Mehr kulturelle Bildung – ja, bitte!

In diesen Tagen moniert der Deutsche Rat für kulturelle Bildung die Einhaltung des Regierungsvertrags der Großen Koalition aus dem Jahr 2013, in dem ein politisches Bekenntnis zur „gleichen kulturellen Teilhabe von allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ festgeschrieben wurde. Angekündigt wird eine Studie des Instituts Allensbach, die „relativ dramatische und relativ verheerende Ergebnisse“ verspricht.  Der Sprecher des Rates Holger Noltze dazu: Der Zugang zu Kultureinrichtungen ist ungebrochen vom persönlichen Hintergrund, damit vom Bildungsgrad der Eltern und von der Schulform abhängig.

In Österreich gibt es keinen derartigen Rat, der sich für kulturelle Bildung stark macht und als Anwalt kultureller Interessen junger Menschen auftritt. Stattdessen ist das Thema kulturelle Bildung mit der Neuauflage der großen Koalition weitgehend von der kultur- und bildungspolitischen Agenda verschwunden. Offensichtlich wird es als zu wenig attraktiv für die Profilierung  der neuen politischen Akteure angesehen. Und gespart werden muss auch.

Jetzt will ich nicht behaupten, dass die Vernachlässigung kultureller Bildung habe unmittelbar zum aktuellen politischen Desaster, das Österreich in diesen Tagen erschüttert, beigetragen. Nicht von der Hand zu weisen ist hingegen die Vermutung, dass der Unwille bzw. die Unfähigkeit der regierenden Koalitionsparteien, dem weiteren Aufstieg der FPÖ zur führenden Kraft eine überzeugende Antwort entgegenzusetzen, auch das kulturelle Gefüge des Landes nachhaltig erschüttert. Einst angetreten mit der Losung, „die Altparteien mit einem nassen Fetzen vor sich her zu treiben“ (Jörg Haider) arbeitet diese „rechtsextreme, ausländer-, minderheiten- und elitenfeindliche Gruppierung“ (Christian Rainer im Wochenmagazin profil) heut konsequent an der Selbstentmachtung des politischen Establishments, dem jede Vorstellung für eine bessere Zukunft abhandengekommen zu sein scheint.

Die Ewiggestrigen als einzig verbleibende Zukunftshoffnung vor den Toren der Macht

In Vorbereitung der Mutter aller Wahlschlachten in der Bundeshauptstadt Wien, die für Oktober dieses Jahres vorgesehen ist, affichiert die FPÖ zurzeit ein großformatiges Wahlplakat mit ihrem Parteiführer HC Strache. Er wird dort gefeiert als der „Einzige für unsere Werte und Kultur“. Eine starke Ansage, die  sich vorrangig an diejenigen in der Gesellschaft richtet, die bislang vom traditionellen Kulturbetrieb ausgeschlossen waren, während alle anderen ins Reich der ethischen Verwahrlosung und der Kulturlosigkeit verwiesen werden. Liest man das Werbematerial der Partei im Detail, dann richtet sich dieses Statement ebenso gegen die staatliche Förderung einer „Schweinkram Hochkultur“, im Rahmen dessen „militante Linksextreme in Sadomaso belehrt würden – inklusive Auspeitschen sowie Nadel- und Wachsspiele“ wie von Anti-Rassismus-Aufklärungsprogrammen von BerufsschülerInnen oder von Roma-Kulturvereinen.

Auf der Suche nach einer genaueren Bestimmung dessen, was der letzte Mohikaner der Werte und Kultur für verteidigungswert hält, wird man im FPÖ-Parteiprogramm fündig. Dort heißt es: „Wir bekennen uns zu unserem Heimatland Österreich als Teil der deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft. Sprache, Geschichte und Kultur Österreichs sind deutsch. Die überwiegende Mehrheit der Österreicher ist Teil der deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft“.

Dieses Bekenntnis lässt an überwunden geglaubte Zeiten erinnern. Dazu zwingt sie der FPÖ einen Spagat auf, der sie zwischen der Konstruktion eines halbwegs konsistenten Österreichbildes und einer vorgeblich naturhaften Zugehörigkeit zur deutschen Kulturgemeinschaft hin und her pendeln lässt. Diesen Widerspruch zu bändigen, scheint vor allem deshalb notwendig, weil im Parlament  echte Österreicher und deutschnationale Burschenschafter in ein und derselben freiheitlichen Gestalt sitzen. Deren geringstes Problem besteht, darin, ob ÖsterreicherInnen in Zukunft zum Sessel Stuhl oder zur Paradeiser Tomate sagen sollen. In Erwartung einer baldigen Umsetzung ihrer menschenverachtenden Ideologie, die eine – wenn es sein muss – gewaltsame Trennung der „unseren“ von allen „anderen“ zu rechtfertigen versucht, lassen sie Erkenntnisse zum eigenen fehlerhaften Gebrauch der deutschen Sprache ungerührt über sich ergehen.

Womit wir bei einem zentralen Mittel kultureller Politikgestaltung (mit beträchtlichen Auswirkungen auf eine inhaltliche Bestimmung kultureller Bildung) dieser Partei wären, die sich anschickt, führende Kraft eines ansonsten traditionell konservativen Landes zu werden. Ihr Anspruch auf unbedingte Verteidigung eines irgendwie zugleich deutschen wie österreichischen Kultur- und Wertehaushalts basiert ungebrochen auf der Existenz eines homogenen Volkskörpers, der von politisch anlassbezogenen Unterscheidungsmerkmalen geprägt ist, wer und was dazugehört und was nicht. In Stellung gebracht wird das Kriterium der kulturellen Zugehörigkeit vor allem zur Vertiefung sozialer Gräben und damit verbundener Schuldzuweisung an all diejenigen, denen die kulturelle Zugehörigkeit abgesprochen wird. Und dazu eignen sich im Moment Flüchtlinge und Asylwerber, die – jeder und jede für sich – alle Hände voll zu tun haben, ihre elementaren Existenzgrundlagen zu sichern, am allerbesten.

Ideen Ewiggestriger, könnte man einwenden, wäre da nicht der Umstand, dass die FPÖ mittlerweile von einer eindeutigen Mehrheit, vor allem der männlichen jüngeren Generation gewählt wird, die sich von entsprechender Rhetorik angezogen fühlt, sich vielleicht sogar Vorteile davon verspricht. Gerne ins Treffen geführt werden dabei Wahlanalysen, wonach es sich bei diesen Parteigängern vor allem um verunsicherte Krisenverlierer handelt, die von den etablierten nicht mehr erreicht werden. Mit ihrer Parteinahme würden sie versuchen, in der Wahlzelle ihrem Ärger über ihre eigene Inferiorität Luft zu machen. Man könnte diesen Protestausbrüchen zynisch entgegen halten, dass den politischen Führern die Motive ihrer Wählerinnen herzlich wurscht sind, solange diese sie auf der aktuellen Erfolgswelle ins Zentrum der politischen Macht tragen.

Über das faktische Ende kultureller Homogenität

Dort angekommen wird ihr führendes Personal versuchen – wie die jüngste Geschichte der FPÖ-Regierungsbeteiligungen eindrucksvoll belegt – sich einmal mehr an öffentlichem Eigentum zu bereichern. Um dies zu verschleiern werden die VertreterInnen ihr Programm der kulturellen Homogenisierung als Voraussetzung für eine weitere Renationalisierung Österreichs konsequent weiter vorantreiben. Sie werden sich dabei in guter Gesellschaft mit einer Reihe anderer Kräfte in Europa wissen, die sich die Zerstörung des europäischen Projekts auf die Fahnen geschrieben haben.

Dass sich die Realitäten in weiten Teilen Europas von Vorstellungen einer für alle verbindliche Kultur entfernt haben, braucht an dieser Stelle nicht besonders betont werden. Sie orientieren sich nicht mehr an überkommenen Homogenitätsphantasien, sondern an einem Bild, das die Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung 2012 gezeichnet hat: „Wer heute in Deutschland lebt, sieht sich also keiner geschlossen-einheitlichen Kultur gegenüber. Vielmehr herrscht, wie in den meisten freiheitlichen westlichen Gesellschaftlichen, eine pluralistisch-heterogene kulturelle Gemengelage aus vielfältigen historischen Erfahrungen, gemeinsamen westlich-europäischen Werten und genuin nationalen Eigenarten vor.“

Kultur neu denken – Kulturelle Bildung inhaltlich neu ausrichten

Und doch: Der aktuelle Aufwind nationalistischer Kräfte – der in Österreich die Segel des politischen Schiffs besonders eindrucksvoll blähen lässt – ist drauf und dran, die beschriebenen Errungenschaften kultureller Weiterentwicklung zugunsten Pluralität und Vielfalt nachhaltig zur Disposition zu stellen.

Da sich die FPÖ-Angebote vorrangig an die sozialen Gruppen richten, von denen der Rat für kulturelle Bildung meint, dass diese nach wie vor kulturpolitisch am stiefmütterlichsten behandelt werden, orte ich einen verstärkten Bedarf, sich über inhaltliche Schwerpunktsetzungen einer kulturellen Bildung, die sich auf der Höhe der Zeit weiß zu verständigen. Man muss nicht den Kalauer von Anne Bamford in ihrem „Wow Faktor“ wiederholen, dass nicht jede Form der kulturellen Bildung per se gut und gar keine kulturelle Bildung manchmal besser als schlechte kulturelle Bildung ist. Es genügt, die aktuellen politischen Entwicklungen nicht nur in meinem Land, die mich zugegebener Maßen sehr betroffen macht, ernst zu nehmen. Sie erfordern unmittelbar, sich nicht nur über die Optimierung der Organisationsformen sondern auch über Inhalte unseres Fachzusammenhangs neu zu verständigen und – wenn wir sie als die richtigen erkannt haben – in die (kultur-)politische Arena zu tragen.

In der vergleichenden Beobachtung fällt auf, dass kulturelle Bildung in einer Reihe europäischer Länder nach wie vor als Mittel der nationalen kulturellen Identitätsversicherung herhalten muss. Mit einer solchen inhaltlichen Ausrichtung arbeitet sie nolens volens denjenigen Kräften zu, die das europäische Integrationsprojekt gefährden. Dies umso mehr, als es die europäischen Einrichtungen bislang weitgehend vermieden haben, die Dominanz bestehender nationaler Kulturkonstruktionen zu überwinden und gemeinsame europäische Kulturvorstellungen an deren Stelle treten zu lassen.

