Kaiser im Lehnstuhl

Eine Kollegin erzählte mir, sie habe an einem Geburtstagsfest des 86jährigen Joachim Kaiser teilgenommen. Im Haus wäre es dem Anlass entsprechend laut zugegangen, die BesucherInnen hätten sich unterhalten, gelacht und so das Haus mit Leben erfüllt. Der legendäre Musikkritiker hingegen sei – ganz unbeeindruckt von all dem Geschehen rundherum – in einem Lehnstuhl gesessen und habe in Stefan Zweigs Autobiographie „Die Welt von Gestern“ gelesen.

Symbolträchtiger lässt sich ein „Bei lebendigem Leib aus der Welt treten“ kaum darstellen als mit einem, der ein Leben lang auf der Suche nach Kunst war und sich am Ende seines Lebens aus der realen Zeit nimmt und im Gedanken dorthin zurückkehrt, wo das eigene Leben seinen umtriebigen Ausgang genommen hat. Das ist im Einzelfall berührend und könnte doch darüber hinaus einen grundsätzlichen Wandel im Umgang mit Kunst – im Fall Kaisers insbesondere mit Musik – zum Ausdruck bringen, der erst im direkten Vergleich von Einst und Jetzt in seinem vollen Ausmaß fass- und begreifbar wird.

„Denn unsere Fähigkeit zum Enthusiasmus war grenzenlos“

Stephan Zweig erzählt in seinen Erinnerungen von seiner Schulzeit in Wien, einer Stadt, die mit ihren Theatern, Museen, Buchhandlungen, Universitäten und ihrer Musik „voll tausendfältiger Anregungen und Überraschungen“ gewesen sei. Während er und sein Mitschüler den schulischen Unterricht als weitgehend langweilig und störend erlebt hätten, wären sie außerhalb der Schule von einer unzähmbaren Neugierde und Leidenschaft  gegenüber dem vielfältigen Kulturangebot getrieben gewesen; Eigenschaften, die sich als „eine Art Infektionsphänomen“ zunehmend auf alle seine Mitschüler übertragen hätten. Und so war Zweig mit seinen kulturellen Ambitionen nicht allein, wenn er eine „natürliche Begeisterung für Theater, Literatur und Kunst“ nahezu aller Stadtbewohner konstatiert: „Wie ein Fieber war es über uns gekommen, alles zu wissen, alles zu kennen, was sich auf allen Gebieten der Kunst und der Wissenschaft ereignete….Wir besuchten alle Kunstausstellungen, wir gingen in die Hörsäle der Anatomie, um Sektionen anzusehen…Wir schlichen uns in die Proben der Philharmoniker, stöberten bei den Antiquaren…Und vor allem, wir lasen, wir lasen, was uns zu Händen kam“.

Es mag sein, dass Stephan Zweig seine kulturelle Initiation im Licht seines späteren literarischen Erfolges etwas beschönigt. Und doch weist er in seinem Bericht einer umfassenden kulturellen Durchtränktheit Wiens auf noch zwei weitere bemerkenswerte Besonderheiten hin. Da ist zum einen die Behauptung, dass nicht nur er als Abkömmling privilegierter bildungsbürgerlicher Kreise Kultur als unmittelbaren Lebensinhalt erfahren, sondern dass das kulturelle Angebot als ein „Kollektivbesitz“ viel weitere Kreise in ihren Bann gezogen habe. Zweig schildert in diesem Zusammenhang den untröstlichen Schmerz der Köchin der Familie über den Tod der Burgtheaterschauspielerin Charlotte Wolter. Und da ist zum anderen der unstillbare Hunger nach dem Neuen als Mittel des gegenseitigen Ansporns: „…denn etwas Fremdes nicht zu kennen, das ein anderer kannte, empfanden wir als eine Herabsetzung; gerade das Letzte, das Neueste, das Extravaganteste, das Ungewöhnliche, das noch niemand – und vor allem nicht die offizielle Literaturkritik unserer würdigen Tagesblätter – breitgetreten hatte, das Entdecken und Voraussein war unsere Leidenschaft…Just was noch nicht allgemein anerkannt war zu kennen, das schwer Zugängliche, das Verstiegene, das Neuartige und Radikale provozierte unsere besondere Liebe; nichts war darum so verborgen, so abseitig, dass es unsere kollektive, sich gierig überbietende Neugier nicht aus seinem Versteck herausholte“. Und folglich stürmten der halbwüchsige Zweig und seine Freunde die Konzerte Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs und verschlangen Veröffentlichungen damals noch weitgehend unbekannter Autoren wie Rilke, Baudelaire, Whitman oder Valéry, oder besuchten Aufführungen von Gerhart Hauptmann.

