Salon der Kulturen – ALLES WIRD BESSER

Im Rahmen der 5. Wiener Integrationswoche präsentieren Jasmin Edelbrunner, Stephan Genser und Louis Szapary, Studierende der Universität für angewandte Kunst Wien, unter der künstlerischen Leitung von Zekerya Saribatur ihre aktuellen Werke.

Salon der Kulturen - Alles wird besser

Datum: 07. Mai 2015, 18:00

Ort: EDUCULT, quartier21/MQ, Museumsplatz 1/e-1.6, 1070 Wien (Stiegenaufgang 1.6 im Innenhof des MQ-Haupteingangs, rechts von Café Daily – 3. Stock)

KünstlerInnen: Jasmin Edelbrunner, Stephan Genser und Louis Szapary

Künstl. Leitung: Mag.art. Zekerya Saribatur / Univ. f. angew. Kunst Wien,

Begrüßung: Dr. Michael Wimmer / EDUCULT

Eintritt frei!

Wir danken der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7), Abteilung Stadtteilkultur und Interkulturalität für die finanzielle Unterstützung dieser Veranstaltung!

 —

Jasmin Edelbrunner

Jasmin Edelbrunner ist 1983 in Graz geboren. Nach Abschluss ihres Publizistikstudiums studiert sie seit Herbst 2011 Bildende Kunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Sie wirkte an mehreren Gruppenausstellungen mit (u.a. Kunsthalle Wien, Künstlerhaus Wien und SGCI Print Conference San Francisco). In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich hauptsächlich mit Zeichnung und Malerei.

„Ich bin dem Kreis verfallen. Er ist zum Hauptbestandteil meiner Arbeit geworden. Es ist mir wichtig aus dieser einfachen Form komplexe Strukturen zu schaffen, die sich flächendeckend über das ganze Bild erstrecken.“

Webseite: jasminedelbrunner.tumblr.com

 

Stephan Genser

Stephan Genser ist 1983 in Salzburg geboren und studiert (nach Abschlüssen in Psychologie und Romanistik) seit 2011 Bildende Kunst (Klasse Grafik | Druckgrafik) an der Universität für angewandte Kunst Wien. Ausgewählte Ausstellungen: kollab 01|20 (Ragnarhof, Wien, 2012), Alte Meister – Junge Meister (Galerie Hochdruck, Wien, 2013), Wir gehen mit dem Kopf (Skulpturinstitut, Wien, 2014), Touch Wood (Österreichisches Kulturforum, Tokyo, 2014), ZURETA (Ausstellungszentrum Heiligenkreutzerhof, Wien, 2015).

"Ich finde meine Inspiration vor allem in Träumen, Insekten, Spiegeln, dem römischen Imperium, Pilzen, bemalten Leinwänden von Menschen, die schon tot sind, Tee, Fotoautomaten, Kalendern, Landkarten, Totenschädeln, Metall, Büchern, Kleidungsstücken mit Leopardenmuster, Religion, öffentlichen Toiletten, Messern, Fenstern, Aquarien, Fledermäusen, Körperteilen, Alkohol und Multiple-Choice-Tests, aber auch in ganz anderen Dingen."

 

Louis Szapary

Louis Szapary ist 1993 in Wien geboren und studiert seit 2012 Bildende Kunst (Klasse Grafik | Druckgrafik) an der Universität für angewandte Kunst Wien. Ausgewählte Ausstellungen: Alte Meister – Junge Meister (Galerie Hochdruck, Wien 2013), ESSENCE 2014 (Künstlerhaus, Wien 2014), Naglergasse Wien (solo show, Wien 2012), Exlibris, Piktogramm, Signatur (Galerie Steyrdorf, Steyr 2013)

"Für mich am wichtigsten in meiner Arbeit sind Dinge wie: Handwerk, Schwarz, Radiernadeln, Disziplin, schöne Menschen, Messer und fortgeschrittenere Waffen, Kaffee, Hingabe, hässliche Menschen, Nervengift, Wut, Isolation, tragische Selbsterkenntnis und alles was schön aussieht."

Gesprächsrunde zu „Access to Culture“

Das Projekt Access to Culture  von EDUCULT initiiert und mit europäischen Partnern durchgeführt widmet sich dem Spannungsfeld zwischen den sozialen Realitäten und den normativen Forderungen seitens der Politik sowie der Weiterentwicklung der europäischen kulturpolitischen Debatten. Ziel ist es den Austausch zwischen europäischer und nationaler Ebene zu befördern.

Gesprächsrunde zu "Access to Culture", 23.04.2015

 

Termin: Donnerstag, 23. April 2015, 15:00 Uhr

Ort: KunstSozialRaum brunnenpassage, Brunnengasse 71, 1160 Wien

Moderation: Michael Wimmer | EDUCULT

DiskutantInnen: Marc Grandmontagne | KuPoGe, Anne Wiederhold | brunnenpassage

Die Veranstaltung findet in deutscher Sprache statt.

Eintritt frei!