Sie gehen dabei an europäischen kulturellen Realitäten absichtsvoll vorbei, die sich ungeachtet freiheitlicher Wirklichkeitsproduktion längst an transkulturellen Konzepten orientieren, die nicht mehr Halt vor willkürlich gezogenen geographischen oder sonstigen Grenzen machen. Kulturelle Bildung käme in diesem Zusammenhang nicht nur die oben eingemahnte Aufgabe zu, Theater- oder Konzertbesuche zu ermöglichen (die Geschichte lehrt eindrücklich, dass dieses Angebot auch in autoritären Systemen funktionieren kann), sondern „Kultur neu zu denken“ und damit der Erschöpfung des politischen Diskurses eine anzustrebende Perspektive eines besseren Lebens entgegenzusetzen. Kleine Anregung dazu: die Schaffung sogenannter „Dritter Räume“ (Homa Baba), in denen unterschiedliche kulturelle Hintergründe aufeinandertreffen, sich kennenlernen, sich austauschen, Konflikte austragen, sich wertschätzen und sich gegenseitig bereichern können – und auf diese Weise ein vielfältiges, sich laufend weiterentwickelndes Menschenbild entstehen lassen, das sich nicht mehr ein für alle Mal an der Ausprägung quasi naturhafter kultureller Besonderheiten festmachen lässt.

Europäische Integration und kulturelle Verständigung

Der österreichische Autor Robert Menasse, der sich seit Jahren um eine Vertiefung des Verständnisses der europäischen Idee bemüht, hat in der jüngsten Ausgabe der Presse mit seinem Essay „Nicht mehr, noch nicht“ die Antiquiertheit (und zugleich Gefährlichkeit) grassierender Renationalisierungstendenzen beschrieben. Ihm erscheint die weitere Vertiefung der europäischen Integration eine historische Notwendigkeit, ohne die es keine Zukunft für den Kontinent gibt. Auf den Punkt gebracht: „Die Nationalstaaten werden untergehen. Je früher wir uns mit diesem Sachverhalt vertraut machen, desto besser für unsere demokratische und selbstbestimmte Zukunft. Oder es wird wieder Schutt und Asche geben, Misere, Trümmerlandschaft, massenhaft ermordete Sündenböcke und tote Sünder. Und wir werden ganz furchtbar betroffen vor den rauchenden Trümmern stehen und murmeln: Das soll nicht wieder geschehen dürfen.“

Ich lese aus diesen Zeilen ein Plädoyer für eine gestiegene Verantwortung auch bei den VertreterInnen kultureller Bildung. Sie entscheiden wesentlich mit, welcher Kulturbegriff in ihren Aktivitäten verhandelt wird und ob bzw. wie ein solcher politisch instrumentalisiert wird. Bisherige Begründungsmotive im Rahmen eines neoliberalen Diskurses, die darauf hinauslaufen, junge Menschen  – und sei es mit kulturellen Mitteln – fit für den Konkurrenzkampf zu machen werden als Bestandsgarantie der befassten Einrichtungen allein nicht ausreichen. Stattdessen spricht die aktuelle politische Situation dafür, das vernachlässigte Projekt der Emanzipation wieder aufzunehmen, das die individuelle – ebenso wie die kollektive – Fähigkeit der aktiven Mitwirkung am – ansonsten zunehmend devastierten – gesellschaftlichen Leben wieder in den Mittelpunkt rückt.

Erste, zugegeben noch sehr bescheidene Versuche, etwa in Form des Projekts „New Alliances for Europe“ im Rahmen dessen sich zuletzt eine Reihe von Arts Educators aus ganz Europa und darüber hinaus zusammengefunden hat, gehen in die richtige Richtung.

Weil es nicht angeht, eine solche Analyse ohne positive Aussichten enden zu lassen, möchte ich auf zwei Aktivitäten besonders hinweisen, die sich als Beispiele von Good Practice erweisen könnten. Da ist zum einen die aktuelle Mehrspartenbiennale des Museums für Angewandte Kunst in Wien mit dem Titel „Ideas for Change“, die künstlerisches Handeln auf konkrete gesellschaftspolitische Umstände bezieht und sich um „kreative Lösungen für die globalen Herausforderungen der Gegenwart“ bemüht.

Und da ist das Projekt „urbo kune“ des führenden österreichischen Ensembles für Gegenwartsmusik, das im Verlauf von 25 Stunden vom Werden, Entstehen, Funktionieren und Wirken einer neuen mustergültigen Stadt, die als die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa erdacht und errichtet wird, erzählt. Als Abbild dieser Stadt ist die Oper ein Mischwesen aus utopisch-künstlerischer Fiktion und konkreten konzeptuellen Entwurfsarbeiten.

Endzeit und Überdruss

Eine politische Endzeitstimmung hat das Land erfasst. Es ist, als ob nichts mehr ginge, jedenfalls in die richtige Richtung. Ich kann mich noch gut an eine Aussage eines führenden SPÖ-Politikers zu Ende der 1980er Jahre erinnern, der damals angesichts des kometenhaften Aufstiegs Jörg Haiders bei gleichzeitiger Unfähigkeit seiner Partei, darauf eine adäquate Antwort zu finden, meinte, wir sollten uns nicht täuschen, es würde noch viel schlimmer kommen, noch seien nicht alle Eiterbeulen aufgebrochen. Er sollte Recht behalten, die politischen Angebote beschränkten sich seither zunehmend darauf, sich in immer neuer Selbstüberwältigung für das jeweils kleinere Übel zu entscheiden. Und jetzt sind wir dort, wo das kleine nicht mehr vom großen Übel zu unterscheiden ist, weil einfach alles von Übel ist.

Dabei ist der Anlass der aktuellen Übelkeit vergleichsweise klein. In zwei Bundesländern wurde gewählt. Und es passierte das, woran wir uns weitgehend gewöhnt haben: SPÖ und ÖVP verlieren, FPÖ gewinnt, die anderen Oppositionsparteien stagnieren. In Prozentsätzen diesmal noch offensichtlicher; aber alles zusammen ein einmal mehr erwartetes Ergebnis. Die Besonderheit liegt in den Konsequenzen, wenn sich diesmal der SPÖ-Landesvorsitzende Hans Niessl als Wahlverlierer nicht einfach in sein Schicksal fügen wollte. Stattdessen nahm er eine taktische Anleihe vom vormaligen ÖVP-Vorsitzenden Wolfgang Schüssel vor 15 Jahren und lässt sich in einem offensichtlich vor der Wahl abgekarteten Deal mit den Stimmen der FPÖ zum Landeshauptmann küren. Jetzt ist die Erregung vor allem unter aufrechten SPÖ-Parteigängern groß, die auf einen gültigen Parteitagsbeschluss verweisen, der eine Zusammenarbeit mit der FPÖ auf allen politischen Ebenen ausschließt. Eine gute Gelegenheit, ihrer Abneigung gegenüber der politischen Bagage im Dunstkreis HC Straches freien Lauf zu lassen.

Ist der Ruf erst ruiniert…

Zusätzlich sorgt der Wechsel des SPÖ-Bundesgeschäftsführers Norbert Darabos in die nunmehrige burgenländische SPÖ-FPÖ-Landesregierung für einen weiteren Zusammenbruch politischer Glaubwürdigkeit. Hatte sein Wirken bisher im Wesentlichen in der Abgrenzung seiner Partei von den Bösewichten am rechten Rand des politischen Spektrums bestanden so ergeht er sich in seiner neuen Funktion in Beschwörungen der weitgehenden politischen Übereinstimmung mit der FPÖ (Wie kaum ein anderer Politiker wird damit Darabos zu einer Symbolfigur des unbedingten Machterhalts, der ja bereits im Rahmen des Bundesheer-Volksbegehren beeindruckende Umfaller-Qualitäten gezeigt hatte, wenn die allgemeine Wehrpflicht für ihn solange „in Stein gemeißelt“ war, bis ihn ein Zuruf des Wiener Bürgermeisters Michael Häupl zu einem unbedingten Befürworter eines Berufsheeres machte. Da scheint die Nichteinlösung der Aussage des steirischen Landeshauptmanns Franz Voves, bei einem Wahlresultat seiner Partei unter 30% zurücktreten zu wollen, fast schon eine Lappalie.

Zwischen all diesen Absonderlichkeiten laviert der SPÖ-Bundesparteivorsitzende Werner Faymann weitgehend planlos herum. Ohne klare politische Linie versucht er es einmal mehr allen recht zu machen und schickt einen seiner präsumtiven Nachfolger Rudolf Hundstorfer vor, die aus regionalem Anlass offenkundig politische Ratlosigkeit einer breiteren Öffentlichkeit zu erklären. Und niemand möchte sich vorstellen, wie sich eine solche Konzeptlosigkeit einer politischen Führung auswirkt, wenn es nicht um regionalen Postenschacher, sondern um die Verteidigung österreichischer Interessen im globalen Wettbewerb geht. Während sich bei denjenigen, die sich bisher an das kleinere Übel geklammert haben, das Austrittsfieber ausbreitet, lacht sich der Koalitionspartner ÖVP still ins Fäustchen. Er kann seinerseits – nunmehr auch vom Verhalten der SPÖ legitimiert – mit Koalitionsspielen mit der FPÖ beginnen.

In einem Kommentar im Standard erschien in diesen Tagen ein heftig diskutierter Kommentar des Jugendforschers Bernhard Heinzlmaier, in dem er die Entscheidung des burgenländischen Landeshauptmanns als einen Befreiungsschlag interpretiert, der es erlaube – und sei es mit einer Chaostruppe FPÖ – die Umsetzung wesentlicher politischer Inhalte zu retten, die in einer Fortdauer der Zusammenarbeit mit der ÖVP verloren gegangen wären.

Als die SPÖ-Funktionäre so werden wollten wie die ÖVP

Seine Überlegungen bringen mich zu einer historischen Rückschau des Verhältnisses der österreichischen Parteien zueinander. Vor allem aus kulturpolitischer Sicht lässt sich unschwer erkennen, dass die SPÖ nach 1945 bereit war, sich zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens dem hegemonialen Willen einer rechten Mehrheit zu unterwerfen. Vergessen war der Traum der Zwischenkriegszeit von der Verwirklichung eines eigenen linken Projekts; stattdessen die Hoffnung, die eigene Klientel sukzessive an die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft heranzuführen und sie zu NutznießerInnen einer gemeinsamen Erfolgsgeschichte zu machen.

