„Wir spielen immer, und wer es weiß, ist klug“ (Arthur Schnitzler)
„Man muss vor allem authentisch bleiben“, meinte einer der TeilnehmerInnen eines Praxislehrgangs zu Kulturmanagement, als es darum ging, das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden zu beschreiben. Mit dieser Forderung stieß er ganz unmittelbar auf große Zustimmung seiner KollegInnen. Mit dieser Feststellung entsprach er auch den Erwartungen vieler SchülerInnen, die uns in Befragungen immer wieder davon berichtet haben, dass ihnen PädagogInnen, die krampfhaft versuchten, eine vermeintlich ihnen gemäße Rolle einzunehmen und damit möglichst „jugendgerecht rüberzukommen“ besonders unglaubwürdig erscheinen. Ihre Imitationsbemühungen, sich in Sprachform und Inhalt, Gebärde und Geschmack wie Jugendliche zu geben, wären einfach nur lächerlich.
Es hat sich zufällig ergeben, dass ich just am nächsten Tag ein Interview mit dem Schauspieler, Regisseur und neuen Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele Sven-Erich Bechtolf gehört habe, der mich über diesen gut gemeinten Anspruch nochmals hat nachdenken lassen. Er sprach über das Verhältnis von Theater und Leben und erwähnte dabei das Zitat von Arthur Schnitzler: „Wir spielen immer (eine Rolle), und wer es weiß, ist klug“. Offenbar gibt es also schon eine längere Tradition, die auf den beunruhigenden Umstand aufmerksam macht, dass das mit der „Authentizität“ so eine Sache ist und wir möglicherweise gar keine Chance haben, bestimmten (entweder selbst konstruierten oder fremd vorgeschriebenen) Rollen zu entkommen; mehr noch, dass wir jenseits eines spezifischen Rollenverhaltens überhaupt nicht denkbar und noch weniger greifbar sind.
Rollenbildung als pädagogisches Ärgernis
Diese Vermutung ist vielen ein großes pädagogisches Ärgernis. Immerhin ist gerade die Pädagogik, die sich in besonderer Weise mit kultureller Bildung identifiziert, von der Ideologie getragen, dass das, was die Persönlichkeit der jungen Menschen ausmache, sich aus diesen möglichst formlos von innen heraus entfalten lasse. Die Aufgabe der PädagogInnen solle sich demzufolge darauf zu beschränken, den Heranwachsenden zu ermöglichen, die ihnen innewohnenden Potentiale nach außen zu kehren; ein Vorgang, der gerne mit emphatisch aufgeladenen Kreativitätsvorstellungen verbunden wird. Zur diesbezüglichen Verdeutlichung wird schon mal das Bild einer sprießenden Pflanze herangezogen, bei dem der Gärtner sich darauf konzentrieren soll, den Wurzeln die optimalen Nährstoffe zuzuführen und die Pflanze ansonsten in Ruhe zu lassen
Das Problem: Der Mensch ist keine Pflanze. Und zugegeben, ich kenne mich bei den Kommunikationsformen der Pflanzen untereinander nicht wirklich aus. Aber soweit ich die botanische Fachdiskussion verfolge, gibt es wenig empirische Belege dafür, dass die umstehenden (vielleicht sogar die weiter entfernt stehenden) Pflanzen ihrer jungen Mitpflanze mitteilen bzw. Vorgaben machen wollten, wie und in welcher Form sie sich zu entwickeln hätten.
Das ist ganz offensichtlich bei Menschen anders. Auf das junge Erdenwesen prasseln vom ersten Tag seines Entstehens an (vielleicht auch schon früher) alle möglichen Vorstellungen darüber ein, wie es ist, wie es sein und was aus ihm werden soll.
Keine Kommunikation ohne Rollenklärung
Diese soziale und kommunikative Dimension macht ganz offensichtlich einen kategorialen Unterschied zwischen Pflanze und Mensch aus und führt dazu – sieht man einmal von den wenigen autistischen Sonderfällen ab (eine Zuschreibung, die übrigens auch schon wieder eine Rollenzuschreibung darstellt) – dass wir ganz intuitiv von Beginn unserer Existenz an das Erlernen von Rollen als überlebensnotwendige Voraussetzung unseres Auf-der-Welt-Seins erkennen (und damit selbst in der Rolle als „Sterbende“ nicht aufhören)
Nun liegt im Ausfüllen einer Rolle (z.B. als Baby gegenüber Fremden, als männlichem Jungen gegenüber der Mutter, als Schülerin gegenüber dem Lehrer, als Verkehrteilnehmerin gegenüber einem Polizisten oder als Tourist gegenüber einer einheimischen Beschäftigten) immer eine Beschränkung. Es ist – jedenfalls mir – keine Rolle vorstellbar, die mich „als Ganzes“ repräsentiert. Es sind immer nur einzelne, in der Regel nicht ganz zur Deckung bringende (manchmal sogar entgegengesetzte) Anteile, die es mir ermöglichten, ein bestimmtes Rollenverhalten zu repräsentieren. Trotz oder gerade wegen dieser „Unvollständigkeit“ erlaubt es das Wahrnehmen einer Rolle, einzelne mich auszeichnende Qualitäten in besonderer Weise auszuspielen, mein Gegenüber darauf aufmerksam zu machen und vielleicht sogar davon zu überzeugen. Und der Vorteil: Wir müssen uns nicht auf eine Rolle beschränken. Wir können, ganz wie im Theater, immer neue Rollen dazulernen, uns und andere auf diese Weise neu kennen lernen und so ein reflektiertes Verhältnis zu uns und der Welt einnehmen. Was wir hingegen nicht können, ist außerhalb einer Rolle zu leben, weil die Rollen die unabdingbare Voraussetzung dafür sind, das was mich ausmacht, in eine Form bzw. in eine Gestalt zu bringen.