Nähere Informationen zum Projekt Access to Culture

Kurzbeschreibung

Der Zugang zu Kunst und Kultur wurde zu einem der Leitthemen im kulturpolitischen Diskurs auf europäischer und nationaler Ebene. So berichtet die zivilgesellschaftliche Plattform Access to Culture: „Access to Culture is an essential right of all citizens but becomes fundamental in the case of those with economic and social challenges […] However, there is a notable gap and a lack of political and public debate on and between principles and commitments, and everyday practices of fostering Access to Culture.“

Auch das aktuelle Kulturprogramm der europäischen Kommission 2014-2020 fokussiert auf den Aspekt „Access to Culture“ hinsichtlich der Entwicklung eines langfristigen Publikums für europäische Kulturgüter. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, in welcher Weise die Prioritätensetzung auf europäischer Ebene die nationalstaatliche Kulturpolitik beeinflussen kann.

 

Bildnachweis: © Eyelab/Photocase

Tot, einfach nur tot – Versuch über die Endlichkeit als kulturellen Wert

150 Menschen sterben in einem Flugzeugunglück unter Umständen, die bislang niemand für möglich gehalten hat. Es trifft Junge, Alte, Gebildete, Einfältige, Reiche, Gruppen, Paare, Alleinstehende, Arme, Kreative, Sicherheitsbedürftige, Lustige, Traurige, Gläubige, Ungläubige gleichermaßen unverdient. Sie alle haben, ungeachtet ihrer individuellen Eigenschaften, das Ende ihres Lebens erlebt. Ihre unterschiedlichen Charakteristika haben ihnen nicht geholfen, dem Tod zu entkommen (allenfalls sind sie im Angesicht dessen, was da auf sie zugekommen ist, unterschiedlich damit umgegangen).

Wir empfinden dieses Ende als einen Skandal, als ungerecht, schrecklich, ja unfassbar. Und doch kommen wir um den Umstand nicht herum, dass auch unser Leben früher oder später zu Ende gehen wird; die Begleitumstände mögen weniger grausam sein; der Skandal der Endlichkeit bleibt und trifft die einen so und die anderen so, aber er trifft.

Die Osterfeiertage halten zumindest für die Gläubigen der christlichen Religionen nach den Widrigkeiten des Diesseits den Mythos der Auferstehung in ein besseres Jenseits bereit. Das damit verbundene Versprechen auf ein Weiterleben zielt darauf ab, den Schrecken vor dem sicheren Ende in dieser Welt, wie immer es sich gestalten wird, zu nehmen. In unserer kulturellen Verfassung gehört Jesus zu den wenigen, die es bisher geschafft haben, den Wechsel zwischen den verschiedenen Welten zu vollziehen. Unbefleckte Empfängnis zu Beginn, Märtyrertod samt Aufstieg in den Himmel am Ende, sollen Zeugnis dafür ablegen, dass diese andere Welt wirklich existiert, jedenfalls für alle, die diesen religiösen Erzählungen einen realen Gehalt zuschreiben.

….aber der Hund wollte nicht

Es gibt auch noch eine weniger jenseitige Variante. Davon erzählt der Schweizer Autor Thomas Hürlimann in der Wochenzeitschrift Die Zeit (Ausgabe 13/2015) vom 26. März 2015 in seiner kurzen Geschichte seiner eigenen, durchaus irdischen, weil medizinischen Auferweckung nach einem Schlaganfall. Er erinnert darin an die Erweckung des toten Lazarus. Obwohl dessen Schwester Martha Jesus mit den Worten: „Er riecht schon“ davor gewarnt hätte, habe dieser befohlen, das Grab nochmals zu öffnen, um dann „mit lauter Stimme zu schreien: „Lazarus, hierher, heraus!“ Und der bereits verwesende Leichnam folgte Jesu Befehl und betrat nochmals diese Welt. Es gibt Interpretationen, wonach Lazarus der Forderung nur sehr widerwillig nachgekommen sei. Immerhin habe ihn Jesus mit seinem barschen Zuruf wie einen Hund  behandelt: Aber der Hund wollte nicht.

Während Jesus in seiner Eigenschaft als Gottessohn in Menschengestalt nach seiner Pendelmission weiterhin einen prominenten Platz in den christlichen Narrativen einnimmt, verschwand Lazarus als irdischer Wiedergänger weitgehend von der religiösen Bildfläche. Er wurde zwar heiliggesprochen, freilich ohne über – diese Entscheidung begründende – besondere Eigenschaften zu verfügen. Darüber hinaus musste er sich mit der Rolle des Namensgebers von mittelalterlichen Lazarus-Spielen zufrieden geben, in dem Hinterbliebene zu Tisch solange weinend zusammengesessen sind, bis Musik zumindest die Bühnenfigur des Verstorbenen reanimierte und so das Trauermahl in ein Freudenfest verwandelt werden konnte. Und so fragt Hürlimann angesichts Lazarus‘ Unscheinbarkeit: „Wo mag er heute sein?“ und darüber hinaus: „Wie hält er seine eigene Endlosigkeit  eigentlich aus?“.

