Siegried Bernfelds „Sisyphos – Die Grenzen der Erziehung“
Sie sind uns allen im Ohr, die engagierten Stimmen, die bei der Verhandlung jeglicher gesellschaftlicher Probleme fordern, deren Lösung läge in einer möglichst frühen Behandlung in der Schule. Nur möglichst frühzeitig einsetzende Bildungsbemühungen tunlichst ab dem Kleinstkindalter wären in der Lage, den Anspruch und die Fähigkeit zur Gestaltung eines gelingenden Lebens zu befestigen.
Man wollte es nur zu gerne glauben, dass eine gute Schule die beste Voraussetzung für eine gedeihliche individuelle und auch kollektive Entwicklung darstellt. Wäre da nicht der verwirrende Widerspruch, dass sich in den letzten 30 Jahren die Bildungsangebote in einer ungeahnten Weise intensiviert und wohl auch verbreitert haben, ohne dass dies zu einer nachhaltigen Verbesserung des Zusammenlebens geführt hätte. Ohne die Probleme der sogenannten bildungsfernen Schichten klein reden zu wollen, aber so viele gut gebildete und gut ausgebildete BürgerInnen gab es noch nie. Und was ist das Resultat?
Aus der Sicht der aktuellen Bildungspolitik müsste man nachgerade von einem Überschuss an Gebildeten sprechen, zumal die Hohen Schulen immer weniger wissen, was sie mit dem ungebrochenen Zustrom an bereits gut gebildeten Lernwilligen machen sollen . Deren AbsolventInnen tun sich immer schwerer, ausbildungsadäquate Arbeitsplätze zu finden. Sie retten sich, sofern sie nicht als für das betriebswirtschaftliche Ergebnis unmittelbar relevant eingestuft werden, in prekärer Weise von einem Projekt zum nächsten bis sie spätestens mit 50 draufkommen, dass sie keiner mehr will.
Mehr Bildung – weniger Zukunft?
Offensichtlich ist, dass die sukzessive Erhöhung der Bildungsniveaus nicht zu einer Verbesserung der Entscheidungskompetenzen bei den herrschenden Eliten geführt hat. Ganz im Gegenteil: Noch nie war die Ratlosigkeit so groß, wenn es darum geht, überzeugende Perspektiven bei der Bewältigung der anstehenden wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und wohl auch kulturellen Fragen auch nur vorzuschlagen, geschweige denn umzusetzen. Stattdessen dominieren selbst in den gebildeten Kreisen Katastrophenszenarien, die vom Boulevard nur allzu gern zu einem Generalklima der Angst und des Schreckens hoch geschrieben werden.
Und so ist dann auch die allgemeine Stimmung inmitten allgemeinen Bildungswohlstands. Während sich die ins Trudeln geratenen Entscheidungseliten ihre Verunsicherung mit exorbitanten Gehältern mildern lassen, grassieren gerade bei jungen Menschen – folgt man der aktuellen Jugendstudie des Instituts für Jugendkulturforschung – mehrheitlich existentielle Ängste, die offenbar so gravierend sind, dass sie die bestehenden Generationenverträge, jedenfalls aus der Sicht der Jugendlichen, zur Disposition stellen lassen.
Und so könnte man schon zum Schluss kommen, dass die Verbesserung des Bildungsangebotes zum Gegenteil dessen geführt hat, was man davon erhofft hat: statt zu Klarheit zu wachsender Unübersichtlichkeit und damit verbundener Unsicherheit; statt zu einem mehr an Gerechtigkeit zu Entsolidarisierung und Vertiefung der sozialen Gegensätze; statt zu eine Hausse an politischen Ideen zur Schwächung der politischen Problemlösungskompetenzen und darüber hinaus zum Ausbluten jeglicher handlungsleitender Gesellschaftsentwürfe.
Siegried Bernfeld – ein vergessener gesellschaftskritischer Pädagoge
Um dieses widersprüchliche Phänomen zu erklären, habe ich mir die sommerliche Relektüre von Siegried Bernfelds programmatischer Schrift „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ aus dem Jahr 1925 vorgenommen. Als marxistisch inspirierter Psychoanalytiker im Umfeld Sigmund Freuds fand sich Bernfeld mit seiner pointierten Thesen immer wieder als Außenseiter in der damals heftig geführten pädagogischen Diskussion. Als Konsequenz geriet er nach seiner Flucht vor dem Nazi-Terror (er starb 1953 in San Francisco) in Vergessenheit.
Scheinbar nichts blieb von diesem hervorragenden Vertreter der Wiener Jugendbewegung, der bereits 1914 im „Kinderheim Baumgarten“ ein wegweisendes psychoanalytisch-pädagogisches Modellprojekt für jüdische Waisenkinder entwickelt hatte. Die wenigen Spuren Bernfelds in der pädagogischen Literatur der Nachkriegszeit fallen kritisch aus und bemängeln die von ihm vorgetragene Verknüpfung von Pädagogik und Gesellschaftstheorie, die noch 1979 von Luhmann und Schorr als „fatal“ und „wenig hilfreich“ eingeschätzt wurde.