Es wird sie auch heute noch geben, die jungen Menschen, die sich voll Leidenschaft mit den jeweils aktuellsten künstlerischen und literarischen Strömungen auseinander setzen und Wien wird – zumal von außen – nach wie vor als ein Eldorado eines vielfältigen kulturellen Angebotes gesehen. Was aber für immer verloren gegangen ist, das ist die von Zweig in beredten Worten geschilderte Durchdringung des Lebens mit einer Kulturproduktion, die das Denken und Fühlen breiter Teile der Bevölkerung unmittelbar zu berühren und zu beeinflussen vermochte: „Und was im Theater geschah, betraf individuell jeden einzelnen, sogar den, der damit gar keinen direkten Zusammenhang hatte“. Beste Voraussetzungen also, um junge Menschen in die Welt der Kunst einzuführen und in ihnen als lebensbegleitenden Wert zu verankern.

Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, die Wirkungen einer solchen Begeisterung mit wissenschaftlichen Methoden messen zu wollen; dass Kunst das Leben in all seinen Facetten mitbestimmte, lag völlig auf der Hand. Wie auch anders: die jungen Menschen, die Zweig schildert waren Tag und Nacht mit Kunst; Musik und Literatur befasst. Sie wollten sich dabei in ihren Ansprüchen nicht auf die zumeist trögen Angebote der Schule reduzieren lassen. Ihnen ging es um Mitwirkung am wahren, am echten kulturellen Leben, nicht um das Erreichen irgendwelcher Bildungsziele. Mit auch noch so gut begründeten Argumenten zur Notwendigkeit von Kunst brauchte ihnen (und wohl auch ihren Eltern) niemand zu kommen; sie selbst waren in ihrem Sosein der unmittelbare Ausdruck einer solchen Notwendigkeit.

Das war vor mehr als hundert Jahren. In der Zwischenzeit ist viel passiert; u.a. scheint mit der Vervielfältigung von Lebensentwürfen die unmittelbare Einsicht in die Notwendigkeit dessen, was Menschen wie Zweig (und wohl auch noch Kaiser) als Leidenschaft für die Kunst das Leben überhaupt erst lebenswert hat erscheinen lassen weitgehend abhanden gekommen zu sein. Kurz: Kunst ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Sie ist ein Freizeitangebot unter vielen anderen und bedarf so völlig neuer Begründungszusammenhänge.

Die Konsequenzen erleben wir in den oft verzweifelten Versuchen der aktuellen kulturellen Bildung- und Vermittlungsszenen, im Diskurs der herrschenden (neoliberalen) Wertvorstellungen nachvollziehbare Argumente beizubringen, um das eigene Tun zu legitimieren. Nicht mehr die Leidenschaft für die Sache der Kunst steht im Mittelpunkt sondern das Versprechen auf einen möglichst unmittelbar feststellbaren Nutzen, der sich aus der Beschäftigung mit ihr ergeben sollen. Dabei wird der Kunst eine Funktion zugeschrieben, deren Erfolg nicht mehr darin besteht, sie zu erkennen und zu durchdringen (Zweig und Kaiser hätten sich nicht gescheut, in dem Zusammenhang das Wort „Geist“ zu verwenden) sondern die damit Befassten besser mit den Fährnissen des Lebens umgehen zu lassen (wobei die spezifische Unfähigkeit von KünstlerInnen, das Leben auch nur halbwegs zu meistern, gerne ausgeblendet bleibt).

