Über die wichtigste Verhandlungstaktik der österreichischen Bildungspolitik: „Ätsch. Das gilt es nicht!“
Haha, ist das ein lustiges, wenn auch pädagogisch wenig wertvolles Spiel: Da setzen sich zwei zusammen, machen uns etwas aus und verkünden stolz das Ergebnis. Und ein paar Tage später ruft einer der beiden: „Ätsch. Das gilt es nicht! – Und überhaupt, der Papa hat gesagt, wir müssen nochmals von vorne anfangen.“ Und der andere, der das Spiel schon viele Male gespielt und noch nie gewonnen hat, versucht, sich mit einem „Ist schon recht“ aus der Affäre zu ziehen.
Bei kleinen Kindern sind diese Spiele vielleicht ein notwendiges Durchgangsstadium beim Erwerb von sozialem Verhalten. Gutmeinende Eltern mögen sie vielleicht sogar ein Lächeln abgewinnen bevor sie sich dazu entschließen, mit den ihnen Anvertrauten ein ernstes Wort zu wechseln.
Nicht so im Bereich der Bildungspolitik. Dort hat man sich offenbar erfolgreich darauf verständigt, ein solches Verhalten zur selbstverständlichen Umgangsform zu erklären. Und so haben sich jüngst die beiden Koalitionäre in Person von Bildungsministerin Claudia Schmied seitens der SPÖ und des Bildungssprechers der ÖVP Werner Amon auf die Grundzüge einer AHS-Oberstufenreform geeinigt, die mit Bezug auf eine weitgehende Modularisierung der künftigen Lernstoffvermittlung auch ein Aufsteigen in die nächste Klasse auch mit mehreren Nichtgenügend vorsieht. Wenige Tage nachdem diese Einigung der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, kam seitens der ÖVP einmal mehr ein Rückzieher (fast schon wie das Amen im bildungspolitischen Gebet). Der neu bestellte ÖVP-Obmann Michael Spindelegger gab persönlich die neue Losung „Kommando zurück an den Start“ aus, um auf diese Weise seine Interpretation von Verlässlichkeit unter Koalitionspartnern unter Beweis zu stellen.
Man mag spekulieren, was die führenden ÖVP-Politiker zu diesem Meinungsumschwung „ex post“ gebracht hat und vielleicht bei diversen Meinungsbefragungen fündig werden, die gerade noch rechtzeitig aufgezeigt haben, dass ein „automatisches Aufsteigen mit drei Fünfern“ unter ÖVP-SympathisantInnen auf nur wenig Zustimmung stößt.
Symptomatisch für den aktuellen Politikbetrieb ist in jedem Fall das Offensichtlichwerden der Umgangsweise der entscheidenden BildungpolitikerInnen untereinander. Es mag ja noch als ein taktischer Schachzug hingehen, zuerst ein umfassendes Agreement (inklusive der Neureglung der Aufstiegsklauseln) zu treffen, dann den Koalitionspartner auf eben diesen Aspekt festzunageln (siehe Beginn eines Berichts im Kurier: „Geht es nach Bildungsministerin Claudia Schmied (SPÖ) sollen Oberstufen-Schüler künftig mit bis zu drei Fünfern aufsteigen können“), um zuletzt als der große Retter der „Leistungsbereitschaft der jungen Menschen“ aufzutreten.
So richtig zum Fürchten wird es, wenn wir genauer auf die erzwungene Wandlungsfähigkeit des ÖVP-Bildungssprechers Werner Amon schauen: Wie viele Verrenkungen des unbedingten Loyalitätsbeweises innerhalb der eigenen Partei muss einer machen, der als zuständiger Spitzenverhandler eine Vereinbarung akkordiert, diese als Erfolg der Öffentlichkeit vorstellt, danach von seinem Parteiobmann und seiner Entourage, nein nicht relativiert sondern um ganze180 Grad umgedreht wird, um dann noch – ohne rot zu werden – sagen zu können: „Ich möchte wie Spindelegger die Begutachtung abwarten und dann entscheiden. Das ist auch das, was ich mit Schmied vereinbart habe und ich stehe dazu. Einseitig kann man nichts aufkündigen.“
Wenn da einer so agiert, könnte man fragen, ist das Ausdruck einer umfassenden Rückgratlosigkeit in der Bildungspolitik? Oder ist das der Nachweis für die notwendige Qualifikation, um im Bildungsbereich überhaupt noch etwas weiter bringen zu können. Oder aber ist Werner Amon schlicht ein armer, autoritätsfixierter Getriebener, dessen unprofilierter Parteiobmann auf Grund schlechter Umfragewerte über die Leichen seiner Parteifreunde geht? In jedem Fall eignet sich keiner der Beteiligten als „Role Model“ für die aktuelle Schulentwicklung, die zumindest programmatisch auf Kompetenzvermittlung wie Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit, Haltung und selbständiges Handeln setzt. Statt dessen: „Politics at Its Worst“.