Am Beispiel des Lazarus von Bethanien könnten schon Zweifel aufkommen, ob es überhaupt eine Wunschvorstellung sein kann, das einmal begonnene Leben (mit all den damit verbundenen Konsequenzen?) bis in alle Ewigkeit fortzusetzen. Stattdessen könnte es schon Sinn machen, dass irgendwann Schluss ist; zumal das Schicksal des Lazarus, auf ewig irgendwo in dieser Welt herumzuirren – selbst wenn es gottgewollt ist – schlicht nicht zu ertragen ist.

Brauchen wir eine Kultur der Unsterblichkeitsproduktion?

Zur Beantwortung dieser Fragen hat der Ägyptologe Jan Assmann ein kulturtheoretisches Konzept des Todes parat, im Rahmen dessen er so etwas wie eine anthropologische Grundkonstante konstituiert, wonach der Mensch nicht ohne den Versuch, einen Raum und eine Zeit zu schaffen, in denen er über seinen begrenzten Lebenshorizont hinausdenken und seine Linien des Handels, Erfahrens und Planens ausziehen kann leben kann. Daraus erwächst ihm ein Kulturbegriff, der zwar um den Tod und die eigene Sterblichkeit weiß, dieses Wissen aber mithilfe von Phantasmen der Unsterblichkeit oder zumindest einer gewissen Fortdauer über unser allzu kurzes Erdendasein zu konterkarieren muss, weil ansonsten der Mensch erst gar nicht in der Lage wäre zu leben und sein Handeln nicht als sinnvoll erfahren könne.

Es ist wahrscheinlich mehr als kühn, gegenüber einer Fachautorität wie Assmann einen Gegenentwurf entwickeln zu wollen. Weil ich aber dieser Idee der Unsterblichkeit (als kulturelles Versprechen) so gar nichts abgewinnen kann, lohnte es vielleicht doch, für sich ein Leben zu beanspruchen, dessen Qualität darin liegt, dem Hier und Jetzt auf immer neue Weise Sinn abzugewinnen – und es damit gut sein zu lassen. Das hat seinen Preis. Immerhin ist es im Rahmen dieses Konzeptes nicht möglich, den Tod mit Hilfe eines herbeigedachten Fortlebens, sei es hierorts oder jenseits, zu relativieren sondern ihn als das zu nehmen, was er ist. Als ein gültiges Ende – jedenfalls insofern, als darüber hinaus nichts gesagt, gedacht oder gefühlt werden kann – das es gilt, in die Endlichkeit des eigenen Lebens (so lange es eben dauert) zu integrieren. Im Umkehrschluss zu Assmann: Ein sinnvolles Leben ist nur dann möglich, wenn es um seinen Anfang und sein Ende weiß und sich danach ausrichtet

Wie oft denken wir jeden Tag an den eigenen Tod?

Während es offenbar eine beliebte Forschungsfrage ist, wie oft Männer im Gegensatz zu Frauen pro Tag an Sex denken würden, sind mir vergleichbare Studien zum Thema Tod nicht bekannt. Ungeachtet des Umstandes, dass die mediale Berichterstattung übergeht an Meldungen über tödliche Katastrophen, Anschläge, Kriegshandlungen oder Massenunfällen, steht viel für die Vermutung, dass die „Anwendung“ auf das eigene Leben mehr denn je vermieden wird. Es sind immer die anderen, die es trifft. Und wir bleiben mit der Angstlust zurück, dass es uns – zumindest diesmal – nicht getroffen hat. Statt dessen finden wir uns wieder als Teil einer medial vermittelten Emotionalisierung , die als unhinterfragte Vermeidungsstrategie seine Wirkung entfalten kann, wenn es darum geht, sich gerade nicht mit den Konsequenzen für das eigene Leben auseinander zu setzen.

Der Bezug, der sich in diesem Zusammenhang für kulturelle Bildung ergibt, fragt ganz einfach danach, wie sie es mit dem Tod hält. Vielen ist es ja wahrscheinlich eine Zumutung, mit jungen Menschen, von denen die meisten noch ein ganzes Leben vor sich haben, ausgerechnet das Thema Tod zu verhandeln (und das möglichst ganzheitlich). Und doch entscheidet eine frühe Einübung in die eigene Endlichkeit darüber, ob es später gelingt, den Tod als die einzige Sicherheit ins eigene Leben zu integrieren.

Kultur als Fähigkeit, dem Wert der Endlichkeit in einem Reservoir der Unendlichkeit einen Sinn abzugewinnen

Kulturelle Bildung soll neugierig machen, mithelfen, die Welt mit allen Sinnen wahrzunehmen, den Gestaltungswillen zu befördern. Das funktioniert nur, wenn wir in der Lage sind, die Welt als unendliches Erfahrungsreservoir begreifen, in dem wir uns auf Grund unserer sinnlichen Begrenztheit das eine oder andere Puzzlestück herauspicken und zu einem Konstrukt des Möglichkeitssinns zusammenfügen. Wollen wir vermeiden, dass das Wissen um die prinzipielle Unmöglichkeit, die Welt als Ganzes wahrzunehmen, zuallererst als eine narzistische Kränkung wahrgenommen wird, fände sich mit kultureller Bildung ein ideales Spielfeld, diese menschliche Unvollständigkeit als einen Auftrag zu interpretieren, sich die Welt mit den eigenen endlichen Mitteln auf immer neue Weise nach je eigenem Vermögen zu gestalten. Im Gegensatz dazu stünde die Kultivierung von Allmachtsphantasien, sie suggerieren, trotz der eigenen Endlichkeit das Ganze erfahren zu können, nicht in den Widrigkeiten des Heutigen, sondern in der Eigenschaftslosigkeit eines ewigen Morgen.