Als Kunst (und gleich dazu auch Bildung) hinter den Kulissen der Effizienzforschung verschwanden

Seinen besonderen Ausdruck  findet dieser Paradigmenwechsel im Umgang in der Häufung von Beauftragungen von Studien zur Wirkung kultureller Bildung, die möglichst empirisch nachvollziehbar belegen sollen, dass Bildung im Medium der Künste (Literatur, Theater, Musik, bildende Kunst, Tanz, Film, neue Medien) gesellschaftlich zur Zeit als positiv angesehene Effekte vor allem bei Kindern und Jugendlichen hat. (In diesem Zusammenhang hat der deutsche Rat für Kulturelle Bildung jüngst ein eigenes Forschungsprogramm in der Höhe von immerhin 1,2 Mio. Euro aufgelegt, um die Wirkungen von kultureller Bildung auf die Persönlichkeitsbildung besser verstehen zu lernen). Es liegt auf der Hand, dass Zweig den Ergebnissen nur wenig abgewonnen hätte;  immerhin hatte er in Bezug auf Schule überhaupt keine Erwartungen, dafür umso mehr in Bezug auf den unmittelbaren Umgang mit der Kunst, und zwar der jeweils neuesten und kontroversiellsten selbst.

Jetzt aber dominiert eine ganz andere Sichtweise auf das, was Zweig umgetrieben hat. Der Wert der Kunst spielt da in der Regel überhaupt keine Rolle mehr (die wenigsten VertreterInnen pflegen selbst Umgang mit Gegenwartskunst und wissen sich auch im Recht, darauf verzichten zu können). Kunst zählt nur insofern als sie als Dienstleisterin in der Lage ist, einer umfassenden Nutzenorientierung zu dienen. Ihrer Logik folgend, kann nur das als werthaltig begriffen werden, was sich als Wirkung darstellen lässt. Dementsprechend rückt das, um das es eigentlich geht (in unserem Fall die Kunst) solange in den Hintergrund bis sie möglichst vollständig von der gewünschten Wirkung verdeckt wird. Kein Wunder, wenn in der Folge nicht mehr von der Kunst, dafür umso mehr von der Qualität der Nachweisbarkeit von Wirkungen die Rede ist.

Eine solche Rede fügt sich wesentlich besser ein in eine aktuell dominierende Effektivitätsforschung in der Kultur- ebenso wie in der Bildungspolitik, die darauf abstellt, induktiv auf der Basis von Schülerleistungen die Effektivität der Institution Schule empirisch zu modellieren. In Analogie zur oben skizzierten Hausse der Wirkungsforschung im Kunstbereich meint auch sie, unter weitgehender Vermeidung einer entsprechenden theoretischen Grundlegung dessen, um was es in der Schule geht, mit der Beschreibung eines nachweisbaren Nutzens dessen, was zunehmend hinter den Kulissen der Forschung verschwindet, das Auslangen zu finden.  Um im Bild neoliberaler IdeologInnen zu bleiben, ist dabei das „scheue Reh“ der Bildung längst hinter den Kulissen der Forschungsbühne verschwunden. Dort sind alle vollauf damit beschäftigt, von jeglichen Bildungskonzepten losgelöste und doch klar definierbare Leistungen der SchülerInnen darstellbar zu machen. Ob bei den Lernenden zumindest noch ein Rest an Leidenschaft ausgemacht werden kann, ist da schon lange kein Thema mehr.

Wir nehmen alles – Hirnforschung als Hoffnungsanker und Ausdruck des Verlustes eigenständiger Haltung

Diese Vermeidungsstrategie, noch einmal zum Kern dessen, was einerseits Kunst und anderseits Bildung ausmacht, vorzudringen, erhöht den Bedarf, sich wenn schon nicht aus eigener Kraft so doch mit externer Hilfe zu legitimieren. Als verlockend haben sich zuletzt die Versuche erwiesen, mit trendigen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Hirnforschung neue Allianzen einzugehen. Als Wissenschaft mit aktuell besonders hohem Prestige soll sie mithelfen, gute Gründe für die Beschäftigung mit Kunst zu finden, die auch von denjenigen verstanden werden, die ansonsten mit Kunst gar nichts am Hut haben. Dass damit auch Kunst ins Fahrwasser eines zur Zeit „en voguen“ Biologismus gerät, der jeglicher kulturellen Äußerung eine möglichst eindeutige physische Zuschreibung zumutet, wird dabei mehr naiv als in vollem Bewusstsein der Konsequenzen in Kauf genommen.