Nur noch einmal sollte sich rund um den Ausnahmepolitiker Bruno Kreisky der Wunsch regen, die ideologischen Mehrheitsverhältnisse nachhaltig nach links zu wenden. Bezeichnenderweise hatte ausgerechnet der Sohn aus bourgeoisem Haus aus wenig Berührungsängste, die nationalsozialistisch-belastete FPÖ als Mehrheitsbeschafferin zu instrumentalisieren. Und doch sollte am Ende das Beharrungsvermögen der konservativen Grundstrukturen des Landes sicherstellen, dass die linken Träume (z. B. der kulturellen Selbstbestimmung aller BürgerInnen) nicht in den Himmel wuchsen. Was blieb war – bis auf wenige Ausnahmen – die Kompetensation eines strukturellen Minderwertigkeitskomplexes, der mit der Durchsetzung einer Aufsteigermentalität innerhalb der SPÖ geheilt werden sollte. Damit wollten deren VertreterInnen endlich auch dorthin kommen, wo die der ÖVP immer schon waren (eine Entwicklung, die Bruno Kreisky nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik anwiderte und ihn den Ehrenvorsitz seiner Partei zurückgeben ließ). Ein politisches Hase-und-Igel-Spiel also, dessen Besonderheit darin liegt, dass beide Spieler zunehmend ununterscheidbar wurden. Beide hatten es gleichermaßen geschafft, am Spiel teilnehmen zu dürfen, ernstgenommen zu werden und sich einbilden zu können, die Geschicke lenken zu können.

Der Kampf um den Aufstieg bringt es mit sich, dass immer wenn die einen aufsteigen, die anderen zurückbleiben. In der ideologischen Tradition der ÖVP ist das kein Problem; ihr Weltbild unterscheidet klar zwischen FührerInnen und Geführten. Etwas widersprüchlicher gestaltet sich die Situation innerhalb der SPÖ, deren Funktionäre einerseits die Interessen der nicht oder noch nicht Aufgestiegenen vertreten sollen und gleichzeitig nichts mehr erwarten, als endlich selbst als Aufgestiegene anerkannt zu werden (vor allem vom politischen Gegner). In erhellender Rückschau waren es die politischen Führungsfiguren, die – beginnend beim Großbürger Viktor Adler – sich ihrer  bourgeoisen Stellung bewusst waren, um sich auf dieser Grundlage rückhaltlos auf die Verfolgung der politischen Interessen ihrer Klientel konzentrieren zu können (ohne dabei auf die Zustimmung von falscher Seite her angewiesen zu sein). Diejenigen aber, die selbst alle Hände voll zu tun, hatten, die gesellschaftliche Stufenleiter hinaufzuklettern, sahen sich irgendwann in einem existentiellen Widerspruch zwischen dem Milieu, dem sie selbst entstammen (und das zu vertreten sie politisch aufgebrochen waren) und dem Milieu, von dem sie sich sehnlichst die Anerkennung erwarten, die sie als Zugehörige ausweist. Und genauso schaut sie jetzt aus, die SPÖ-Führungsriege, die endlich angekommen in den ersehnten Funktionen, alles tut, um auch dort zu bleiben. Nur zu gerne wird dabei aller Ballast abgeworfen, der noch einmal an die eigene Herkunft erinnern könnte. Dieser Bezug aber wäre die Voraussetzung für jegliche politische Verortung, ohne die sozialdemokratische Politik zur selbstreferentiellen Taktik des Machterhalts einiger weniger Funktionäre verkommt. Diese haben jegliche Empathie gegenüber ihrer eigenen Herkunft hinter sich gelassen; in ihrer Orientierungslosigkeit konsultieren sie den von ihnen aufgepäppelten Boulevard, um sich in ihren politischen Entscheidungen inspirieren zu lassen (auch dazu gibt es eine persönliche Erinnerung, in der ich – während eines Schiurlaubs – führende SPÖ-Manager bei der morgendlichen Lektüre von Krone und Österreich beobachten konnte, die unmittelbar nach diesem Studium ihre taktischen Anweisungen an die Parteizentrale durchgegeben haben).

Und wer vertritt diejenigen, die unten bleiben (müssen)

Die aktuelle Situation ist deshalb so dramatisch, weil zurzeit die Anzahl derer, die nicht aufsteigen (können) immer größer wird. Kurz: Die Schwierigkeiten, das tägliche Leben zu meistern, nehmen für immer mehr Menschen zu. Gleichzeitig finden diese in einer abgehobenen Funktionsschicht keine überzeugende Vertretung mehr, die hat – selbst verunsichert – alle Hände voll zu tun, sich gegenseitig an den Machthebeln zu stützen. Mit einer Ausnahme: die FPÖ. Deren Funktionäre sind sich nicht zu schade, hinunterzusteigen zu denen, die Ansprache am dringendsten brauchen. Zugegeben, sie tun das in abgefeimter, weil die Gesellschaft spaltenden Weise. Aber sie tun es und erhalten damit eine Legitimation in Gruppen, um die sich sonst niemand (mehr) bemüht.

Auch Viktor Adler wird bei seinen Besuchen bei den „Ziaglbehm“ (eigentlich „Ziegelböhm“, Arbeiterschaft der Ziegeleien im Süden Wiens des 19. Jhdt., die überwiegend böhmisch/mährischer Abstammung war, Anm.) in ihren Elendsquartieren am Wienerberg mit allen möglichen kruden Vorstellungen, wie die Verhältnisse verbessert werden müssten, konfrontiert worden sein. Und doch hat er sich der Herausforderung gestellt, ist in den Gatsch gestiegen und hat sich nicht nur intellektuell dreckig gemacht. Das Ergebnis war der Beginn einer politischen Bewegung, die sich in den darauf folgenden hundert Jahren zur Aufgabe gemacht hat, das Leben derer, die nicht zu den Aufsteigern gehören, nachhaltig zu verbessern. Heute haben immer mehr derjenigen, denen der Weg nach oben versperrt ist (oder zumindest erscheint) den Eindruck, es hätte sich eine politische Nomenklatur von ihnen abgewandt, verstünde sie nicht mehr und wolle sich nicht mehr die Hände schmutzig machen im Umgang mit ihnen. Warum sie also noch weiter wählen. Umso weniger, als da eine andere Bewegung auf den Plan tritt, die zumindest so tut, als würde sie die Probleme ernstnehmen und Maßnahmen kennen, um ihnen abzuhelfen.

Politische Analysen – Brauch ma ned

Die Sozialdemokratie ist mehrmals in ihrer Geschichte vor ähnlichen Herausforderungen gestanden; sie und ihre Mitglieder mussten in diesem Zusammenhang existentielle Schläge einstecken. Auffallend erscheint, dass sich – etwa im Verlauf der Zwischenkriegszeit – das Führungspersonal der Partei um eine luzide Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. der Klärung der jeweiligen historischen Rolle ihres Elektorates gerungen hat. Sie hat sich dabei profunder intellektueller Expertise bedient und diese auch in den eigenen Reihen gepflegt. Auch diese Tradition scheint heute weitgehend zusammengebrochen. Wann hat sich zuletzt ein führender Politiker aus der Deckung inhaltsleerer Rhetorik herausgewagt und versucht, Menschen die Lage zu erklären?  Stattdessen scheint heute ein Nonplusultra an politisch-intellektueller Auseinandersetzung zu sein, den Universalphilosophen Konrad Paul Liessmann zu ersuchen, ausgewählten Funktionären den Verlust bürgerlicher Existenz erklären zu lassen, nachdem er dieser Aufgabe just zuvor bei der ÖVP nachgekommen ist (by the way: kann sich jemand vorstellen, dass in zehn Jahren die gesammelten Reden Werner Faymanns erscheinen werden, um einer jungen Generation von PolitikerInnen die Chance zu geben, von den strategischen Überlegungen des einstigen Parteiführers zu profitieren?).

Mit oder ohne FPÖ – Die Frage stellt sich nicht (mehr)

Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Frage, ob die SPÖ mit der FPÖ koalieren soll oder nicht (zumal die Frage jedenfalls im Burgenland bereits entscheiden ist). Die viel entscheidendere Frage besteht darin, ob diese Partei in ihrem gegenwärtigen personellen und inhaltlich-politischen Zustand noch einmal in der Lage ist, der unseligen Kombination wachsender sozialer Devastierung gepaart mit politischer Verführung durch populistische Nahkämpfer eine überzeugende politische Strategie zur Interessenvertretung derer, die die aktuelle Entwicklung vorrangig erleiden, entgegenzustellen.

Wenn nicht, dann ist es eigentlich wurscht, ob die SPÖ mit der FPÖ koaliert oder nicht. Dann erschöpft sich der aktuelle Aufstand in moralischer Entrüstung, ohne dabei den politischen Kurs zu korrigieren. Das Ergebnis wird Österreich in beiden Fällen dem politischen Ort näherbringen, wo Länder wie Ungarn mangels überzeugender Alternativen bereits heute sind. Es ist die leidvolle Entwicklung der SPÖ selbst, die uns erkennen lassen könnte, dass wir bereits viel näher daran sind, als uns bewusst ist.

Urban Places – Public Spaces

Kurzbeschreibung

„Urban Places – Public Spaces“ ging in drei internationalen Veranstaltungen zwischen Februar und April 2015 der Frage nach, welche Rolle Partizipation, Gemeinwohl und Gerechtigkeit in unseren Städten spielen und in welchen Städten der Zukunft wir leben möchten. Im Rahmen des Projekts diskutierten ExpertInnen und Publikum in München mit Gästen in jeweils zwei weiteren Metropolen via Live-Videokonferenzschaltung: Istanbul und São Paulo, Madrid und New York City, Rotterdam und Johannesburg. Die globale Debatte mit 25 ExpertInnen und Publikum in insgesamt sieben Städten wurde durch ein Live-Streaming sowie die Möglichkeit der Beteiligung an der Diskussion über Social-Media-Kanäle bereichert. Begleitet wurden die Veranstaltungen durch filmische Dokumentationen künstlerischer Interventionen und Projekte im urbanen Raum.

Methode

Die Evaluation analysiert die Zielerreichung und Wirkungen des Projekts „Urban Places – Public Spaces“. Besonders wichtig ist die Untersuchung in Hinblick auf die Übertragbarkeit und Weiterentwicklungsmöglichkeiten des Projektformates. Dazu werden verschiedene qualitative und quantitative Erhebungsmethoden angewandt: Beobachtungen, Medien- und Dokumentenanalysen, Fragebogenerhebungen, Leitfadeninterviews, Round-Table-Diskussionen.