Die kulturelle Leistung solcher Bildungsbemühungen bestünde darin, einen besonderen Wert in einem diesseitigen Leben mit all seinen Unwägbarkeiten zu erkennen, sich diesen zu stellen und auszusetzen. Gerade mit Hilfe des Mediums Kunst haben wir ein hervorragendes Vehikel, uns in einen Abenteuerspielplatz des Lebens zu begeben, in dem dem menschlichen Gestaltungswillen (fast) keine Grenzen gesetzt sind. Es bleibt eine einzige Sicherheit, die darin liegt, dass es einmal zu Ende gehen wird.

Was wir uns mit einer Integration des Todes ins Leben ersparen würden, zeigen die gegenwärtigen Grausamkeiten, die auf dem Willen gründen, die menschliche Endlichkeit zu vermeiden und durch ein wie immer ausgeschmücktes Jenseits, in der diese Endlichkeit außer Kraft gesetzt erscheint, zu ersetzen. Das Ergebnis ist eine paradoxe Todessehnsucht, im Rahmen dessen der – manchmal sogar freiwillige und vorzeitige- Tod als notwendige Durchgangsstation interpretiert wird, um dorthin zu gelangen, wo die Kräfte der Endlichkeit überwunden erscheinen. Zurück bleibt die Verachtung für eine Welt, die es nicht schafft, den Tod so ins Leben zu integrieren und in der wir nicht in der Lage sind, die Hoffnungen auf ein ewiges Leben zu Ende gedacht als das zu erkennen, was es ist, als eine unlebbare Horrorvision. Immerhin ist da weit und breit keiner mehr, der uns erzählen wollte, ob da drüben einer ist,der da riefe: „Lazarus, hierher, heraus!“ Und wir uns allenfalls auch dort wie ein Hund fühlen müssten.

Setzt Unsterblichkeit Eigenschaftslosigkeit voraus?

Thomas von Aquin schrieb den Eigenschaftlosen die Eigenschaft zu, die Auferstehung von den Toten vorweggenommen zu haben. Wenn ich das richtig interpretiere, dann hieße das, dass Menschen mit einem schwachen Charakterprofil der Auferstehung gar nicht mehr bedürften. Man könnte die Aussage aber auch so deuten, dass selbst im Rahmen der christlichen Mythologie das ewige Leben nur um den Preis des Verlustes von Eigenschaften zu haben ist.

Das klingt nicht sehr attraktiv, gerade in Zeiten der Individualisierungseuphorie. Erleichterung mag es denjenigen schaffen, die sich mit ihren, notwendig unvollkommenen Eigenschaften zunehmend allein einer Welt gegenübersehen, die in all ihrer Unübersichtlichkeit schwer auf ihnen lastet. Die Alternative – geht es jedenfalls nach Thomas von Aquin – ähnlich unerfreulich, wenn wenig dafür spricht, dass nach einer Vollamputation unserer Eigenschaften noch viel von uns übrig bliebe, was den Begriff Leben rechtfertigen würde (vielleicht war das ja der eigentliche Grund für Lazarus Zurückhaltung bei seiner oktroyierten Auferstehung, die ihn als Eigenschaftslosen bis auf weiteres in der religiösen Geschichte herumirren lässt).  Angesicht dessen lohnt da vielleicht doch noch einmal der Versuch, einem endlichen Leben den Sinn abzuringen, der unseren Anstrengungen, mit unseren Unzulänglichkeiten in einem unauslotbaren Diesseits zurande zu kommen, entspricht. Und es damit genug sein lassen.

Über das Leben, das keines ist ohne das Wissen um sein Ende

Von Erich Fried gibt es das Gedicht „Es ist was es ist sagt die Liebe“. In einer Umdeutung der Karfreitagsliturgie versuche ich eine Assoziation: „Es ist was es ist sagt der Tod“ und interpretiere diese als eine Ermutigung zu einem bewußten Leben, das zu genießen nur möglich ist, wenn es sein Ende miteinschließt.

 

Bildnachweis: Bazon Brock©l a b e t e  / Flickr.com (geänderte Version)

Ostermayer post portas

Historische Phasen haben es so an sich, dass man ihnen nicht ansieht, wenn sie an ihr Ende kommen. Kontinuitäten in den äußeren Erscheinungsbildern täuschen nur zu leicht darüber hinweg, dass sich dahinter bereits ganz andere Szenarien abzeichnen. Dieser Verdacht hat mich bei der Lektüre von Rüdiger Wischenbarts jüngstem Kommentar über das „Verschwinden des Neuen aus der Kulturpolitik“ überkommen. Er rechnet dort vor, dass die Veränderungen in Art und Ausmaß der Bundeskunstförderung der letzten zehn Jahre marginal gewesen sind. Den veröffentlichten Daten zufolge kam es zu einer weitgehenden Fortschreibung einer routinisierten Förderungspraxis, die bis in die Details einen immer gleichen Kreis an NutznießerInnen begünstigt hat.

