hierarchie von selbstbezogen agierenden Qualitätsstandardswahrern an der Spitze des Kulturbetriebs und einer weitgehend reaktiven Masse an stummen NutzerInnen, deren affirmative Aufgabe vor allem darin besteht, herrschende Qualitätsvorgaben in ihre Entscheidungen zu integrieren und ihre Mitsprachemöglichkeiten auf den Erwerb (oder Nichterwerb) von Eintrittskarten zu beschränken..
Im Vergleich dazu bleiben alle Versuche, „Kunst“ (und damit verbundene Qualitätsvorstellungen) entlang demokratischer Ansprüche zur Mitwirkung eines erweiterten Interessentenkreises weiterzuentwickeln und auf der Grundlage partizipative Kunstpraxen zu entwickeln, die seltene Ausnahme.
Irgendwie habe ich den Eindruck, dass feudale Reminiszenzen von Unbedingtheit noch sehr stark unsere Vorstellungen von Kunst bestimmen. Einer der Auswege der letzten Jahre bestand darin, sich vom System Kunst überhaupt zu verabschieden und es einer vergangenen Epoche zuzuordnen. Ihren Ausdruck fand dieses Generalabrechnung mit dem elitären Kunstbetrieb in mannigfachen Bildungsbemühungen, die Kreativität vor allem von jungen Menschen zu stimulieren und zu fördern: Ziel schien es, den Schöpfungsmythos der Priesterschaft der Künstler zu entreißen und stattdessen „allen jungen Menschen“ zu überantworten.
In der Argumentation zugunsten dieser neuen Generation kreativer Bildungsangebote fällt mir auf, dass die damit verbundenen Qualitätsansprüche nur allzu gerne ähnlich vage und unverbindlich bleiben wie im Feld professioneller Kunstproduktion. Immerhin rekurrieren derart verhandelte Kreativitätsvorstellungen – wohl in Ermangelung entsprechender Alternativen – unversehens auf eine neue Variante des Absoluten, diesmal in Gestalt immanenter kreativer Potentiale der jungen Menschen, die als ihnen von Beginn an innewohnend gedacht werden. Als solche schlummerten sie als ungehobene Schätze in ihren Persönlichkeiten. Daher sollte sich die Aufgabe der PädagogInnen darauf beschränken, sie mit Hilfe entsprechender Bildungsmaßnahmen zu heben (um auf diese Weise zu negieren, dass Kinder mit ihrer Entstehung immer schon Ergebnis äußerer Einflüsse sind; ja darauf existentiell angewiesen sind).
Im Gegensatz zu diesen Prädestinationsvorstellungen drängt sich mir der Verdacht auf, dass wir es in der Beschäftigung mit der Kunst der Wenigen ebenso wie der Kreativität der Vielen mit einem Lernprogramm zu tun haben, das uns instand setzt, mit der Nichterfahrbarkeit des Absoluten umzugehen und Erfahrung des Relativen schätzen zu lernen. In der eingangs erwähnten Diskussion habe ich stark für einen künstlerische Qualitätsbegriff plädiert, der sich nicht – von wem auch immer – verordnen lässt, sondern kommunikativ mit möglichst allen Beteiligten auf immer neue Weise entwickelt wird. In einem solchen Setting repräsentiert das Kunstwerk nicht per se Qualität. Zu ihrer Einschätzung bedarf es immer eines Kontextes, in dem Kunst stattfindet und damit der Einbeziehung derjenigen, die sich in spezifischen Umständen damit auseinander setzen bzw. an ihm selbst mitwirken.
Wenn man bereit ist, dieser Figur zu folgen, dann ergibt sich ein wesentliches Kriterium aus der Zusammensetzung derer, die über Qualität künstlerischer Tätigkeit befinden.
Die demokratische Verfasstheit erlaubt zumindest potentiell allen, über die Qualität von Kunst und damit über den Stellenwert, die sie in unserem Leben spielt, zu befinden. Das ist eine Errungenschaft, die sich freilich in weiten Teilen vor allem des öffentlich geförderten Kunstbetriebs noch nicht durchgesprochen hat. Und doch machen immer mehr Menschen von dieser Möglichkeit Gebrauch und lassen sich nicht mehr durch eine einseitige Priorisierung bestimmter künstlerischer Ausdrucksformen (samt der sie repräsentierenden Kulturpriesterschaft) vom Ausleben ihrer eigenen Qualitätsvorstellungen abhalten.
In dem Zusammenhang kommt mir der Gedanke, ob es nicht ein zunehmender „Auftrag“ staatlicher Kulturpolitik sein könnte/sollte, entsprechende „Verhandlungsräume“ zu einer zeitgemäßen Qualitätsbestimmung zwischen ProduzentInnen und RezipientInnen auf Augenhöhe zu eröffnen.
Vor allem für diejenigen, die durch eine klassische Indoktrination zur Aufrechterhaltung der klassischen Hierarchie künstlerischer Produktion durchgegangen sind, kann der damit verbundene Verlust absoluter Vorstellungen schon mal zu großer Verunsicherung führen. Vor allem dann, wenn ihre Zweifel mit Verweis auf eine höhere Autorität nicht mehr aus der Welt geschafft werden können.
Vielleicht aber ist es gerade der Zweifel, der uns in der Sache weiter bringen könnte:
Als eine Richtschnur im Umgang mit Kunst in einer auf kulturelle Vielfalt und Pluralität basierenden demokratischen Gesellschaft: Voraussetzung dafür ist, uns von jeglichen Absolutheitsvorstellungen zu verabschieden und die Relativität als bestehenden Wert schätzen zu lernen. Und wir könnten lernen, dass sich jeglicher Sinn erst im immer wieder erneuerten Miteinander-Aushandeln ergibt und dass es vor allem die Kunst ist, die in uns das Wissen wach hält, dass im Leben nix fix ist.
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