Es gibt noch eine weitere, über einzelne personale Verwerfungen hinausgehende Dimension des aktuellen bildungspolitischen Verhandlungsdesasters. Immerhin beruft sich die Konservativen ja immer gerne auf den Slogan „Leistung muss sich lohnen“, offensichtlich besonders dann, wenn er dafür herhalten muß, die eigene Unverlässlichkeit zu legitimieren. Immerhin lassen sich dafür noch immer Mitstreiter mobilisieren wie zuletzt Günter Schmied, Ex-Leiter der Sir-Karl-Popper-Schule. Er stellte sich vorige Woche im Kurier einem Streitgespräch „Wie sinnvoll ist das Sitzenbleiben?“ mit der Schülerin Eleonora Kleibel. Auf ihren Vorschlag, das Sitzenbleiben ganz abzuschaffen, meinte er; „Das würde bedeuten, dass jeder unabhängig von seiner Leistung oder Anstrengung zur Matura kommt. Dann haben wir eine Unzahl von Schulabsolventen, die keine Qualifikation haben und arbeitslos sind – so wir etwa das PISA-Sieger-Land Finnland“.
Der Versuch, angesichts des gegenwärtigen Zustands des österreichischen Schulsystems die umfassenden Bildungsreformen, die Finnland in den letzten Jahren durchgeführt hat, schlecht zu reden, ist für sich bereits ein kühner Versuch eines prominenten Schönredners der bestehenden Verhältnisse.
Dazu eine Fußnote: Österreich ist zuletzt im internationalen PISA-Rankung einmal mehr beträchtlich zurückgefallen und rangiert mit seinen SchülerInnen-Leistungen irgendwo im unteren Drittel der Industriestaaten. Dies trifft vor allem auf die skandalöse Schwäche der Lesekompetenz zu. Mittlerweile können rund 28% der 14jährigen (offenbar alles „Leistungsfeinde“) nur unzureichend sinn erfassend lesen (ein Umstand, der inzwischen 35 Prozent der Burschen und 21 Prozent der Mädchen zur Lese-Risikogruppe macht, die Gefahr läuft, nicht vollständig am beruflichen und sozialen Leben teilnehmen zu können).
Das Ausspielen der österreichischen Reformverweigerung gegenüber Ländern wie Finnland, auf deren politischer Agenda Bildung ganz oben rangiert, erscheint mir vor allem dort besonders fragwürdig, wo der Erfolg des finnischen Modells darin liegt, den Leistungsgedanken weiter zu fassen und sich nicht immer nur auf die SchülerInnen als den – jedenfalls was den Aspekt der Leistungsbeurteilung anbetrifft – schwächsten Schulpartner abzuputzen.
Wenn allerorten wachsende Individualisierungstendenzen konstatiert werden, dann gehen diese einher mit einem ebenso wachsenden Bedarf der Förderung der je besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten der SchülerInnen. entsprechend kommen nicht nur in Finnland auch auf die LehrerInnen neue Leistungsanforderungen zu.
Die Fähigkeit, SchülerInnen mit „Nichtgenügend“ zu beurteilen, ist einfach. Die Wertvorstellungen der traditionellen Schule sah vor, SchülerInnen auf Grund bestimmter Teilleistungsschwächen auszusondern und so aus dem Verantwortungsbereich des urteilenden Lehrers/Lehrerin zu drängen. Darin haben LehrerInnen (und wir mit ihnen) eine lang tradierte Übung. Wir billigen ihnen diese lebensentscheidende Zuständigkeit ohne viel Wenn und Aber zu.
Der Vorteil: Das Urteil über mangelnde Leistung ist völlig einseitig und bezieht sich ausschließlich auf die als Versager abgestempelten SchülerInnen. Sie können mit negativen Noten leicht sanktioniert werden, um als einseitig Leidtragende die Ideologie der erzwingbaren Leistungsbereitschaft aufrecht erhalten zu können.