Verloren geht bei all dem das Wissen, dass der besondere Reiz der Kunst nicht in seinem Nutzen (und auch nicht in seiner physischen Verortung in einer besonderen Hirnregion), sondern im Ungeplanten und Ungeklärten liegt. Und doch ist es gerade diese Qualität, die die Ahnung eines nicht beliebig vorherbestimmbaren, offenen Lebens aufrechterhält. Angesichts der zunehmend chaotischen Lebensumstände, denen immer mehr Menschen ausgesetzt sind, würde sich Kunst in besonderer Weise eignen, sich mit ihr auseinanderzusetzen und mit ihr das Leben als das zu begreifen, was es ist, als ein unauslotbares, manchmal furchtbares, manchmal wunderbares Reservoir an Möglichkeiten, die Welt und sich darin zu erfahren. Die derzeit beobachtbaren Tendenzen, die der Schule die Funktion einer umfassenden Nutzenmaschine unter effizienzorientierter wissenschaftlicher Beobachtung zuweisen, führen in die fundamental andere Richtung. 

Alle Befürworter solch wissenschaftlich gestützter Vernutzungsphantasien seien angesichts der aktuellen Ausstellung über Leonardo da Vincis Schaffen im Rahmen der Mailänder Weltausstellung noch einmal an Tradition erinnert, die sich einer solchen Engführung von Leben verweigert. Immerhin ist es gerade da Vinci, der mit seinem universellen, Kunst und Wissenschaft verknüpfenden Erkenntnisdrang dem Anspruch auf Selbstwert des künstlerischen Schaffens in unübertrefflicher Weise Gültigkeit verschafft: „Nichts festhalten und alles notieren, nichts festzurren und doch jedes Ding der Welt in seiner Eigenart bestimmen“.

Als in seinem Lehnstuhl in der „Welt von Gestern“ lesend, repräsentiert Joachim Kaiser die Erinnerung an ein durchaus eigenmächtiges Old-Boys-Network, die sich – präpotent wie sie waren – in ihrem täglichen Umgang mit Kunst immer schon im Besitz von Kultur wussten (und damit uneingeschränkte Autorität in ihren künstlerischen Urteilen beanspruchten). Über aktuelle Ergebnisse der Wirkungsforschung im Kunstbereich hätten sie rasch ein entsprechendes Urteil übrig und wohl auch der Hirnforschung würden sie den guten Rat geben, bei ihrem Leisten zu bleiben und nicht mit völlig ungeeigneten Mitteln in fremdem Terrain zu wildern.

Und doch: Im Bild des Geburtstagsfestes bleibend, erreicht die selbstgewissen Kulturvermittler von einst das aufgeregte Stimmengewirr nicht mehr, das mit aller Kraft davon abzulenken versucht, dass es den Bezug zu dem verloren hat, was Kunst (und damit auch Bildung) als individueller ebenso wie kollektiver Wert einst ausgemacht hat.

Die Welt Stefan Zweigs ist uns unwiderruflich abhanden gekommen – aber eine neue zeichnet sich nicht ab

Das heißt nicht, dass es heute keine enthusiastischen jungen Menschen gäbe und sie keinen kulturellen Erfahrungshunger mehr hätten. Es ist ein verbindendes kulturelles Selbstverständnis selbst, auf das Zweig noch unmittelbar setzen konnte, das heute in die Brüche gegangen ist und in entsprechend fragmentierter Weise ihre Leidenschaften bestimmt. Also sind ihre Heros nicht mehr die Schönbergs und Rilkes von heute sondern Namen und Genres, von denen BeforscherInnen der kulturellen Bildung (und wohl auch weite Teile des traditionellen Kulturbetriebs) noch nie etwas gehört haben. Also werden wir von ihnen nichts über das kulturelle Selbstverständnis der ihnen Anvertrauten erfahren. Und es ist auch nicht zu vermuten, dass es LehrerInnen (anders als vor hundert Jahren) noch einmal gelingt, die kulturellen Interessen der Lernenden in ihren Unterricht zu integrieren. So könnte es sein, dass wir warten werden müssen, bis einer von ihnen im literarischen Rang eines Stefan Zweig irgendwann in den nächsten hundert Jahren eine weitere Autobiographie schreibt, um zu erfahren, was die jungen Leute heute kulturell umgetrieben hat.

In der Zwischenzeit könnten wir mit der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz für einen Moment innehalten und den Wirkungen ihrer Äußerung nachspüren:  „Poesie stellt eine komplexere Wahrheit dar als Wissenschaft“.