Nicht unbedingt ein überzeugender Ausweis für einen unbändigen kulturpolitischen Gestaltungswillen. Statt dessen fast schon eine Garantieerklärung für eine in die Jahre gekommene Klientel, die sich im Gefühl wiegen kann, ihre staatliche Privilegierung auf Dauer gepachtet zu haben. Kein Wunder, dass von dieser Seite kein großer Änderungsbedarf angemeldet wird. Ganz im Sinne des amtierenden Kunstministers Josef Ostermayer soll alles möglichst so bleiben wie es ist. Seine diesbezügliche Taktik macht er in einem Kurier-Interview deutlich, wenn er öffentlich macht, dass er alle neuen Förderwerber nicht mit seinen eigenen Schwerpunkten sondern mit der Frage traktiert „Wem soll ich Geld wegnehmen“.

Diese Form der Kontinuität macht nur all zu leicht vergessen, dass außerhalb dieses in die Jahre gekommenen Förderbetriebes kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Es sind vor allem technologische Entwicklungen in den Bereichen der Produktion und Distribution sowie demographische und soziale Verschiebungen im Bereich der Rezeption, die die traditionellen kulturpolitischen Entscheidungsgrundlagen nachhaltig in Frage stellen. Entstanden ist eine ganz neue Generation von KünstlerInnen und Kulturschaffenden aber auch NutzerInnen und mit dieser Form der Bewahrhaltung könnte man den Eindruck gewinnen, eine weitgehend selbstreferenziell gewordene Kulturpolitik habe sie noch gar nicht wahrgenommen und so an der kulturellen Dynamik unseres Landes vorbeiagiert.

Als die Förderung von Gegenwartskunst zum Anliegen staatlicher Kulturpolitik wurde

In den1970er Jahren wuchs dem Staat zunehmend die Aufgabe zu, sich insbesondere um aktuelle Kunst – und Kulturströmungen zu bemühen, diese in der Öffentlichkeit zu vertreten und ihre Realisierungsmöglichkeiten mittels neuer Förderungsprogramme zu verbessern. Das Ergebnis war der sukzessive Aufbau einer eigenen „Kunstsektion“ (damals im Unterrichtsministerium), deren Auftrag darin bestand – entgegen der herrschenden Skepsis gegenüber Gegenwartskunst – vorrangig avantgardistisches, experimentelles, provozierendes und auch gesellschaftskritisches Kunstschaffen zu stimulieren. Ein eigener kulturpolitischer Maßnahmenkatalog sollte darüber hinaus mithelfen, alle diejenigen – vor allem jungen – Menschen aus nicht Kunst affinen Familien mit der ganzen Vielfalt an ästhetischen Erfahrungen vertraut zu machen. In diesem Bemühen versuchte sich der Bund vor allem gegenüber einer provinziellen Kulturpolitik  der Länder zu profilieren, die eine „Kulturhoheit“ für sich reklamiert haben. 1988 gelang es, diesen kulturpolitischen Anspruch nach langem politischem Kampf in die Form eines Bundeskunstförderungsgesetzes zu gießen.

Ja, die Bundesländer haben sich mittlerweile kulturpolitisch profiliert

Von diesem (kultur-)politischen Wollen scheint heute nichts mehr übriggeblieben. In der Tat haben sich die Länder auch kulturell weiterentwickelt. Ihre Highlights beschränken sich nicht mehr auf Heimat- und Brauchtumspflege; gefördert werden nicht nur Volkstanzgruppen und Goldhaubenvereine, auch wenn nach wie vor beträchtliche Mittel dafür bereitgestellt werden. In den meisten Ländern vermochte sich eine beeindruckende kulturelle Infrastruktur zu etablieren. Ihr Programmangebot trägt dazu bei, lieb gewordene regionale Klischeebildungen in Frage zu stellen, jedenfalls solange es der jeweiligen politischen Profilbildung dient. Angesichts dieses Aufholprozesses hat es der Bund zunehmend schwer, noch einmal seine, in den 1970er Jahren so augenscheinliche herausragende kulturpolitische Funktion aufrechtzuerhalten.

Das ewige Thema: Die „Kulturhoheit der Länder“

Statt aber eine grundsätzliche Standortbestimmung und eine darauf beruhende Neukonzeption einer zeitgemäßen gesamtstaatlichen Kulturpolitik zu versuchen, zeigen sich die Umrisse einer Kulturpolitik, die man am Ausgang der „austriakischen Restauration“ der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Aufbruchstimmung der späten 1960er Jahre zu überwinden getrachtet hat. Zur Bestätigung lässt Kunstminister Ostermayer in öffentlichen Stellungnahmen immer wieder mit dem Verweis aufhorchen, „Kultur“ wäre doch an sich Landessache. Dass er diese Aussage just in der Tiroler Tageszeitung (und damit in einem Bundesland, das traditionell auf seine (kulturelle) Eigenständigkeit pocht) erstmals gemacht hat, scheint mir fast schon programmatisch. Ganz offensichtlich soll hier der Weg frei gemacht werden für eine kulturpolitische Initiative, die den subsidiären Auftrag des Staates zur Förderung eines „überregionalen, innovativen und beispielhaften Kunstschaffens“ (wie im Kunstförderungsgesetz festgelegt) zumindest relativiert, um so die Länder wieder in die Lage zu versetzen, in umfassender Weise für „Kultur“ zuständig zu sein (umso mehr als sie das ja ohnehin immer wollten).