Wer aber fragt nach der Leistungsfähigkeit der LehrerInnen, deren SchülerInnen mit Nichtgenügend beurteilt worden sind? Immerhin sind die LehrerInnen ja nicht nur dazu da, gute oder schlechte Noten zu verteilen. Sie sind auch und inbesondere dafür zuständig, nicht nur den Lernstoff sondern auch lebenswichtige Kompetenzen besser oder schlechter vermitteln; eine Tätigkeit, die in der Regel unbeurteilt (und damit außerhalb des herrschenden Leistungsdikurses) bleibt.
Wie aber ist es betellt mit der Qualität der Leistungen der LehrerInnen, die gefordert sind, allfällige Lerndefizite einzelner SchülerInnen nicht nur rechtzeitig zu erkennen sondern auch maßgeschneiderte Fördermaßnahmen so erfolgreich anzubieten, dass sich nichtgenügende Leistungen erst gar nicht einstellen? Und so redet niemand darüber, dass jedes vergebene Nichtgenügend immer auch ein Urteil über die Lehrerleistung darstellt (freilich mit der anderswo als unmöglich angesehenen Besonderheit, dass sich der Noten vegebende Lehrer/Lehrerin bei der Gelegenheit auch gleich selbst beurteilt).
Jeder Vergleich zwischen Schule und Unternehmen hinkt. Und doch macht es im Zusammenhang mit der Einschätzung negativer Leistungen einzelner SchülerInnen Sinn, auf die Beurteilung der „Performance“ unternehmerischer Arbeitsgruppen hinzuweisen. Dort gehen wir alle völlig selbstverständlich davon aus, dass dem/der jeweiligen Leiter/Leisterin der Arbeitsgruppe die Erst- und wohl aucgh Letztverantwortung für die Leistungsbereitschaft und auch für die Ergebnisse der Gruppe zukommen. Es ist seine/ihre Fähigkeit, Menschen unterschiedlicher Persönlichkeit, Stärken aber auch Schwächen zu führen, ihre jeweiligen Charakteristika zu erkennen, zu motivieren, ein förderliches Leistungsklima zu schaffen und ja, natürlich auch Leistungen einzufordern, die über den Erfolg entscheiden. Konsequenter weise wird bei entsprechendem Misserfolg auch nicht der eine oder andere Mitarbeiter sondern die Leitung ausgewechselt.
Ganz anders in der österreichischen Schule. Da wird der Leistungsgedanke bislang ausschließlich bei den SchülerInnen festgemacht, und mit der Diskussion, ob man sie jetzt noch strenger oder weniger streng sanktionieren soll bis sie die von den LehrerInnen erwartete Leistung erbringen, die Aufrechterhaltung überkommener, die herrschende soziale Ungleichheit verschärfender Privilegien verschleiert
Das, lieber Herr Ex-Direktor Schmidt ist zum Beispiel in Finnland anders. Hier orientiert sich der Leistungsgedanke auch an die Fähigkeit der Schule zur sozialen Integration. Diesem gesellschaftspolitischen Ziel folgend bemißt sich der Erfolg von SchulleiterInnen und die LehrerInnen nicht darin, wievielen SchülerInnen sie mit ihren Benotungen den Zutritt ins weitere Leben nachhaltig erschwert haben sondern ob und inwieweit es ihnen gelingt, ein auf die individuellen Bedürfnisse und Potentialen der SchülerInnen abgestimmtes Lernklima zu schaffen, um mit jedem einzelnen Schüler/’Schülerin das ihm bestmögliche Lernresultat zu erzielen.
Leistungsbereite finnische LehrerInnen, denen die umfassende Entwicklung der ihnen anvertrauten jungen Menschen ein Anliegen ist, würden die aktuelle Diskussion in Österreich über die Bedingungen des Selektierens und Ausgrenzens für schlicht obszön empfinden. Aber die österreichisch Öffentlichkeit hat sich – beschämend genug – offenbar irgendwie daran gewöhnt.
Aber die Finnen haben es möglicher Weise auch mit BildungspolitikerInnen zu tun, die ihnen in der bildungspolitischen Diskussion ein anderes Leistungsverständnis bieten als Amon, Schindelegger und Co
LETZTE BEITRÄGE
- Hilfe, die Retter nahen
- Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
- Alles neu macht der Mai – Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich
- Hype um Chat GPT
- Die Autonomie der Kunst
- Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus
- Dürfen die das?
- Kulturpolitik in Zeiten des Krieges
- „Das Einzige, was uns zur Zeit hilft, das sind Waffen und Munition“
- Stehen wir am Beginn eines partizipativen Zeitalters? (Miessen)