Jeder/jede ist irgendwie anders

Wien befindet sich zurzeit im Toleranztaumel. Scheinbar alles dreht sich um den Song Contest, den die transgender Figur Conchita Wurst mit ihrem überraschenden Sieg im vorjährigen Durchgang in Kopenhagen ins traditionelle Kulturzentrum im Herzen Europas gebracht hat. Und so tummeln sich auf der Bühne der Stadthalle allerlei Andersartige seien es AutistInnen, Menschen mit Down-Syndrom oder RollstuhlfahrerInnen, die mit ihren musikalischen Mitteln den Beweis dafür liefern, dass das Format in der Lage ist, nachhaltig Brücken zwischen einer event-euphorisierten Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten aller Art zu bilden. Der ultimative Schrei des Publikums nach einem umfassenden Miteinander lässt keinen anderen Schluss zu als: Wir alle sind anders (geworden) und repräsentieren ab sofort die Überwindung überkommener Borniertheiten zugunsten einer umfassend aufgeschlossenen und liberalen Haltung gegenüber jedweder Unterschiedlichkeit. Und es ist einmal mehr die verbindende Kraft der Musik, die uns keine andere Wahl lässt als angesichts eines allgegenwärtigen „Rising Phoenix“ alle diesbezüglichen Stereotypen hinter uns zu lassen. Denn: „Once I'm transformed/Once I'm reborn/You know I will rise like a phoenix/But you're my flame”.

Angesichts dieses kollektiven Gesinnungswandels mochte die Wiener Stadtverwaltung nicht zurückstehen und installierte rasch einige „Toleranzampeln" mit gleichgeschlechtlichen Pärchen, um dem Zeitgeist zu entsprechen; eine Maßnahme, die mittlerweile weltweit wohlwollend zur Kenntnis genommen wird und so drauf und dran ist, den internationalen Wientourismus weiter zu stimulieren.

Scheinbar völlig beziehungslos beschäftigt die österreichischen Medien in diesen Tagen noch ein weiteres Thema in Sachen Andersartigkeit: Weil sich viele österreichische Gemeinden weigern, in Österreich schutzsuchende Flüchtlinge aufzunehmen (und die zuständigen Länder nicht bereit sind, eine gemeinsam vereinbarte Quotenreglung durchzusetzen) hat die Bundesregierung begonnen, in Arealen aufgelassener Militärkasernen Zelte zu errichten, um die Asylsuchenden nicht der völligen Obdachlosigkeit preiszugeben. Gleichzeitig denken die zuständigen Behörden darüber nach, wie es gelingen kann, Flüchtlinge schneller als bisher wieder loszuwerden und wenn notwendig auch gewaltsam außer Landes zu bringen. Diese Form der Übertragung von Flüchtlingsaufgaben an das Verteidigungsministerium liegt durchaus in einem europäischen Trend, der darauf hinausläuft, die Flüchtlingsfrage zu militarisieren und so den wachsenden Flüchtlingsströmen vor allem im Süden Europas auch mit Waffengewalt entgegenzutreten.

Vielleicht hätte sich ja eine syrische Flüchtlingsband dem Voting stellen sollen, um in den Genuss der euphorisierten Brückenbauer zu kommen. Weil sie das aber nicht getan haben, bleiben Flüchtlinge als die anderen Anderen vom Tanz der Toleranz ausgeschlossen. Einen Schlüssel für die so augenscheinlich werdende Ungleichzeitigkeit liefert der Herausgeber Armin Thurnher in der jüngsten Ausgabe des Falter (Falter 21/15, Rubrik „Seinesgleichen geschieht“): „Schwulenfeindlichkeit ist abgehakt, wer sie mit großen Events bekämpft, feiert nur mehr sich selbst….Die (in Wien seit Ewigkeiten regierende) Sozialdemokratie sieht sich auf dem Höhepunkt ihrer Eventkultur, es ist wunderbar, dass sie das Rathaus für den Life-Ball als mittlerweile weltgrößte Aids-Charity öffnet, dem Ruf Wiens als Menschenrechtshauptstadt ist Genüge getan. Bis zur nächsten FPÖ-Kampagne jedenfalls, bis zur nächsten Zeltstadt des Innenministeriums und bis zur Revitalisierung der k.u.k. Kriegsmarine gegen Flüchtlinge in der Adria“.

Mit seiner Interpretation liefert Thurnher Indizien für eine Interpretation, wonach es um Andersartigkeit (damit verbundene mehr oder weniger sichtbare Unterschiedlichkeit) gar nicht geht, sondern um deren politische Instrumentalisierung. Wien hat offensichtlich ein wachsendes Interesse daran, sich international als eine weltoffene Stadt zu präsentieren, um sich so aus pragmatisch wirtschaftlichen Gründen einem liberalen (und damit in der Regel kaufkräftigen) internationalen Publikum zu empfehlen. Also was spricht dagegen, im Rahmen einer grandiosen Kitschorgie die herrschenden Geschlechterverhältnisse zum Tanzen zu bringen. Umgekehrt ist es für rechtskonservativ-populistische Kreise ein traditioneller Erfolgsfaktor, sprachliche oder ethnische Unterschiede für die politische Konstruktion scheinbar unvereinbarer Unterschiede zu nutzen und so die Spaltung der Gesellschaft in „Wir und die Anderen“ voranzutreiben. Auch sie können punkten, vor allem bei einer sozial schwachen Klientel, die nur zu gerne bereit ist zu glauben, dass irgendwelche ihnen nicht Zugehörige  genau jene Lebenschancen rauben würden, die von sich aus wahrzunehmen sie sich nicht in der Lage sehen.

Vielfalt und Ungleichheit in der Wettbewerbsgesellschaft

Diese unterschiedlichen politischen Strategien bringen mich zur Vermutung, dass Unterschiede innerhalb von Gesellschaften selbst gar kein Problem darstellen, zumal sie für diese konstitutiv sind. Diese beginnen erst dann, wenn die Politik versucht, diese Unterschiede entlang  bestimmter Merkmale zu bündeln und zu instrumentalisieren. Dabei kann es durchaus zweitrangig sein, ob die Betroffenen selbst diese Unterschiede als wichtig erachten oder nicht. Mindestens ebenso entscheidend sind die Zuschreibungen, die von außen erfolgen und in Form von mehr oder weniger willkürlich betonter Merkmale an derart Stigmatisierten haften bleiben. Davon berichten uns mehr und mehr Jugendliche, die sich trotz Zuwanderungserfahrung längst als „waschechte“ ÖsterreicherInnen sehen und denen von Homogenitätsindoktrinierten dennoch stereotyp die Schublade für die Anderen, wahlweise „TürkInnen“,  „SerbInnen“ oder andere ethnische Gruppen zugewiesen wird.

Bei genauerem Hinsehen verweisen diese Zuschreibungen unmittelbar auf die Charakteristik einer Wettbewerbsgesellschaft. Sie ist auf ein hierarchisches Verhältnis unterschiedlicher Teile angewiesen, die bereit sind, um ihre über- oder untergeordnete Stellung zu kämpfen. Dafür sind (fast) alle Mittel recht. So sehr also Vielfalt durchaus ein Asset darstellt, läuft die gesellschaftliche Dynamik dennoch darauf hinaus, die eine Ausformung höher einzuschätzen als die andere, die eine positiv und die andere negativ zu diskriminieren. Dabei können die Zuschreibungen (und damit die Verortung ihrer TrägerInnen auf der hierarchischen Stufenleiter) weitgehend zufällig erfolgen, wichtig ist ausschließlich, ob und – wenn ja – in welcher Form sie sich politisch und wirtschaftlich instrumentalisieren lassen. Und so kann es – siehe oben – durchaus passieren, dass aktuell bestimmte Formen der sexuellen Andersartigkeit besonders gehypt und so auch politisch privilegiert werden, während gleichzeitig bestimmte ethnische und sprachliche Herkünfte zunehmender Diskriminierung unterliegen. Mit einer medial hochgeschriebenen Zunahme gesellschaftlicher Toleranz hat das eine so wenig zu tun wie das andere. Eher geben die beschriebenen Phänomene darüber Auskunft, wer im Kampf der sozialen Gruppen gerade Oberwasser hat und wer unter zu gehen droht.

Die angesprochenen Formen sozialer Organisation finden unschwer ihre kulturelle Entsprechung. Dem oft missinterpretierten Charakter des „Kulturellen“ als Mittel der Inklusion ebenso wie der Exklusion folgend, eignen sich kulturelle Zuschreibungen besonders gut zur Festschreibung gesellschaftlicher Hierarchien. In dem Maß, in dem kulturelle Zuschreibungen als naturhaft verhandelt werden, erscheint es ähnlich schwer, diese zu ignorieren wie eine Rückenmarkslähmung. Dazu kommt die hohe Verführungskraft, sich ihrer zu bedienen, wenn es etwa darum geht, soziale Widersprüche, die politisch nicht aufgelöst werden können oder wollen, als kulturelle zu determinieren und so als prinzipiell unverhandelbar darzustellen. Und schon sind wir bei kulturspezifischen Argumenten, warum sich migrantische Jugendliche besonders häufig in Sonderschulen (die in offiziellen Dokumenten wie den Nationalen Bildungsbericht gleich auch als besonders „belastete Schulen“ ausgewiesen werden) finden oder warum die Integration einiger weniger Flüchtlinge, die einen anderen kulturellen Hintergrund repräsentieren, zur Aufrechterhaltung eines gedeihlichen Zusammenlebens Alteingesessener mit allen Mittel bekämpft werden muss (als ob sich die unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten der Alteingesessenen sich im Streitfall nicht ebenso leicht gegeneinander in Stellung bringen ließen).

Kulturelle Differenz als End- und nicht als Ausgangspunkt eines gesellschaftlichen Diskurses

Es  ist fraglich, ob auf Grundlage permanenter Auseinandersetzung um Oben oder Unten, um Drinnen oder Draußen die Idee kultureller Vielfalt, wie sie sich derzeit darstellt, als positiver Wert erhalten bleiben kann. Es ist eine zentrale Konsequenz universeller Wettbewerbslogik, dass auch die europäischen Gesellschaften immer unterschiedlicher und folglich ihre Mitglieder immer andersartiger werden. Dementsprechend besteht die (kultur-)politische Herausforderung nicht mehr darin, diese weiter zu forcieren, sondern eher darin, eine adäquate Antwort auf das Spannungsverhältnis zwischen den KäuferInnen von Louis-Vuitton-Luxusgütern und der Tätigkeit einer chinesischen Reinigungskraft zu finden.

Auffallend ist in dem Zusammenhang der Umstand, dass ausgerechnet der Kulturbetrieb diese dramatischen Veränderungen bestenfalls an seinen Rändern antizipiert; mehr, dass seine gegenwärtige Produktionslogik diesen Tendenzen fundamental widerspricht. Ein Indiz dafür sind die Forschungen von Doris Ruth Eikhof und Chris Warhurst, die in ihrem Beitrag aus 2013 „The Promised Land? Why social inequalities are systemic in the creative industries“ eindrucksvoll belegen, welche Strategien der Kulturbetrieb unternimmt, um unter sich zu bleiben und dadurch kulturelle Vielfalt nur nicht zu fördern, sondern um diese zumindest im eigenen Bereich zu verhindern.