Zusammenlegung der Kultur- und der Kunstsektion oder Das Ende der staatlichen Anwaltschaft für Gegenwartskunst?

Ganz in diese Richtung deuten auch die aktuellen Absichten, die bislang getrennt geführten Sektionen für Kultur und für Kunst im Bundeskanzleramt künftig zusammen zu legen. Mehr als symbolisch wird damit deutlich, dass Gegenwartskunst künftig auf eine speziell für ihre Anliegen tätige Anwaltschaft innerhalb der staatlichen Verwaltung, für die eine kulturpolitische Vorgängergeneration hart gerungen hat, wird verzichten müssen. Ihr Aufgehen in die Pragmatik des allgemeinen Verwaltungshandelns erscheint umso wahrscheinlicher als dass diese Strukturänderung ohne jeden Hinweis auf eine konzeptionelle Neuorientierung der österreichischen Kulturpolitik erfolgt. Vielmehr wurden diesbezügliche Entscheidungen ohne jede diskursive Begleitmusik getroffen und sprechen so allen Hoffnungen auf Realisierung neuer Governance-Strukturen unter Einbeziehung der Betroffenen (wie sie in anderen Ländern zur Zeit erprobt werden) Hohn.

Der große Auslagerungsschmäh – Die großen Tanker sind am Ende

Pragmatisch liegt der wesentliche Grund für die Aufgabe des kulturpolitischen Auftrags des Staates, sich in besonderer Weise „um das Neue“ zu bemühen, in der mehr als schwierigen Situation der großen Bundeskunst- und Kultureinrichtungen, für die der Staat explizit zuständig ist. Josef Ostermayer ist nicht nur mit Malversationen in dem einen oder anderen Institut befasst, er muss mit einer strukturell falsch angelegten Kulturpolitik zurande kommen, die vor nunmehr 15 Jahren gemeint hat, es genüge, den großen staatlichen Kultureinrichtungen mit Hilfe ihrer Auslagerung einen entsprechenden Gestionierungsspielraum zu verschaffen. Dessen Ausgestaltung mit entsprechendem kaufmännischen Geschick würde sie dauerhaft in Stand setzen, die ständig steigenden Kosten durch Erhöhung der Einnahmen (die nicht aus Subventionen kommen) zu kompensieren. Mit der Verweigerung, in den jeweiligen gesetzlichen Grundlagen entsprechende Valorisierungen (vor allem im Hinblick auf jährlich steigende Personalkosten) festzuschreiben, wurden die  Einrichtungen auf einen Markt verwiesen, auf dem nicht nur die Extras (darunter firmieren bis dato leider auch Bildungs- und Vermittlungsinitiativen) sondern immer größere Anteile der Basisbudgets erwirtschaftet werden müssen. Das ging – vor allem mit dem Chef der Bundestheaterholding Georg Springer, der seine Aufgabe vor allem darin gesehen hat, den Deckel über die wachsenden Widersprüche zu halten – lange gut; jetzt scheint das Ende der Fahnenstange erreicht und Matthias Hartmann wird in die Geschichte der österreichischen Kulturpolitik eingehen als derjenige, der mit seinem exzessiven Stil deutlich gemacht hat, dass es so insgesamt nicht weiter gehen kann.

Joseph Ostermayer als ungewollter Widergänger von Heinrich Drimmel –  oder Befördern uns die wirtschaftlichen Zwänge in eine neue Restaurationszeit?

Josef Ostermayer macht bei jeder Gelegenheit deutlich, wie sehr er darum kämpft, ein krisenbedingtes Absenken der staatlichen Kunst- und Kulturförderung zu verhindern. Sein Problem: Selbst eine ungekürzte Fortschreibung der bestehenden Fördermittel kann den Fortbestand der bestehenden Einrichtungen in ihrer jetzigen Form und mit ihrem Programmangebot nicht mehr sicherstellen. Entsprechend wird staatliche Kulturpolitik früher oder später um steuernde Vorgaben gegenüber den betroffenen Einrichtungen, die bislang weitgehend im Freiflug agiert haben, nicht herumkommen.

Entgegen den gut gemeinten Appellen von Rüdiger Wischenbart und anderen, noch einmal ein besonderes Interesse für das Neue zu entwickeln, habe ich die Vermutung, dass der eigentliche kulturpolitische Schwerpunkt des amtierenden Kunst- und Kulturministers im Versuch der Konsolidierung der großen Tanker besteht. Und unversehens finden wir uns in die guten alten Zeiten zurückversetzt, in denen sich der demokratische Staat zur mit der Führung von aus vormodernen Zeiten stammenden Kunst- und Kultureinrichtungen profilierte.