Und so stellt sich erst heute die möglicherweise verhängnisvolle Tragweite einer solchen Vermeidungsstrategie dar, die die längste Zeit vermeinte, eine pädagogische Diskussion abseits der jeweiligen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Kontexten, in denen diese Pädagogik betrieben wird, führen zu können. Und so ist es nicht verwunderlich, dass man mit der Konstruktion eines solchen artifiziellen Settings mit erziehungswissenschaftlichen Argumenten behaupten konnte, die Fähigkeiten der LehrerInnen sowie die Anlagen und Fähigkeiten der SchülerInnen ließen sich als ausschließliche Faktoren zur Erfolgsbestimmung pädagogischer Maßnahmen heranziehen.
Im Gegensatz zu dieser pädagogischen Weltfremdheit scheint mir das besondere Verdienst Bernfelds darin zu liegen, den gesamtgesellschaftlichen Kontext, in dem Bildung und Erziehung stattfinden, in den Blick zu nehmen. Es stellt seine Leistung dar, das individuelle Vermögen des Lehrers oder des Schülers in Bezug zu setzen zur „Gesamtstruktur der erziehenden Gesellschaft“, der Bernfeld eine entscheidende Funktion bei der Grenzziehung jeglicher Bildungsbemühungen zuweist.
Dies wird dort besonders deutlich, wo Bernfeld von einem umfassenden Erziehungsbegriff ausgeht, der jegliche Interaktion des Kindes mit seiner Umgebung als Lernvorgang begreift. Im Vergleich dazu würden die Maßnahmen organisierter Pädagogik nur einen bescheidenen Stellenwert einnehmen und dabei überdies den Anspruch einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden „Rationalisierung der Erziehung“ weitgehend verfehlen (als Psychoanalytiker wird er nicht müde, auf den weithin irrationalen Charakter in der Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler hinzuweisen, der von unbeherrschbaren Formen der Abhängigkeit geprägt ist)
Die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse sind der Schlüssel
Im Zentrum von Bernfeld Überlegungen steht die Existenz einer kulturellen Hegemonie, die es versteht, die mit ihrer Durchsetzung verbundenden Wertvorstellungen alternativlos in den Köpfen und Herzen der Lernenden zu verankern. Daraus ergibt sich für ihn folgerichtig, dass jegliche Form der Veränderung des Erziehungsbereiches grundlegender Veränderungen der Gesellschaftsstruktur voraussetzt: „Vom Erziehungsbereich selbst, von der Summe pädagogischer Handlungen, können solche Veränderungen nicht ausgehen. Sie sind zuallererst Sache der Gesellschaft und der in ihre wirkenden politischen Kräfte“.
Wenn wir diesem Befund etwas abgewinnen können, dann erweisen sich eingangs erwähnte Aufforderungen frühest möglicher Bildungsbemühungen zugunsten der nächsten Generationen als Lösung akut anstehender gesellschaftliche Probleme rasch als gezielte Ablenkungsmanöver. Überzeugender ist da schon der Gegenschluss, der darauf hinausläuft, die Art und Richtung bestehender Bildungsmaßnahmen als Spiegel der herrschenden Verhältnisse zu begreifen und so die Initiative in erster Linie bei denen zu sehen, die die akut anstehenden Probleme zu verantworten haben.
An einem aktuellen Beispiel ausgeführt: Wenn es heute einen vermehrten Bedarf an kreativen Lösungen gibt, dann wird es seitens der entscheidenden Eliten nicht genügen, kreativitätsfördernde Maßnahmen in der Schule zu verlangen sondern sich zu aller erst selbst als kreativ zu erweisen.
Eine solche Sichtweise hätte überdies den Vorteil, diejenigen klar zu bezeichnen, die nicht nur die aktuellen Verhältnisse herbeigeführt haben sondern als einzige auch den Schlüssel in der Hand halten, diese zum Besseren zu wenden: Das sind die heute an den Entscheidungshebeln Sitzenden. Und den jungen Menschen bliebe eine doppelte Belastung erspart, die einerseits darin besteht, die aktuellen Fehlentwicklungen (denen die heute Erwachsenen auf geschichtlich einmalige Weise entronnen sind) in voller Wucht zu erleiden und anderseits auch gleich noch die Verantwortung zu übernehmen, ihre Beseitigung sicher zu stellen.
Die Verherrlichung von Good Practice als Ablenkungsmanöver
Wenig erfreulich für alle „BildungspolitikerInnen der kleinen Schritte“ bezeichnet Bernfeld die „verbreitete Reformtheorie der Erziehung als in sich falsch“. Die Hoffnung – sie wird auf Grund der paralysierenden Machtverhältnisse gegenwärtig vom Unterrichtsministerium favorisiert – durch Ausbreitung von Good Practive Beispielen in Form von Musterinstitutionen würde a la longue das ganze Erziehungswesen eine neue Form erhalten, verweist er in den Bereich der Illusion.