In einem jüngsten Alpbach-Talk zu „Vielfalt im Kulturbetrieb: Ein Mythos?“ stellten die beiden DiskutantInnen, zum einen Edeltraud Hanappi-Egger, Diversitätsforscherin und designierte Rektorin der WU-Wien, und Matti Bunzl, designierter Direktor des Wien Museums, speziell dem österreichischen Kulturbetrieb einen schlechten Befund aus. Während Hanappi-Egger über den aktuellen Stand des Diversitäts-Managements im Wirtschaftsbereich referierte, verwies Bunzl auf seine Erfahrungen in den USA, die er nunmehr versuchen wolle, auch für das Wien Museum als ein Haus für möglichst alle soziale Gruppen Wiens mit ihren selbst- oder fremdzugeschriebenen kulturellen Attributen produktiv zu machen (dabei wurde einmal mehr auf die legendäre Ausstellung „Gastarbajteri“ verwiesen).

Bei seinen Erklärungsversuchen unterschied Bunzl zwischen einer liberalen und einer radikalen Haltung des Kulturbetriebs. Der liberale Zugang würde sich im Wesentlichen darauf beschränken, das äußere Erscheinungsbild der jeweiligen Einrichtung bunter und entsprechend der aktuellen Vielfalt nach außen hin schillernder zu gestalten. Das würde weder an der inneren Produktionslogik noch am Programmangebot wesentliches verändern. Der radikale Zugang hingegen würde dazu führen, dieser neuen Vielfalt für eine umfassende institutionelle Veränderung zu nutzen  und so den Kulturbetrieb von seinen überkommenen Homogenitätsanspruch zu befreien. Vereinfacht gesagt: Sowohl Form als auch Inhalt des Kulturellen stünde zur Disposition, der kulturpolitische Anspruch bestünde darin, eine neue Produktions- (und Rezeptionslogik) zu entwerfen und umzusetzen, die noch einmal in der Lage ist, die Ausdifferenzierung kultureller Vielfalt hinreichend auch institutionell abzubilden.

In Österreich gibt es noch Entwicklungspotential

Die ersten Einschätzungen, die das aktuelle europäische Projekt „Brokering Migrants‘ Cultural Participation“, das EDUCULT aktuell mit einer Reihe österreichischer Kultureinrichtungen durchführt, lassen darauf schließen, dass speziell in Österreich noch ein weiter Weg zurückzulegen ist (Reaktion einer schwedischen Kooperationspartnerin zur österreichischen Situation: „Dort waren wir im Diskurs vor zehn Jahren!“).

Zurzeit weist wenig darauf hin, dass über vereinzelte kulturpolitische Zurufe an den Kulturbetrieb hinaus, sich doch vermehrt um sozial Benachteiligte (gemeint sind vor allem migrantische – weil besonders leicht zuschreibbar –, kulturell andersartige Gruppen) zu kümmern, neue Akzente gesetzt werden. Stattdessen sollen Conchita Wurst und FreundInnen als ästhetischer Ausdruck dessen herhalten, was die kulturelle Vielfalt Wien, Österreichs und warum nicht gleich ganz Europas ausmacht; bei so viel Toleranz darf dann schon mal die russische Repräsentantin ausgepfiffen werden, ganz so als wäre die Sängerin Polina Gagarina gerade höchstpersönlich in die Ukraine einmarschiert.

Nächstes Jahr wird wieder eine andere Sau durch das Dorf getrieben, die uns für die Dauer eines Events vergessen machen soll, dass wieder ein paar tausend Flüchtlinge ersoffen sind, weil sie anders sind.

 

Bildbeschreibung: Unter dem Titel "EUROART im MQ"  wurden im Rahmen des Eurovision Song Contest 2015 von KünstlerInnen 40 Sitzmöbel des Museumsquartiers gestaltet. Jedes Möbel repräsentiert eines der Teilnehmerländer am ESC. In den ersten Tagen der Ausstellung im Hof des MQ waren die Objekte frei zugänglich und wurden von PassantInnen als Sitzgelegenheit verwendet. Mittlerweile trennt ein Absperrband die Kunstwerke von schmutzigen Fußsohlen. Nach der Ausstellung werden die Möbel zugunsten von Nachbar in Not für die Erdbebenopfer in Nepal versteigert. © EDUCULT

Von Wanderjahren und Museumsselfies

„Access to Culture“ heißt ein europäisches Forschungs- und Kooperationsprojekt, das sich als Politikfeldanalyse zum Zugang zu Kunst und Kultur versteht. Von NutzerInnen, ProduzentInnen und politischer Mitsprache ist da die Rede, von „five aspects of access to culture“, von der steigenden Relevanz des Privatsektors und nicht zuletzt davon, dass „access“ eine implizite Forderung darstellt, ja ein Querschnittsthema ist. So weit so gut.

Keine ganz neue Erkenntnis und auch kein neues Thema, könnte man entgegnen, arbeitet sich doch seit 40 Jahren die sogenannte „neue Kulturpolitik“ (und mit ihr die „neue“ Kulturelle Bildung) genau daran ab: Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik, Kultur für alle und von allen, Demokratisierung der Kultur und Demokratisierung der Gesellschaft durch Kultur. Insbesondere Hermann Glaser hat dazu mit seiner Schrift „Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur“ aus dem Jahr 1974 beigetragen. Kunst und Kultur als Möglichkeits-, ja als Spielräume, in denen gesellschaftliche Veränderung erprobt, durchgespielt und vorbereitet wird – das war die Grundhoffnung. Kulturpolitik, so verstanden, erlebte in den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts eine Hochzeit insbesondere auf kommunaler Ebene. Eine der zentralen Hebel war dabei das Verständnis von Kulturpolitik als Querschnittsthema der gesamten kommunalen Politik. Trotzdem sind die Ergebnisse der neuen Kulturpolitik deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben: Nach wie vor herrscht kein Mangel an Barrieren zu kultureller Teilhabe und statt eines echten Konzepts kultureller Vielfalt setzte sich vielerorts die Ungleichheit in kulturalistischer Ausprägung einfach durch eine Fortschreibung neuer salonfähiger Formen und Medien fort. Zudem hat sich die Vorstellung eines ständig wachsenden Kulturinteresses als Illusion entpuppt – obwohl sich die Rahmenbedingungen deutlich verbessert haben. So gibt es zwar mehr Besuche, aber nicht mehr BesucherInnen. Zu den Vielnutzern gehören nach wie vor geschätzte 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung und die zentrale Referenzgruppe dürfte immer noch das Bildungsbürgertum sein.

Von den Popularitätswerten der 1980er Jahre ist die Kulturpolitik (zumindest die begriffliche!) heute weit entfernt. Sie lebt allerdings nach wie vor, wenn auch oft unter anderen Labeln (wie man auf Neudeutsch sagen würde), die zwar weniger verstaubt daher kommen mögen, sich gleichwohl um altbekannte Herausforderungen kümmern: Kulturelle Bildung, Inter- und Transkultur, Audience Development, Vermittlung oder eben Teilhabe. Und nach wie vor sucht sie nach Lösungen für die Frage, wie denn die Beziehung zwischen der Kultur und dem Menschen (oder umgekehrt) intensiviert werden könnte.

So ist kürzlich durch den Artikel „Stoppt die Banalisierung!“ von Wolfgang Ullrich in der Wochenzeitung DIE ZEIT (Nr. 13 vom 26. März 2015, S. 55) Bewegung in eine Diskussion gekommen, die Anstoß nimmt an der Heilsidee einer alles und alle erreichenden Vermittlung, die – konsequent genug betrieben – sämtliche weiteren Probleme des Kulturbereichs gleich mit löst. Ullrich beklagt Vermittlung ohne Rücksicht auf die Kunst, die sich am Ende des von Kunstreligiösität und „political correctness“-Regeln (niemand darf ausgeschlossen werden!) geprägten Vermittlungsprozesses ihrer Komplexität beraubt sieht und nicht mehr die Kraft hat, zu verhindern, dass das sogenannte Publikum an derselben Stelle wieder abgesetzt wird, wo es eben noch abgeholt wurde. Am Ende reiben sich dann alle die Augen und fragen sich, was das soll.

Ullrich stößt damit in dasselbe Horn, wie es Holger Noltze mit seinem Buch „Die Leichtigkeitslüge“ (2010) tut. Noltze beklagt darin eine Verblödungsmechanik zwischen Dünkel und Marktfähigkeit, in dem alles leicht und benutzerfreundlich sein muss und in dem Komplexes und Schwieriges keine Daseinsberechtigung mehr hat. In Ermangelung eines gesellschaftlichen Konsenses über das zweckfrei Schöne geschieht eine Flucht in Nützlichkeitserwägungen, die aus der angeschlagenen Arbeitsfähigkeit hinausführen soll. Heraus kommt dann eine Begründungsprosa aus der Defensive (man denke nur an Förderanträge für Projekte der kulturellen Bildung), die längst kein Gegengewicht zu einer betriebswirtschaftlich-rationalen Weltsicht mehr darstellt, sondern meint, ihr Heil in der Nachahmung dessen finden zu müssen, zu dem sie eigentlich Distanz aufbauen sollte. Verantwortlich dafür – aber auch in der Lage, es zu ändern –, so Noltze, seien die drei gesellschaftlichen Bereiche Bildung, Medien und der Kulturbetrieb selbst.

In einem Satz zusammengefasst: Alle drei Systeme funktionieren mittlerweile nach ökonomisch-marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Bildung muss vor allem wirtschaftlich verwertbar sein (siehe dazu den Blogeintrag unten „Kaiser im Lehnstuhl“ von Michael Wimmer), was im Grundsatz niemand bestreitet, denn natürlich soll die Ausbildung auf den Beruf vorbereiten. Über das rechte Maß mag man allerdings diskutieren, denn gerade die Wirtschaft zehrt doch von Voraussetzungen, die sie nicht selbst schaffen kann (das hat sie mit der Kulturpolitik gemein): Kreativität, die Erfahrung von Komplexität und ein routinierter Umgang mit unbekanntem Terrain sind Voraussetzungen von Qualität und Wettbewerbsfähigkeit – und sprechen doch für die Bedeutung und Rolle der Künste. Der durch den Reformprozess von Bologna eingeführte Abschluss als „Bachelor“ steht vielleicht paradigmatisch für die Papier gewordene intellektuelle Kurzsichtigkeit, weil er erst durch eine Art des Denkens zustande gekommen ist, die am Ende zum Maßstab ihrer selbst erhoben wurde. Das wahre Ausmaß dieses Vorgehens, das zwar als Bildungspolitik getarnt, in Wahrheit aber nur eine finanzielle Sparmaßnahme war, zeigt sich erst mit Blick auf den vermeintlichen Adressaten. Scheinbar für die Wirtschaft gemacht (schneller und jünger!), erfreut sich der Bachelor in weiten Teilen großer Kritik: Einerseits wird so ein Abschluss der wachsenden Komplexität der Welt nicht mehr gerecht und andererseits zwingt er die Wirtschaft, MitarbeiterInnen auf eigene Kosten weiterzubilden.