Als in breiten Teilen der Öffentlichkeit verhandelte Akteure haben sie über dies den Vorteil einer raschen und effizienten politischen Profilierungsmöglichkeit; ein Umstand, von dem Ostermayer mit der Absetzung des Direktors des Bundestheaters bereits eindrucksvoll Gebrauch gemacht hat. Auch seine Initiative, bis zu den Jubliäumsfeierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr der Ausrufung der Republik ausgerechnet in der Neuen Burg ein „Haus der Geschichte“ zu realisieren geht in die gleiche Richtung.

Über das Ende eines gemeinsamen (gesellschafts-)politischen Projektes

Zurück bleiben weite Teile des informellen Kultursektors, die den Abschied von ihren lange gehegten kulturpolitischen Hoffnungen noch vor sich haben. Erleichternd wirkt vielleicht der Umstand, dass beiden Seiten die vielleicht wesentlichste Grundlage zu einem gemeinsamen kulturpolitischen Selbstverständnis abhanden gekommen ist: ein gemeinsames (gesellschafts-)politisches Projekt, für das sich KünstlerInnen und Kulturschaffende im Sinne Kreiskys bereit erklären, „ein Stück des Weges“ mitzugehen. Da ist über die Jahre ein gerütteltes Maß an Entfremdung eingetreten, das selbst angesichts des agent provocateur Heinz Christian Strache (das konnte Jörg Haider weit besser) die Entwicklung eines gemeinsamen kulturpolitischen Selbstverständnisses nicht mehr zulässt.

Über Vereinzelung und Wirkungslosigkeit

Man könnte diese Entwicklung als erfreuliche Form der Emanzipation des Kunst- und Kultursektors sehen. Aber jetzt stehen seine weitgehend voneinander getrennt agierenden VertreterInnen in der von Wischenbart erwähnten Bilanzveranstaltung im Bruno-Kreisky-Forum nacheinander auf und bringen zum 100sten Mal ihre zum Teil höchst individuellen Forderungen vor und wundern sich, dass Ostermayer diese in seinen Reaktionen nicht einmal ignoriert. Als politischer Profi weiß er, dass mit dieser Gruppe keine Stimmen (mehr) gewonnen werden können.

In ihrer Machtlosigkeit sind sie dazu verurteilt, sich darüber zu freuen, dass die Mehrwertsteuererhöhung im Rahmen der aktuellen Steuerreformdebatte für Kino-, Museums-, Theater- und Konzertbesuche mit nur 3% glimpflicher ausgefallen ist als befürchtet, während die ermäßigten Sätze für den Buchhandel auf Grund erfolgreichen Lobbyings sogar gleich geblieben sind. Über die genuin kulturpolitische Begründung, warum bei den einen ein erhöhter (und warum gerade in dieser Höhe) und bei den anderen kein erhöhter Satz künftig zur Anwendung kommt, gibt es keine Auskunft. Es darf munter weiter spekuliert werden.

Auch ich wollte mich im Kreisky-Forum zu Wort melden und Josef Ostermayer bitten, wenn schon kein Konzept, so doch zumindest einige Haltegriffe zu seiner kulturpolitischen Schwerpunktsetzung zu benennen und zu begründen. Aber ich bin nicht mehr drangekommen. Der Kunst- und Kulturminister musste sich vorzeitig verabschieden, um rechtzeitig ins Zib2 Studio zu kommen.

 

Bildnachweis: spoe_brunokreiskyforum_060315_0022 © Österreichische Gesellschaft für Kulturpolitik @flickr.com (https://www.flickr.com/photos/131778652@N05/16577584330/)

Hauptsache Messen

Messen ist super. Mehr: Messen ist überlebenswichtig geworden. Denn es gibt kein Leben außerhalb seiner Messbarkeit mehr. Unsere Weltwahrnehmung scheint in zunehmendem Maße darauf fokussiert zu sein, was an ihr gemessen werden kann. Was hingegen nicht gemessen werden kann, das existiert nicht. Und sein Nichtvorhandensein wird im Zeitalter umfassender Quantifizierung nicht mehr als ein Mangel bzw. als ein Verlust wahrgenommen.

Kein Wunder also, dass sich nunmehr auch VertreterInnen kultureller Bildung auf den Prozess der Überführung ihres Metiers in möglichst vergleichbare Daten eingelassen haben. Auch sie sind gezeichnet von den Konsequenzen des PISA-Diskurses, die darauf hinauslaufen, Bildung auf einige wenige Daten zu ihrer systemischen Wirksamkeit reduzieren zu sollen. Mit dem Überhandnehmen öffentlicher Zahlenspiele in Form von Rankings meinten selbst ursprüngliche SkeptikerInnen in den Reihen kultureller Bildung nicht länger nachstehen zu dürfen und die Messbarkeit ihres Feldes zum zentralen Überlebensmittel erklären zu müssen.