Gäbe es diese Fähigkeit in Rollen zu schlüpfen nicht, blieben die uns innerlichen Qualitäten weitgehend ungeformt. Die Hoffnung auf Rollenüberwindung lassen in mir weniger die Hoffnung auf kreative Gestaltbarkeit denn die Verzweiflung über ein verheerendes, weil diffuses Durcheinander meines psychischen Haushalts aufkommen.
Dies gilt noch mehr in der Kommunikation mit anderen als einem Konstitutiv menschlicher Existenz. Auch wenn wir in Momenten äußerster Verliebtheit den Wunsch hegen, dem geliebten anderen „alles“ sein zu wollen, so bleibt es doch ein Wunsch, ein – bei näherem Hinsehen überdies ziemlich – infamer Wunsch, der dem geliebten Gegenüber eigentlich eine unmenschliche Aufgabe aufbürdet. Sie besteht darin, den anderen als unstrukturiertes Ganzes auszuhalten; ein per se unerfüllbares Verlangen, das die Lust darauf nur all zu schnell in Unlust umschlagen lassen könnte. Also bleibt uns auch in diesem Fall nichts anderes übrig, als die durchaus attraktive Rolle des/der Verliebten einzunehmen und damit bzw. darin (wenn auch vielleicht mit ganzem existentiellen Ernst) zu spielen.
Erst Masken erlauben, wahrhaft zu sein
Vieles spricht dafür, dass sich die Qualität menschlicher Kommunikation am besten daran erweist, ob es gelingt, sich entlang bestimmter Rollen zu verständigen; Die aber kann man nicht kaufen. Sie müssen gelernt und geübt werden, um Orientierung zu schaffen; um uns darin wiedererkennen zu können und um sie – gerade weil wir sie einnehmen – gegebenenfalls auch überschreiten zu können. Also erfahren einmal mehr, was uns die Beschäftigung mit Kunst paradigmatisch erzählt: Dass Form und Inhalt eng aufeinander bezogen sind und wir daher Inhalte dann gut vermitteln können, wenn erst einmal die formalen Rollen zu ihrer Vermittlung geklärt sind. In anderen Worten: Wenn sie ihren inszenatorischen Ausdruck finden. Frei nach Bechtolf: „Ich hab lieber höfliche Leute, auch wenn sie ihre Höflichkeit nur heucheln als Unhöfliche“.
Zurück im Klassenzimmer: Folgt man dieser Analyse eines unhintergehbaren Rollenzwangs, dann müssen sich auch PädagogInnen auf der Suche nach der natürlichen Kreativität der ihnen Anvertrauten damit abfinden, dass diese immer schon durch eine lange Geschichte des Rollentrainings gegangen sind und dass es gerade die Wechselwirkung zwischen den ungeformten Potentialen einerseits und den Rollenangeboten andererseits ist, die den Stand der Persönlichkeit der Lernenden ausmacht.
Sie haben also keine noch weitgehend ungeformten menschlichen Existenzen vor sich, auf die sie ihre Erwartungen projizieren können, diese kreierten erst unter ihrer Anleitung die ihnen entsprechende Form. Stattdessen haben sie bereits eine lange Geschichte innerer und äußerer Formung hinter sich, ohne die sie – wie immer man sie als Außenstehender beurteilen mag – die ersten Schritte ins Leben gar nicht hätten schaffen können und auf die es gilt in der pädagogischen Arbeit aufzubauen.
Bei meinen Recherchen zum Begriff der „Authentizität“ bin ich auf eine wichtige Voraussetzung gestoßen, ohne die der damit verbundene Anspruch erst gar nicht verhandelt werden kann: Immerhin beruht seine Bestimmung auf einem Generalverdacht in Form eines vermuteten Gegensatzes zwischen Sein und Schein und darauf beruhender Täuschung und Fälschung. Dementsprechend gilt etwas oder jemand nur dann als authentisch, wenn beide Aspekte der Wahrnehmung – unmittelbarer Schein und eigentliches Sein – als in Übereinstimmung befunden werden.