Auch die Medien denken nur noch in Quotenlogik, was zumindest beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk diskutiert werden muss, ist er doch gebührenfinanziert und hat er doch auch einen Kulturauftrag. Um aber nicht noch mehr in die Defensive zu geraten, müssen ZuschauerInnen und ZuhörerInnen her. Heraus kommt ein Fernsehprogramm, das oft jedenfalls, ein quotengesteuertes Sedativ zwischen Alpenpanorama und Sozialpornographie ist und weite Teile der Bevölkerung in einen intellektuellen Tiefschlaf versetzt, mit dem sie der Unbill der Welt entgehen (sollen?) – honi soit qui mal y pense. Die öffentlich-rechtlichen Kultursender im Radio bieten ein unterschiedliches Bild, das von gutem Programm bis zum Ganzjahres-Silvesterkonzert reicht, aber vielleicht sind Radio und Fernsehen auch Dinge, die es so nur noch eine begrenzte Zeit gibt.

Der Kulturbetrieb als solcher kämpft schließlich mit allerlei GegnerInnen und vor allem mit sich selbst, was nur in Ausnahmefällen der Kunst nützt. So sind wir in einem System angekommen, dessen inhärente Förderlogik oft mit dem Verweis auf die eigene Kontinuität als hinreichendem Daseinsgrund auskommt und die KünstlerInnen und damit irgendwie auch die Kreativität zur Nebensache werden lassen.

Davon bleibt naturgemäß auch die Vermittlung einschließlich der mit ihr eingehenden Bemühungen nicht verschont. Die steht nämlich vor der schwierigen Aufgabe, nachweisen zu müssen, dass sich sehr wohl alle für Kunst und Kultur interessieren, wenn man es nur geschickt genug anstellt. Dagegen ist übrigens dem Grunde nach nichts zu sagen, denn all das ist tatsächlich für alle da, auch wenn man nicht der Illusion erliegen sollte, alle zu erreichen. Um den gefühlten und tatsächlichen Abstand zwischen Kunst bzw. Kultur und Mensch zu verringern, sucht die Vermittlung nach Wegen der Abkürzung, indem die Kunst aus dem Bilderrahmen, vom Sockel und aus der Partitur geholt und dem Menschen in die Hand gedrückt wird. Das ist kein schlechter Anfang, denn wer mittels Pappkarton und Steinen ein Schlagwerk nachbaut oder mit einem Pinsel Farbe auf eine Leinwand aufträgt, hat zumindest einen Anfang gemacht. Leider bleibt es dann oft dabei und so werden Steine im Pappkarton mit Musik verwechselt und am Schluss bleibt die bittere Erkenntnis, dass sich irgendwie auch keine echte Annäherung an Mahlers Zweite ergeben will, egal, wie lange man den Pappkarton schüttelt. Und zum Rockstar wird man damit auch nicht. Das Vermittlungsopfer hat berechtigterweise genug davon, fühlt sich denn die Distanz zur Kunst nun nur umso größer an. Die Kunst auf der anderen Seite kam gar nicht vor, geht aber als Beschädigter aus der Sache hervor und so werden beide Seiten ihr Geheimnis für sich behalten. Kleiner werden hier also nicht die Barrieren, sondern nur die Kunst selbst, weil vorgespiegelt wurde, der intellektuelle Eintrittspreis sei gar nicht so hoch und der Weg viel kürzer als gedacht. Der Versuch muss letztlich scheitern, da man auf der Klaviatur der Trivialität keine Sinfonie der Komplexität spielen kann. Noltze resümiert: Vermittlung vermittelt Vermittlung.

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt wunderbare Vermittlungsprojekte, großartige VermittlerInnen und ansteckende Erfolgsgeschichten, in denen es gelingt, den Zauber der Kunst weiterzugeben. Dabei denke ich zuerst mal an den künstlerischen Schulunterricht, wo er denn noch stattfindet. Ein/e fähige/r Kunstpädagoge/in kann gar nicht überschätzt werden. Leider fällt so viel Musik- und Kunstunterricht aus, dass es auch einer Armada an außerschulischen Initiativen an kultureller Bildung gar nicht gelingen kann, dieses Defizit wettzumachen. Und selbst wenn er stattfindet, fehlt es allzu oft entweder an KunstpädagogInnen überhaupt, oder am fähig sein.

Es stellt sich die Frage, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Der Hinweis auf eine rationalisierte Welt ist nicht neu, schon im 19. Jahrhundert wurde darüber geklagt. Möglicherweise liefert aber heute das Phänomen der Digitalisierung neue Ansätze, die uns zu verstehen helfen.

Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Digitalisierung und Ökonomisierung in einem großen Naheverhältnis zueinander stehen. Beide befruchten sich gegenseitig. So hat die Digitalisierung die Spielregeln der Wirtschaft verändert, ihren Puls stark erhöht und sie zudem von analogen Grundvoraussetzungen im Raum-Zeit-Verhältnis teilweise befreit. Arbeiten kann man überall und zu jeder Zeit, Strom und Netz vorausgesetzt, der klassische Arbeitsplatz verliert an Wert und auch für die Kulturpolitik lange bestimmende Rahmenbedingungen wie eine Trennung von Arbeits- und Privatleben verschwinden. Vor allem die unvorstellbare Produktion von Informationen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verändern die Welt sehr stark. Auch wird der Bereich des Immateriellen immer mehr reduziert und materialisiert, indem Verhaltensweisen beispielsweise durch die Schaffung von „Apps“ kommerzialisiert werden. In gewisser Weise horizontalisiert die Digitalisierung eine einst eher vertikal geordnete Welt, sie schafft damit nebenbei viele gute Möglichkeiten auch für die Kunstvermittlung und die Kunst selbst. Sie kann, klug eingesetzt, Menschen mit der Welt verbinden, Informationen transparent verteilen und sogar Menschen in Notlagen retten. Sie kann auch das Gegenteil. Technik ist nicht gut oder schlecht. Das war sie auch vor der Digitalisierung nie: Auch mittels Schmiedehandwerk lassen sich Schwerter oder Pflugscharen herstellen. Und mit einem Messer kann ich Essen zubereiten oder töten. Es kommt immer auf den Menschen an. Damit wird klar: Die Digitalisierung ist keine technische, sondern eine politische Frage, die allerdings in weiten Teilen noch nicht als solche begriffen wird.

Kennzeichen der Digitalisierung sind einerseits Geschwindigkeit und andererseits Verbreitung. Die Digitalisierung erhöht das Tempo. Briefe brauchen Stunden und Tage, um bei den EmpfängerInnen anzukommen, eine Mail schafft das in Sekundenbruchteilen. Geschwindigkeit wird zum Wettbewerbsfaktor Nummer eins, nur wer schnell genug ist, spielt ganz vorne mit. Durch massenhafte Verbreitung und die enge Verzahnung mit der Wirtschaft wird klar: Digitalisierung ist nicht nur ein neues Medium, das kumulativ neben die analoge Welt tritt, sie verändert die Welt und der Gebrauch ihrer Instrumente damit auch uns und die Art, wie wir leben und kommunizieren, welche Informationen wir wann wahrnehmen und wie Entscheidungsprozesse verlaufen. Die Digitalisierung stellt grundlegende semiotische und semantische Grundbedingungen unseres Zusammenlebens in Frage: Galt ein Buch jahrhundertelang als Bildungskonserve mit objektiv-gültigem Inhalt, so haben sich heute die Manipulationsmöglichkeiten vervielfacht. Im Prinzip kann jeder Mensch heute mittels eines Computers gefälschte Videos hochladen und „seine“ Wahrheit so verbreiten, dass alle digital vernetzten Menschen erreicht werden können. Von dieser Möglichkeit profitieren nicht nur ExtremistInnen wie beispielsweise Mitglieder von IS oder Boko Haram, die die sozialen Medien gezielt nutzen.

Weiter ist zu konstatieren, dass die individuelle Abhängigkeit stark gestiegen ist: Die meisten von uns sind reine NutzerInnen und damit technische LaiInnen. Programmieren wird in Deutschland jedenfalls nicht in der Schule gelehrt. Zudem hat der Markt Monopolisten hervorgebracht: Apple, Microsoft, Facebook und Co. haben keine echten KonkurrentInnen (wie gesagt, Programmieren gehört nicht zum Lehrplan…) und der verzweifelte Versuch der Gesetzgeber, die digitalen Großkonzerne zur Einhaltung ihrer nationalen Rechtsordnungen zu bewegen, endet bei unendlich langen und unverständlichen user policy Erklärungen, die niemand liest und deren Anklicken zwar rechtlich gesehen „Zustimmung“ bedeutet, aber mangels Verstehen und mangels alternativer Produkte die Idee rechtlich wirksamen Einverständnisses ad absurdum führt. Das Recht höhlt sich damit selbst aus, denn neben der Möglichkeit von Alternativen setzen Freiheitsrechte mündige BürgerInnen voraus, was wiederum Bildung und Erkenntnis zur Bedingung hat.

Noch ein Punkt erscheint mir in dieser Debatte von Bedeutung: Der oben schon zitierte Wolfgang Ullrich hat sich kürzlich in einem Vortrag mit dem "Museum im Zeitalter des Ausstellens" beschäftigt. Er erläutert die Entwicklung des Museums von einer Institution des Sammelns und Sicherns in eine des Ausstellens, obwohl es dafür eine eigene Institution – nämlich das Ausstellungshaus – gab. Das Ausstellen wurde zur übermächtigen Aufgabe der Museen, es wurde im Laufe der Zeit für KünstlerInnen zur maßgeblichen Form der Präsentation und die Museen begannen sich zu verändern und orientierten sich immer mehr an den BesucherInnen. Unter der Prämisse, immer mehr BesucherInnen zu generieren, wurde aus der Kunstvermittlung eine Maßnahme zur Optimierung von Nachfrage – was ein marktwirtschaftliches Grundgebot ist. Ohne weiter in die Einzelheiten zu gehen, erkennt Ullrich in der Tatsache, dass Ausstellungen mittlerweile auch für PhilosophInnen und GeisteswissenschaftlerInnen zum Leitmedium wurden, eine Überwindung des Logozentrismus, ja einen Wechsel vom Sprechen zum Zeigen. Exponat statt Erklärung. Betrachtung statt Analyse. Die Digitalisierung wiederum begünstigt performative Auftritte, prägnante Gesten und markante Bilder. (By the way: Was wären die Konsequenzen für diesen Text, der mit Worten nach Erkenntnis ringt?)