Seine diesbezügliche Position in Zeiten des artikulierten Klassenkampfes: „Niemals wird das herrschende Klasse dem Proletariat gleichen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zubilligen; das kann nur in einer Wirtschaftsordnung entstehen, die nicht durch die unstillbare Raffgier der Kapitalistenklasse bestimmt wird und in welcher die Arbeit Aller von äußerem Zwang befreit wäre“.
Bleibt die Frage, ob sich die Verhältnisse angesichts der exorbitanten Verschärfung gesellschaftlicher Ungleichheit in diesen Tagen so fundamental verändert hat……
In „Sisyphos“ bezweifelt Bernfeld die Fähigkeit der gegebenen Erziehungseinrichtungen, den Einzelnen auf seine Wirtschaftsfähigkeit vorzubereiten. Auf wenn diese Anspruch etwa unter dem Stichwort „Entreprenneurship“ zuletzt nochmals große Konjunktur erlangt hat, ortet Bernfeld dahinter weniger eine Verbesserung der individuellen Realisierungschancen als „die Erzeugung von Akzeptanz der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ – ein Sachverhalt, der sorgfältig verdunkelt werden wodurch „von der Pädagogik“ intensivste Dunkelheit ausgehen“ würde.
Über den affirmativen Charakter kultureller Bildung
Die Antizipation der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedarf begleitender Maßnahmen. Und da hat Bernfeld für alle, die sich für die kulturelle Bildung interessieren und einsetzen, eine ziemlich herausfordernde Provokation parat. Diese besteht darin, dass er die Beschäftigung mit Fragen der Kultur im Rahmen organisierter Erziehung in erster Linie als ein Mittel zur Vermeidung gesellschaftlicher Veränderungen und nicht als Chance ihrer Überwindung im Sinne von Emanzipation und Befreiung begreift.
In affirmativer Hinwendung zu Kultur sei den Pädagogen die vorrangige Aufgabe auferlegt, die Möglichkeiten realer Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverteilung zu verschleiern: „Zu furchtsam und fein, den Motor gesellschaftlicher Umwandlung zu erkennen und sich zur Bedienung an dies lärmende und gefährliche Ungeheuer zu stellen, haben sie es mit der Kultur. Und hier noch einmal furchtsam, wenden sie sich an die Kinder, die weder ihnen noch ihren Allmachtsgelüsten gefährlich sind, denn dies „Jäten und Säen in Kinderseelen“ ist eine idyllische Art Agrarbetätigung“.
„Damit die Bäume nicht in den Himmel wachsen“
Als Freudianer und ausgewiesener Jugendforscher versucht Bernfeld auch eine psychologische Erklärung des Kampfes zwischen den Generationen. Erhellend waren da für mich vor allem seine Überlegungen, warum es kein nachgerade kreatürliches Empfinden von Eltern gibt, ihren Kindern die bestmöglichen Bildungsvoraussetzungen zu schaffen. Dagegen konstatiert Bernfeld ein, aus der Figur des „Vatermordes“ abgeleitetes tiefenwirksames Konkurrenzverhältnis zwischen den Generationen, das jedenfalls seitens der Eltern große Wirksamkeit entfaltet, wenn es darum geht, „die Bäume nicht in den Himmel wachsen zu lassen“. Ein Befund, dessen Bestätigung wir jeden Tag aufs Neue erstaunt zur Kenntnis nehmen müssen.
Ja, die Verhältnisse haben sich in den letzten hundert Jahren nachhaltig geändert. Und doch lassen sich viele der Aussagen im „Sisyphos“ als ein überraschend funktionsfähiges Erklärungsmuster auf die Verhältnisse von heute übertragen.
Und wenn wir wissen wollen, wie es möglich ist, dass die aktuelle bildungspolitische Diskussion so nachhaltig konservativ dominiert ist, so finden mit der zentralen Botschaft eine überzeugende Antwort Bernfelds, die da lautet: „Die soziale Funktion der Erziehung ist die Konservierung der biopsychischen und der sozial-ökonomischen, mit ihr der kulturell-geistigen Struktur der Gesellschaft“.
Wenn wir an dieser Struktur etwas ändern wollen, sind wir gut beraten, selbst Hand anzulegen und bei den politischen Verhältnissen zu beginnen. Wir könnten dann aufhören, weiter über die sich laufend verschlechternden Verhältnisse zu räsonieren und gleichzeitig die Aufgabe der Veränderung einer nächsten Generation zuzuweisen, die zur Zeit voll damit beschäftigt ist, mit den, von den bestehenden Institutionen verursachten Beschädigungen zurecht zu kommen.
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