Bildnachweis: reading on the roof ©Raul Lieberwirth @ flickr.com

Abschlusspräsentation „work::sounds“ 2014/15

Wie klingt die Produktion einer Zeitschrift? Welche Geräusche prägen das Arbeitsumfeld einer IT-Abteilung? Was hört ein*e Netzwerktechniker*in während des Dienstes?

Im Auftrag der Arbeiterkammer Wien wurde „work::sounds – Wie klingt die Arbeitswelt?“ im Schuljahr 2014/15 aufgrund des großen Erfolgs bereits zum dritten Mal von EDUCULT durchgeführt. Bei diesem musikvermittelnden Projekt zur beruflichen Orientierung durchleuchteten Wiener HTL-Schüler*innen mit Werkzeugen der ästhetischen Forschung verschiedene technische Betriebe und produzierten mit den gesammelten Materialien experimentelle Video-Clips.

Diese werden im Mai im Bildungszentrum (BIZ) der Wiener AK einem breiten Publikum vorgeführt und mitwirkende Schüler*innen und Vertreter*innen von Unternehmen erzählen, welche Erkenntnisse sie persönlich in diesem Projekt erfahren haben. Auch eine musikalische Überraschung erwartet die Gäste dieser Veranstaltung – wir freuen uns über zahlreiches Erscheinen!

 

Wann: Mittwoch 13. Mai 2015, 09:00-11:00

Wo: BIZ der AK Wien (Großer Saal), Theresianumgasse 16, 1040 Wien

Begrüßung: Melitta Aschauer-Nagl | AK Wien

Moderation: Barbara Semmler | EDUCULT

Highlights: Live-Acts mit Ronald Pfisterer | Glutamat & Marco Kleebauer | Karma Art

 

 

work::sounds - Wie klingt die Arbeitswelt 2014/15

Created with flickr slideshow.

 

An „work::sounds“ 2014/15 mitwirkende Unternehmen:

 

Teilnehmende Klassen an der Workshopreihe „work::sounds“:

 

Teilnehmende Klassen am Workshop „REMIX work::sounds“:

 

Nähere Informationen zum Projekt mit allen Video-Clips und Foto-Dokumentationen: work::sounds 2014/15

Zwischen Herumirren und Abseitsstehen

2012 war EDUCULT eingeladen, eine Evaluierung des Kunst- und Kulturprogramms des von George Soros betriebenen Open Society Institutes vorzunehmen. Das Unternehmen führte mich u.a. nach Kirgistan und Kasachstan, damit in Länder Zentral-Asiens, über die ich zugegeben bislang kaum etwas wusste. Unverständlich eigentlich, ähnelt die grandiose Landschaft Kirgistans doch in vielem der Österreichs (was es mittlerweile zu einem Wanderparadies für Touristen aus aller Welt macht) und Kasachstan ist immerhin der neuntgrößte Flächenstaat der Erde; aus der Sicht des bornierten Mitteleuropäers handelt es sich – geographische Zentralität im Herzen Asiens hin oder her – um einen peripheren Ort, der bestenfalls anhand der  dubiosen Todesumstände des Schwiegersohns des Präsidenten Nursultan Nasarbajew Rachat Alijew in einem Wiener Gefängnis ins öffentliche Bewusstsein rückt.

Peripherie als Ausdruck einer Suchbewegung

Das mit der Bezeichnung „Peripherie“ ist so eine Sache. In meinem Fall steht sie wohl zuallererst als Ausdruck für eine mehr oder weniger typische Unkenntnis eines Österreichers und damit dessen erziehungsbedingte und doch selbstverschuldete Ignoranz. Die ursprüngliche, aus dem Griechischen stammende Wortbedeutung erzählt von einer Suchbewegung, meint ein mehr oder weniger absichtsloses „Herumtragen“ bzw. ein „Sich Herumdrehen“. Erst ein späterer Sprachgebrauch verweist auf örtliche Gegebenheiten oder auch inhaltliche Sachverhalte, die dadurch charakterisiert sind, dass sie für den Sprecher außerhalb eines Kernbereichs stehen. „Peripherie“ verweist damit auf etwas, das sich am Rand von etwas anderem befindet, nicht mehr auf eine Umgehung, sondern auf eine Umgebung von etwas anderem. Der Begriff der „Peripherie“ kommt also ohne ein vordefiniertes Gegenüber nicht aus. Es braucht ein Zentrum, ohne dieses sein Umfeld bzw. sein Rand erst gar nicht gedacht werden kann. Mit dieser Verschiebung wird auch klar, dass die schiere Wortverwendung „Peripherie“ gar keinen Sinn ergibt. Es ist immer das Zentrum, dessen SprecherInnen darüber verfügen, was mit dieser oder jener mit dem Begriff der „Peripherie“ – und sei es mitten in Zentral-Asien – bezeichnet werden will.