Interessant habe ich auch die mittelalterliche Interpretation gefunden, die sich mit dem lateinischen Begriff der „Auctoritas“ eng auf „Autorität“ und „Autorschaft“ bezieht, wobei sich der Autor (bzw. der sich authentisch Verhaltende) konform mit den herrschenden Vorgaben zu verhalten und abwegige, ketzerische, jedenfalls nicht-authentische Auslegungen zu vermeiden hatte. Der Autor als eine Art Retter der reinen Lehre also.
Authentizität als Strategie des Verbergens und Versteckens?
Im Zusammenhang mit dem Studium der Rhetorik als einer der sieben „artes liberales“ (die einmal als Grundlagen für das Universitätsstudium gegolten haben) wurde die Frage der Authentizität noch einmal anders beleuchtet: Als Möglichkeiten der rednerischen Umsetzung bestimmter Inhalte, die eine besondere Form der Inszenierung darstellt und – jetzt kommt es – die versucht, bei den ZuhörererInnen den Charakter ihrer Inszenierung zu verbergen und damit spezifische Echtheits- bzw. Wirklichkeitseffekte herbeizuführen.
Womit wir nochmals auf die Anfangsassoziation Schule zurückgeworfen werden, die – siehe oben – mittels steigender Authentizitätserwartungen an die Lehrenden gerettet werden soll. Immerhin kann die Institution Schule auch als die größte Bühne des Landes gesehen werden, in dem jeden Tag ein Stück der besonderen Art aufgeführt wird. Dessen Regeln bestehen genau darin, eine spezifische Form der Inszenierung ins Werk zu setzen und vor allem den Beteiligten den Eindruck zu verbergen, es handle sich um eine solche.
Die simple Antwort darauf lautet, sich jeglicher Inszenierung zu verweigern, in der Hoffnung – siehe die Forderung des Kursteilnehmers – damit authentisch zu bleiben. Ihre ProtagonistInnen nehmen damit ungewollt in Kauf, dass sie gerade mit dieser Entscheidung an der Fortsetzung der Inszenierung von Schule teilnehmen, in der das beteiligte Personal aber auf Teufel komm raus versucht, den Charakter des Inszenatorischen des eigenen Tuns zu verbergen, in der Hoffnung, damit die oben angesprochenen Echtheits- bzw. Wirklichkeitseffekte herbeizuführen. Das Ergebnis ist ebenso einfach wie realitätsnah: Das Stück „Schule“ wird als immer schlechter empfunden und dazu werden ihre ProtagonistInnen – entgegen ihren eigenen Absichten – immer unglaubwürdiger.
Die Alternative dazu wäre anzuerkennen, dass es sich auch bei Schule um ein Spiel handelt, in dem verschiedene Rollen vergeben werden, die es gilt, bestmöglich auszufüllen. Und sich dabei darüber zu freuen, dass diese Rollenvergabe nicht endgültig erfolgt, sondern wie in keiner anderen Institution immer neue Rollen entwickelt, (kennen)gelernt, erprobt und auch in Frage gestellt werden können.
Ja, Schule als eine ganz besondere, weil grandiose Form der Inszenierung ist denk- und machbar (und die VertreterInnen von kultureller Bildung wären wie keine andere Gruppe dafür prädestiniert, sich für eine solche Interpretation stark zu machen). Und wir sollten aufhören, diese Qualität zu verbergen. Ganz im Gegenteil: Mit dem Ende des Versteckspiels könnte Schule wesentlich an Glaubwürdigkeit (und dazu an Wirksamkeit) ihrer Vermittlungsbemühungen gewinnen.
LehrerInnen werden also nicht umhin können, sich von manchen lieb gewordenen Authentizitätsansprüchen (die sich im Übrigen nur allzu gern auf schlechte Bekleidungsgewohnheiten reduzieren) zugunsten einer performativen Professionalität zu verabschieden. Mit der Mitwirkung an einer schulischen Gesamtinszenierung erwächst zwar noch keine „street credibility“ als Maßstab für Authentizitätsansprüche von „peer groups“ in jugendkulturellen Milieus.
Zum Ausdruck kommen aber könnte eine neue Qualität von „school credibility“, die dazu ermutigt, über Möglichkeiten und Grenzen dieser Authentizitätsansprüche nachzudenken, um auf dieser Grundlage die eigene Rolle im ernsten Spiel, das das hierarchische Schulgefüge erlaubt, offen zu legen und doch sinnvolles, vielleicht sogar produktives Zusammenwirken zu ermöglichen.
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