Vielleicht gehört in diesen Zusammenhang eine Beobachtung, über die ich schon lange rätsele: Das Museumsselfie – also ein mit dem Smartphone gemachtes Bild von sich (!) vor einem Kunstwerk. Ich und das Kunstwerk, ich im Kunstwerk, das Kunstwerk und ich oder so. Statt eingehender Betrachtung der Kunst wird ein Foto von sich mit der Kunst gemacht. Warum? Warum fotografiert man überhaupt ständig sich selbst? Vor der Kunst? Vor Bauwerken? Vor der Natur? Will man mangels Zeit die Szenerie zuhause in Ruhe ansehen? Oder wird damit eine Verbindung bildlich hergestellt, die vielleicht in ihrer natürlichen Ausprägung verloren gegangen ist? Die zwischen Mensch und Natur oder Kultur? Ist das Selfie eine bildhafte Selbstverortung bzw. -vergewisserung? Oder eine gegen die Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit gerichtete „Konservierung“ der Begegnung?

Zusammengefasst: Einerseits haben wir eine dynamisierte, pluralisierte und dadurch komplexer werdende Welt. Andererseits gewinnt das Zeigen und verliert das Sprechen an Wert. Und da wir die Digitalisierung weder technisch kontrollieren, noch geisteswissenschaftlich erfassen – was an dieser Stelle ein klares Plädoyer für eine stärkere geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema rechtfertigt –, hapert es gerade an Vielem und so wird ein Bedürfnis immer größer, das ganz natürlich immer dann auftritt, wenn Überforderung und Desorientierung im Spiel ist: Das Bedürfnis nach Vereinfachung und objektiver Wahrheit. Und so suchen Viele Erlösung in einfachen Wahrheiten, die wie Sirenengesang durch unsere Zeit hallen und suggerieren, dass alles gar nicht so kompliziert sei. Leider führt diese Suggestion geradewegs in die Klippen.

Am Ende bleibt nur die Einsicht, Komplexität zu akzeptieren und sich ihr lustvoll zu nähern. Komplexität als Chance, Neues zu entdecken und Lösungen zu schaffen, deren Erarbeitung lustvolle Gegenwart (Holger Noltze) verspricht, Freude am Aufstieg und Widerstand. Das bedeutet auch, sich vom Druck sofortiger Sinnproduktion zu entlasten und zu lernen, mit Unsicherheit umzugehen. Und es heißt auch, weniger Angst vor Neuem zu haben und mehr Wagnis zur Durchbrechung von Routine zu zeigen. Es heißt eigentlich nur: Freiheit als das begreifen, was sie ist. Freiheit braucht Mündigkeit. Und Mündigkeit braucht Erkenntnis. Das zu leisten ist Aufgabe des Bildungssystems. Und nur dann werden AbsolventInnen aus Schulen und Universitäten entlassen, die keine Erwartungen erfüllen wollen, sondern ihr Leben angstfrei und aktiv gestalten. In früheren Zeiten gab es die Wanderjahre, deren Ziel es war, Wandern zu lernen, Erfahrungen zu machen und Unsicherheiten auszuhalten. Auch von anderen zu lernen, war möglich. Wandern setzt Zeit voraus und wer wandert, verirrt sich manchmal und wandert nicht immer die kürzeste Strecke. Und so mancher Umweg hat schon reich beschenkt.

Diese Zeit braucht die Künste mehr denn je. Der Weg dahin steigt allerdings an, es gibt keine Abkürzung und Kondition braucht man auch. Enttäuschungen und Umwege wird es übrigens auch geben. Aber für den Fall, dass Sie einmal selbst auf dem Gipfel stehen wollen, sollten Sie vorher auf jeden Fall den Pappkarton mit den Steinen entsorgen, denn zusätzliches Gewicht belastet nur beim Aufstieg.

 

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Kaiser im Lehnstuhl

Eine Kollegin erzählte mir, sie habe an einem Geburtstagsfest des 86jährigen Joachim Kaiser teilgenommen. Im Haus wäre es dem Anlass entsprechend laut zugegangen, die BesucherInnen hätten sich unterhalten, gelacht und so das Haus mit Leben erfüllt. Der legendäre Musikkritiker hingegen sei – ganz unbeeindruckt von all dem Geschehen rundherum – in einem Lehnstuhl gesessen und habe in Stefan Zweigs Autobiographie „Die Welt von Gestern“ gelesen.

Symbolträchtiger lässt sich ein „Bei lebendigem Leib aus der Welt treten“ kaum darstellen als mit einem, der ein Leben lang auf der Suche nach Kunst war und sich am Ende seines Lebens aus der realen Zeit nimmt und im Gedanken dorthin zurückkehrt, wo das eigene Leben seinen umtriebigen Ausgang genommen hat. Das ist im Einzelfall berührend und könnte doch darüber hinaus einen grundsätzlichen Wandel im Umgang mit Kunst – im Fall Kaisers insbesondere mit Musik – zum Ausdruck bringen, der erst im direkten Vergleich von Einst und Jetzt in seinem vollen Ausmaß fass- und begreifbar wird.

„Denn unsere Fähigkeit zum Enthusiasmus war grenzenlos“

Stephan Zweig erzählt in seinen Erinnerungen von seiner Schulzeit in Wien, einer Stadt, die mit ihren Theatern, Museen, Buchhandlungen, Universitäten und ihrer Musik „voll tausendfältiger Anregungen und Überraschungen“ gewesen sei. Während er und sein Mitschüler den schulischen Unterricht als weitgehend langweilig und störend erlebt hätten, wären sie außerhalb der Schule von einer unzähmbaren Neugierde und Leidenschaft  gegenüber dem vielfältigen Kulturangebot getrieben gewesen; Eigenschaften, die sich als „eine Art Infektionsphänomen“ zunehmend auf alle seine Mitschüler übertragen hätten. Und so war Zweig mit seinen kulturellen Ambitionen nicht allein, wenn er eine „natürliche Begeisterung für Theater, Literatur und Kunst“ nahezu aller Stadtbewohner konstatiert: „Wie ein Fieber war es über uns gekommen, alles zu wissen, alles zu kennen, was sich auf allen Gebieten der Kunst und der Wissenschaft ereignete….Wir besuchten alle Kunstausstellungen, wir gingen in die Hörsäle der Anatomie, um Sektionen anzusehen…Wir schlichen uns in die Proben der Philharmoniker, stöberten bei den Antiquaren…Und vor allem, wir lasen, wir lasen, was uns zu Händen kam“.

Es mag sein, dass Stephan Zweig seine kulturelle Initiation im Licht seines späteren literarischen Erfolges etwas beschönigt. Und doch weist er in seinem Bericht einer umfassenden kulturellen Durchtränktheit Wiens auf noch zwei weitere bemerkenswerte Besonderheiten hin. Da ist zum einen die Behauptung, dass nicht nur er als Abkömmling privilegierter bildungsbürgerlicher Kreise Kultur als unmittelbaren Lebensinhalt erfahren, sondern dass das kulturelle Angebot als ein „Kollektivbesitz“ viel weitere Kreise in ihren Bann gezogen habe. Zweig schildert in diesem Zusammenhang den untröstlichen Schmerz der Köchin der Familie über den Tod der Burgtheaterschauspielerin Charlotte Wolter. Und da ist zum anderen der unstillbare Hunger nach dem Neuen als Mittel des gegenseitigen Ansporns: „…denn etwas Fremdes nicht zu kennen, das ein anderer kannte, empfanden wir als eine Herabsetzung; gerade das Letzte, das Neueste, das Extravaganteste, das Ungewöhnliche, das noch niemand – und vor allem nicht die offizielle Literaturkritik unserer würdigen Tagesblätter – breitgetreten hatte, das Entdecken und Voraussein war unsere Leidenschaft…Just was noch nicht allgemein anerkannt war zu kennen, das schwer Zugängliche, das Verstiegene, das Neuartige und Radikale provozierte unsere besondere Liebe; nichts war darum so verborgen, so abseitig, dass es unsere kollektive, sich gierig überbietende Neugier nicht aus seinem Versteck herausholte“. Und folglich stürmten der halbwüchsige Zweig und seine Freunde die Konzerte Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs und verschlangen Veröffentlichungen damals noch weitgehend unbekannter Autoren wie Rilke, Baudelaire, Whitman oder Valéry, oder besuchten Aufführungen von Gerhart Hauptmann.

Es wird sie auch heute noch geben, die jungen Menschen, die sich voll Leidenschaft mit den jeweils aktuellsten künstlerischen und literarischen Strömungen auseinander setzen und Wien wird – zumal von außen – nach wie vor als ein Eldorado eines vielfältigen kulturellen Angebotes gesehen. Was aber für immer verloren gegangen ist, das ist die von Zweig in beredten Worten geschilderte Durchdringung des Lebens mit einer Kulturproduktion, die das Denken und Fühlen breiter Teile der Bevölkerung unmittelbar zu berühren und zu beeinflussen vermochte: „Und was im Theater geschah, betraf individuell jeden einzelnen, sogar den, der damit gar keinen direkten Zusammenhang hatte“. Beste Voraussetzungen also, um junge Menschen in die Welt der Kunst einzuführen und in ihnen als lebensbegleitenden Wert zu verankern.

Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, die Wirkungen einer solchen Begeisterung mit wissenschaftlichen Methoden messen zu wollen; dass Kunst das Leben in all seinen Facetten mitbestimmte, lag völlig auf der Hand. Wie auch anders: die jungen Menschen, die Zweig schildert waren Tag und Nacht mit Kunst; Musik und Literatur befasst. Sie wollten sich dabei in ihren Ansprüchen nicht auf die zumeist trögen Angebote der Schule reduzieren lassen. Ihnen ging es um Mitwirkung am wahren, am echten kulturellen Leben, nicht um das Erreichen irgendwelcher Bildungsziele. Mit auch noch so gut begründeten Argumenten zur Notwendigkeit von Kunst brauchte ihnen (und wohl auch ihren Eltern) niemand zu kommen; sie selbst waren in ihrem Sosein der unmittelbare Ausdruck einer solchen Notwendigkeit.