Symposium „Peripherie.Macht.Kulturpolitik“ am 22.4. im Heiligenkreuzer Hof in Wien

Diese Überlegungen bildeten die Ausgangspunkt für die Vorbereitung eines internationalen kulturpolitischen Symposiums „Peripherie.Macht.Kulturpolitik“, das am 22. April im Heiligenkreuzer Hof der Universität für angewandte Kunst in Wien stattfinden wird. Es ist diese die logische Fortsetzung einer Veranstaltung im Vorjahr, die sich mit der wachsenden kulturpolitischen Bedeutung von Städten und damit verbundenen Zentralisierungstendenzen beschäftigt hat. Offen blieb damals die Frage, was mit all dem passiert, was außerhalb dieser Zentren stattfindet bzw. ob wachsende Zentralisierung eines Teils der Welt eine ebenso wachsende Peripherisierung des anderen mit sich bringt und wenn ja, welche Antworten Kulturpolitik darauf hat.

Zentrum ist ohne Peripherie nicht zu haben – und umgekehrt

Dem Befund des US-amerikanischen Sozialhistorikers Immanuel Wallerstein – insbesondere seiner Analyse des Weltsystems nach – ist die Vorstellung von „Peripherie“ eng auf einen hegemonialen Zusammenhang bezogen. Ausgangspunkt ist ihm eine Dependenztheorie, wonach „Peripherie“ nicht für sich stehen kann, sondern sich nur als ein notwendiges Komplement jeglicher Zentrumsentwicklungen erschließt. Damit befinden sich Peripherien in einer asymmetrischen Abhängigkeit zu den Orten, die sie definieren. Entsprechend bedarf es großer (kultur-)politischer Anstrengungen, um aus den damit verbundenen (in der Regel) externen Zuschreibungen auszubrechen (In diesem Zusammenhang sei an das aktuelle Verhältnis eines starken Deutschlands als europäischem Zentrum und Griechenlands – das im Übrigen politisch in 13 Peripherien organisiert ist – als sein peripheres Komplement samt der Unmöglichkeit, dieser ungleichen Rollenverteilung zu entkommen, erinnert).

Mir wurde dieser Umstand unmittelbar bewusst, als ich in Zentralasien die nach wie vor dominanten Reste einer sowjetischen kulturellen Infrastruktur vorgefunden habe, die ursprünglich darauf gerichtet waren, eine vorrangig nomadische Bevölkerung in Form von Opernhäusern, Theatern und Museen auf einen modernen europäischen Kulturbegriff zu verpflichten. Diese manifesten kulturellen Kolonisierungsversuche machen es einer jungen Generation von KünstlerInnen selbst nach dem Niedergang des sowjetischen Imperiums bis heute schwer, zu „eigenen“ künstlerischen Aussagen zu kommen, die über staatlich primär geförderte, nostalgische Rekonstruktionsversuche einer vermeintlich autochthonen Folklore hinausweisen würden.

Modernität als Synonym für die Aufspaltung der Welt in herrschende Zentren und beherrschte Peripherien?

Meine  Vermutung geht in die Richtung, dass Vorstellungen von „Modernität“ nach wie vor eine wichtige Triebkraft wachsender Zentralisierung darstellen. Diese Form des Euro-Zentrismus hält das Versprechen aufrecht, die Mitwirkung an universeller Modernisierung führe quasi automatisch dazu, traditionelle Gegensätze von Zentrum und Peripherie zu eliminieren. Eine darauf basierende Technokratie der Macht würde früher oder später alle und alles in den Sog zentraler Errungenschaften geraten lassen. Unterbelichtet blieb in dieser Weltanschauung die Wirksamkeit einer ungebrochenen kapitalistischen Konkurrenzlogik, die unabdingbar auf den Fortbestand (wenn nicht sogar auf der permanenten Verschärfung) von Ungleichheit, die den Fortbestand von Gegensätzen wie zwischen Drinnen und Draußen, Oben und Unten, Sieger und Verlierer und so auch zwischen Zentrum und Peripherie sicherstellt.

Aber Achtung: Das Ende der Modernität bedeutet nicht schon das Ende von Ungleichheit, eher das Gegenteil

Apologeten von Postmodernität versuchen diesen systemimmanenten Widerspruch zumindest zu relativieren, wenn sie sich von einem Glauben an ein dominantes Zentrum verabschieden und statt dessen eine neue Vielfalt von scheinbar bezugslosen, nebeneinander stattfindenden und allesamt gleichberechtigen Entwicklungen propagieren. Unter wechselnden Titeln wie Diversität und Pluralität werden Peripherien aller Art eingeladen, sich von ihren jeweiligen Zentren zu emanzipieren und – unter Rückbesinnung auf die ursprüngliche Wortbedeutung – sich „herumdrehend“ auf ihren eigenen Weg des zu machen.  Spätestens mit den aktuellen Krisenerscheinungen wurde deutlich, dass es sich dabei – zumindest auch – um ein gesellschaftliches Verdummungskonzept handelt, dass vor allem KrisenverliererInnen darüber hinwegtäuschen soll, dass auf Grund einer sich verschärfenden Ungleichheit und damit verbundener Entscheidungsmacht Dependenz nach wie vor ihre Macht entfaltet und die Zugehörigkeit zu Zentrum oder zu Peripherie mehr denn je über die Zuweisung unterschiedlicher Chancen entscheidet.

Wider die Eindeutigkeit von Zuschreibungen

Dass die hier angedeuteten Verhältnisse freilich nicht so eindeutig sind, zeigt sich am Umstand, dass manches, das von den einen (noch) als peripher eingeschätzt von anderen bereits als von zentraler Bedeutung erkannt wird. Wie anders ist es etwa zu verstehen, wenn der Nigerianer Okwui Enwezor, heute Leiter des Hauses der Kunst in München, zu einer führenden Figur des internationalen Kunstbetriebes werden konnte, während sich sein Heimatland noch keinen zentralen Platz auf dessen Landkarte zu erobern vermocht hat (In der Zeit als Leiter der dokumenta 11 (1998 – 2002) bemühte er sich in besonderer Weise, global künstlerische Peripherien ins Licht eines neugierigen Zentrums zu rücken).

Zu lernen ist daraus, dass was peripher ist, sehr schnell von zentraler Bedeutung sein kann – und umgekehrt. Das mag auch daran liegen, dass selbstreferentiellen Zentren rasch der Treibstoff ausgeht, wenn sie nicht permanent mit Innovationen aus der Peripherie gefüttert werden. Man muss nicht Anhänger der Kritischen Theorie sein, deren Vertreter die These vertreten haben, politische Änderungen würden notwendig von der Peripherie ausgehen. Es genügt, den laufenden Kunstbetrieb zu beobachten, der darauf  angewiesen scheint, immer neue Aktionsfelder zu explorieren und zu exploitieren, um so den unersättlichen Hunger eines neuigkeitssüchtigen Publikums zu befriedigen.  Im Gegenzug finden sich Initiativen, die sich selbst den Charakter des Peripheren zuschreiben wohl nicht nur, um sich selbst zu stigmatisieren, sondern wohl auch in der Hoffnung, ihren Anspruch auf Eigensinnigkeit als Voraussetzung gesellschaftlicher Wirksamkeit, abseits der auf Zentralität gerichteten Markterfordernisse, aufrecht erhalten zu können.

Und wo im Gefüge der aktuellen Machtverhältnisse  findet sich die Kulturpolitik?

Weil es bei all dem um Kulturpolitik geht, muss auch die Frage gestellt werden, wo diese sich im Spektrum zwischen Zentrum und Peripherie selbst verorten würde. Augenscheinlich ist auch hier eine beträchtliche Verlagerung, wenn sich noch vor ein paar Jahren Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik und damit verbindende Klammer über allen Politikfeldern verstanden hat. Von dieser einstigen zentralen Positionierung ist heute nur mehr wenig übrig geblieben. Stattdessen steht vieles dafür, dass Kulturpolitik im Zuge der Neuausrichtung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse (frei nach dem ehemaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel: Mehr Markt, weniger Politik!) zunehmend an den Rand der politischen Entscheidungsfindung gerückt ist und als nunmehr peripheres Phänomen von vielen gar nicht mehr als ein eigenständiger Politikbereich wahrgenommen wird. Umso wichtiger scheint heute die vorrangige kulturpolitische Aufgabe, eine ebenso überzeugende wie breit nachvollziehbare Positionierung im skizzierten Herrschaftsgefüge zu erarbeiten.