Das war vor mehr als hundert Jahren. In der Zwischenzeit ist viel passiert; u.a. scheint mit der Vervielfältigung von Lebensentwürfen die unmittelbare Einsicht in die Notwendigkeit dessen, was Menschen wie Zweig (und wohl auch noch Kaiser) als Leidenschaft für die Kunst das Leben überhaupt erst lebenswert hat erscheinen lassen weitgehend abhanden gekommen zu sein. Kurz: Kunst ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Sie ist ein Freizeitangebot unter vielen anderen und bedarf so völlig neuer Begründungszusammenhänge.

Die Konsequenzen erleben wir in den oft verzweifelten Versuchen der aktuellen kulturellen Bildung- und Vermittlungsszenen, im Diskurs der herrschenden (neoliberalen) Wertvorstellungen nachvollziehbare Argumente beizubringen, um das eigene Tun zu legitimieren. Nicht mehr die Leidenschaft für die Sache der Kunst steht im Mittelpunkt sondern das Versprechen auf einen möglichst unmittelbar feststellbaren Nutzen, der sich aus der Beschäftigung mit ihr ergeben sollen. Dabei wird der Kunst eine Funktion zugeschrieben, deren Erfolg nicht mehr darin besteht, sie zu erkennen und zu durchdringen (Zweig und Kaiser hätten sich nicht gescheut, in dem Zusammenhang das Wort „Geist“ zu verwenden) sondern die damit Befassten besser mit den Fährnissen des Lebens umgehen zu lassen (wobei die spezifische Unfähigkeit von KünstlerInnen, das Leben auch nur halbwegs zu meistern, gerne ausgeblendet bleibt).

Als Kunst (und gleich dazu auch Bildung) hinter den Kulissen der Effizienzforschung verschwanden

Seinen besonderen Ausdruck  findet dieser Paradigmenwechsel im Umgang in der Häufung von Beauftragungen von Studien zur Wirkung kultureller Bildung, die möglichst empirisch nachvollziehbar belegen sollen, dass Bildung im Medium der Künste (Literatur, Theater, Musik, bildende Kunst, Tanz, Film, neue Medien) gesellschaftlich zur Zeit als positiv angesehene Effekte vor allem bei Kindern und Jugendlichen hat. (In diesem Zusammenhang hat der deutsche Rat für Kulturelle Bildung jüngst ein eigenes Forschungsprogramm in der Höhe von immerhin 1,2 Mio. Euro aufgelegt, um die Wirkungen von kultureller Bildung auf die Persönlichkeitsbildung besser verstehen zu lernen). Es liegt auf der Hand, dass Zweig den Ergebnissen nur wenig abgewonnen hätte;  immerhin hatte er in Bezug auf Schule überhaupt keine Erwartungen, dafür umso mehr in Bezug auf den unmittelbaren Umgang mit der Kunst, und zwar der jeweils neuesten und kontroversiellsten selbst.

Jetzt aber dominiert eine ganz andere Sichtweise auf das, was Zweig umgetrieben hat. Der Wert der Kunst spielt da in der Regel überhaupt keine Rolle mehr (die wenigsten VertreterInnen pflegen selbst Umgang mit Gegenwartskunst und wissen sich auch im Recht, darauf verzichten zu können). Kunst zählt nur insofern als sie als Dienstleisterin in der Lage ist, einer umfassenden Nutzenorientierung zu dienen. Ihrer Logik folgend, kann nur das als werthaltig begriffen werden, was sich als Wirkung darstellen lässt. Dementsprechend rückt das, um das es eigentlich geht (in unserem Fall die Kunst) solange in den Hintergrund bis sie möglichst vollständig von der gewünschten Wirkung verdeckt wird. Kein Wunder, wenn in der Folge nicht mehr von der Kunst, dafür umso mehr von der Qualität der Nachweisbarkeit von Wirkungen die Rede ist.

Eine solche Rede fügt sich wesentlich besser ein in eine aktuell dominierende Effektivitätsforschung in der Kultur- ebenso wie in der Bildungspolitik, die darauf abstellt, induktiv auf der Basis von Schülerleistungen die Effektivität der Institution Schule empirisch zu modellieren. In Analogie zur oben skizzierten Hausse der Wirkungsforschung im Kunstbereich meint auch sie, unter weitgehender Vermeidung einer entsprechenden theoretischen Grundlegung dessen, um was es in der Schule geht, mit der Beschreibung eines nachweisbaren Nutzens dessen, was zunehmend hinter den Kulissen der Forschung verschwindet, das Auslangen zu finden.  Um im Bild neoliberaler IdeologInnen zu bleiben, ist dabei das „scheue Reh“ der Bildung längst hinter den Kulissen der Forschungsbühne verschwunden. Dort sind alle vollauf damit beschäftigt, von jeglichen Bildungskonzepten losgelöste und doch klar definierbare Leistungen der SchülerInnen darstellbar zu machen. Ob bei den Lernenden zumindest noch ein Rest an Leidenschaft ausgemacht werden kann, ist da schon lange kein Thema mehr.

Wir nehmen alles – Hirnforschung als Hoffnungsanker und Ausdruck des Verlustes eigenständiger Haltung

Diese Vermeidungsstrategie, noch einmal zum Kern dessen, was einerseits Kunst und anderseits Bildung ausmacht, vorzudringen, erhöht den Bedarf, sich wenn schon nicht aus eigener Kraft so doch mit externer Hilfe zu legitimieren. Als verlockend haben sich zuletzt die Versuche erwiesen, mit trendigen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Hirnforschung neue Allianzen einzugehen. Als Wissenschaft mit aktuell besonders hohem Prestige soll sie mithelfen, gute Gründe für die Beschäftigung mit Kunst zu finden, die auch von denjenigen verstanden werden, die ansonsten mit Kunst gar nichts am Hut haben. Dass damit auch Kunst ins Fahrwasser eines zur Zeit „en voguen“ Biologismus gerät, der jeglicher kulturellen Äußerung eine möglichst eindeutige physische Zuschreibung zumutet, wird dabei mehr naiv als in vollem Bewusstsein der Konsequenzen in Kauf genommen.

Verloren geht bei all dem das Wissen, dass der besondere Reiz der Kunst nicht in seinem Nutzen (und auch nicht in seiner physischen Verortung in einer besonderen Hirnregion), sondern im Ungeplanten und Ungeklärten liegt. Und doch ist es gerade diese Qualität, die die Ahnung eines nicht beliebig vorherbestimmbaren, offenen Lebens aufrechterhält. Angesichts der zunehmend chaotischen Lebensumstände, denen immer mehr Menschen ausgesetzt sind, würde sich Kunst in besonderer Weise eignen, sich mit ihr auseinanderzusetzen und mit ihr das Leben als das zu begreifen, was es ist, als ein unauslotbares, manchmal furchtbares, manchmal wunderbares Reservoir an Möglichkeiten, die Welt und sich darin zu erfahren. Die derzeit beobachtbaren Tendenzen, die der Schule die Funktion einer umfassenden Nutzenmaschine unter effizienzorientierter wissenschaftlicher Beobachtung zuweisen, führen in die fundamental andere Richtung. 

Alle Befürworter solch wissenschaftlich gestützter Vernutzungsphantasien seien angesichts der aktuellen Ausstellung über Leonardo da Vincis Schaffen im Rahmen der Mailänder Weltausstellung noch einmal an Tradition erinnert, die sich einer solchen Engführung von Leben verweigert. Immerhin ist es gerade da Vinci, der mit seinem universellen, Kunst und Wissenschaft verknüpfenden Erkenntnisdrang dem Anspruch auf Selbstwert des künstlerischen Schaffens in unübertrefflicher Weise Gültigkeit verschafft: „Nichts festhalten und alles notieren, nichts festzurren und doch jedes Ding der Welt in seiner Eigenart bestimmen“.

Als in seinem Lehnstuhl in der „Welt von Gestern“ lesend, repräsentiert Joachim Kaiser die Erinnerung an ein durchaus eigenmächtiges Old-Boys-Network, die sich – präpotent wie sie waren – in ihrem täglichen Umgang mit Kunst immer schon im Besitz von Kultur wussten (und damit uneingeschränkte Autorität in ihren künstlerischen Urteilen beanspruchten). Über aktuelle Ergebnisse der Wirkungsforschung im Kunstbereich hätten sie rasch ein entsprechendes Urteil übrig und wohl auch der Hirnforschung würden sie den guten Rat geben, bei ihrem Leisten zu bleiben und nicht mit völlig ungeeigneten Mitteln in fremdem Terrain zu wildern.

Und doch: Im Bild des Geburtstagsfestes bleibend, erreicht die selbstgewissen Kulturvermittler von einst das aufgeregte Stimmengewirr nicht mehr, das mit aller Kraft davon abzulenken versucht, dass es den Bezug zu dem verloren hat, was Kunst (und damit auch Bildung) als individueller ebenso wie kollektiver Wert einst ausgemacht hat.

Die Welt Stefan Zweigs ist uns unwiderruflich abhanden gekommen – aber eine neue zeichnet sich nicht ab

Das heißt nicht, dass es heute keine enthusiastischen jungen Menschen gäbe und sie keinen kulturellen Erfahrungshunger mehr hätten. Es ist ein verbindendes kulturelles Selbstverständnis selbst, auf das Zweig noch unmittelbar setzen konnte, das heute in die Brüche gegangen ist und in entsprechend fragmentierter Weise ihre Leidenschaften bestimmt. Also sind ihre Heros nicht mehr die Schönbergs und Rilkes von heute sondern Namen und Genres, von denen BeforscherInnen der kulturellen Bildung (und wohl auch weite Teile des traditionellen Kulturbetriebs) noch nie etwas gehört haben. Also werden wir von ihnen nichts über das kulturelle Selbstverständnis der ihnen Anvertrauten erfahren. Und es ist auch nicht zu vermuten, dass es LehrerInnen (anders als vor hundert Jahren) noch einmal gelingt, die kulturellen Interessen der Lernenden in ihren Unterricht zu integrieren. So könnte es sein, dass wir warten werden müssen, bis einer von ihnen im literarischen Rang eines Stefan Zweig irgendwann in den nächsten hundert Jahren eine weitere Autobiographie schreibt, um zu erfahren, was die jungen Leute heute kulturell umgetrieben hat.

In der Zwischenzeit könnten wir mit der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz für einen Moment innehalten und den Wirkungen ihrer Äußerung nachspüren:  „Poesie stellt eine komplexere Wahrheit dar als Wissenschaft“.

Bildnachweis: reading on the roof ©Raul Lieberwirth @ flickr.com