Zum Verlauf des Symposiums

Über diese Fragen – und über hoffentlich vieles mehr – werden im Rahmen des Symposiums eine Reihe internationaler Gäste miteinander ins Gespräch kommen. Als Hilfe bei der Strukturierung habe ich bei der konzeptiven Vorbereitung drei unterschiedliche Blickwinkel vorgeschlagen. Dem Gedanken des Weltsystems folgend, soll es in einem ersten Panel um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie im globalen Maßstab gehen. KollegInnen aus Asien, Afrika und Europa sind eingeladen, unter dem Titel „Global versus Local“ über unterschiedliche kulturpolitische Konzepte samt ihren transnationalen Beziehungen, Verflechtungen und Abhängigkeiten zu sprechen. Es gibt aber noch weitere geographische Dimensionen, die wir unter der Rubrik „Urban versus Rural“ abhandeln wollen. Dabei soll u.a. der Frage nachgegangen werden, ob der ländliche Raum mit seinen besonderen Qualitäten der potentiellen Verlangsamung, besonderen Naturnähe und damit verbundener Unmittelbarkeit, die er gerne als Vorteile gegenüber städtischen Regime ins Treffen führt, einer eigenen Kulturpolitik bedarf und wenn ja, wie eine solche in Zeiten digitaler Ortlosigkeit gestaltet werden kann bzw. soll.

Im Rahmen des Panels „Centres versus Margins“ wollen wir schließlich dem Umstand nachgehen, dass auch städtische Zentren keinen einheitlichen Charakter aufweisen; stattdessen innerhalb ihrer eigenen Grenzen nicht nur unmittelbar kulturpolitisch mit allen Arten von Peripherien umgehen müssen. Dies betrifft eine ungleiche Verteilung der kulturellen Infrastruktur ebenso wie die – aus vorrangig soziologischer Sicht – anhaltend wirksamen Hierarchien im sozialen und kulturellen Gefüge (Weil auch der ehemalige Kulturstadtrat von Paris, Christophe Girard, an der Veranstaltung teilnehmen wird, sei besonders auf den Film „Girlhood“ der jungen französischen Regisseurin  Céline Sciamma hingewiesen, die eine Gruppe von jungen Frauen in einem der Pariser Banlieus für sich selbst sprechen lässt). Diese Differenzen finden ihren Ausdruck nicht zuletzt innerhalb des Kunstbetriebs selbst, wenn als peripher angesehene Initiativen den dominierenden Mainstreams im Zentrum auf immer neue Weise in Frage stellen und damit erst die – durchaus kontroverse – Lebendigkeit des Betriebs gewährleisten.

Und wie wär‘s mit Peripherie als Synonym für Neugierde, Interesse und Veränderung?

In einem abschließenden Panel soll schließlich der Frage nachgegangen werden, welche kulturpolitischen Schlussfolgerungen sich aus der Analyse der bestehenden, oft widersprüchlichen Verhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie vor allem für die künstlerische Ausbildung ziehen lassen. Die jungen KünstlerInnen jedenfalls, die ich in Kirgistan und Kasachstan getroffen habe, haben wenig Zweifel daran gelassen, dass sie sich gerne eindeutigen Zuschreibungen verweigern würden. Ihr Ziel schien es vielmehr, mit den ihnen zugewiesenen Zuschreibungen auf eine spielerische, ebenso bestätigende wie verweigernde Weise umzugehen. Dies sollte es ihnen ermöglichen, für sich, ebenso wie für ihr Publikum, neue Erfahrungsräume zu eröffnen, die uns der ursprünglichen Bedeutung  von Peripherie als Bewegungsform zur Befriedigung von Interesse und  Neugierde wieder näher bringen. Es wäre ein Erfolg, wenn dies auch im Rahmen dieser Veranstaltung gelänge. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sein können.

 

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