Im Rahmen internationaler Begegnungen beschäftigte ich mich 2007 erstmals mit der Frage „Ist kulturelle Bildung messbar?“. In einem Beitrag bei einer Tagung in Wildbad Kreuth zu Evaluierungsfragen habe ich zur Rettung des Werts des Unmessbaren auf die besondere „Werthaltigkeit“ von kultureller Bildung hingewiesen. Dabei wollte ich deutlich machen, dass es umfassende, in der Regel historisch gewachsene Wertvorstellungen sind, die – ob wir wollen oder nicht – das, was wir als kulturelle Bildung bezeichnen, wesentlich mitbestimmen, ohne dass dies in der „Bewertung“ einzelner Kennzahlen hinlänglich Ausdruck  finden könnte.

Zur Doppelnatur von Arbeit

Ganz offensichtlich bin ich da auf einen unauflösbaren Widerspruch gestoßen, der es verdient, grundsätzlicher verhandelt zu werden. Zu Hilfe gekommen ist mir dabei die klassische Arbeitswerttheorie von Karl Marx. Jetzt weiß ich schon, dass die Marx’sche Analyseinstrumente zum aktuellen Stand der kapitalistischen Produktionsweise nicht eben Konjunktur haben (was nicht heißt, dass „modernere“ Gegenentwürfe bislang besser in der Lage gewesen wären, wirksame Handlungsanleitungen zur Lösung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise zu liefern). Und doch scheint sein Versuch der Aufteilung des Arbeitsbegriffes in „zwei Naturen“ nach wie vor überlegenswert. Für Marx war Arbeit zuallererst eine wertschöpfende Form der Gestaltung von Welt (er nannte sie „formgebende Tätigkeit“, die das „Feuer der Arbeit“ nährt), die niemals im Voraus quantifiziert werden kann (und so auch nicht in eine Ware umgewandelt werden kann) und erst in zweiter Linie war ihm Arbeit Ausdruck einer Quantität (in Form verausgabter Arbeitsstunden), die käuflich und so mit einem bestimmten Preis versehen werden kann.

Der spezifische Charakter aktuellen Wirtschaftens läuft darauf hinaus, Arbeit auf seine Natur als quantifizierbare Ware zu reduzieren. Entsprechend bemühen sich alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten, Arbeit warenförmig zu machen. Sie alle benutzen ihren ganzen Scharfsinn dazu, Arbeit zu quantifizieren, zu messen und so in Bezug auf ihre Wirkung („Produktion von Mehrwert“) zu optimieren. Und folglich versucht das wachsende Heer der Arbeitssuchenden mit allen Mitteln, seine Arbeitskraft zur Ware zu machen, Lebensläufe zu schreiben und umzuschreiben mit dem Ziel, sich als Anbieter quantifizierbarer Arbeitseinheiten darzustellen. Wen wundert es da, wenn eine darauf bezogene Logik auch auf den Bildungsbereich überschwappt, um das Unmögliche doch noch möglich zu machen, in Vorbereitung auf die Arbeitswelt Bildung in Zahlenkolonnen umzuwandeln.

Die Dominanz der Warennatur von Arbeit und das Ende des Kapitalismus

In ihrem verzweifelten Wollen, Arbeit zu standardisieren, vergessen ihre Apologeten, dass sie damit die Essenz dessen, was Arbeit (auch) ist, preisgeben: der unendlich vielschichtige Umgang des Menschen mit seiner Umgebung, mit der Welt. Um die daraus resultierende Wirkung zu verdeutlichen, lohnt ein Blick in den Science-Fiction-Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ von 1956. Darin wird die Welt von Aliens angegriffen. Menschen werden von innen her erobert, bis nichts mehr von ihrem menschlichen Geist und ihren Gefühlen übrig ist. Ihre Körper bleiben als bloße Hüllen zurück, die einst einen freien Willen enthielten und nun arbeiten, das alltägliche Leben absolvieren und als menschliche Simulacra, also bloße Zeichen funktionieren, die von den nicht quantifizierbaren Launen der menschlichen Natur befreit sind. Dieses Szenario – jedenfalls in der Interpretation des Wirtschaftswissenschaftlers und gegenwärtigen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis in seinem Plädoyer zur Rettung des Kapitalismus – entspricht etwa dem, was entstehen würde, wenn die menschliche Arbeit vollkommen auf seine quantifizierbaren Anteil reduziert würde, um sie so ins hegemoniale ökonomische Modell einzufügen.

Die Pointe, die Varoufakis mit der Verweigerung, die Doppelnatur von Arbeit anzuerkennen, parat hat, besteht im Befund, dass eine umfassend erfolgreiche Umwandlung jedweder Form von Arbeit in eine quantifizierbare Form notwendig in den Untergang des derzeitig herrschenden Wirtschaftssystems führen muss. Und wie zum Beweis machen sich im Zuge des Übergangs von fordistischer zu postfordistischer Produktionsweise aller Orten Gegenkräfte bemerkbar, die darauf hinauslaufen, verstärkt auch nicht quantifizierbare und doch zutiefst menschliche Anteile in die Weiterentwicklung zeitgemäßer Arbeitskonzepte zu integrieren (siehe dazu auch die Überlegungen bei EDUCULT im Rahmen des Projektes „Unternehmen Kultur“. Arbeitende selbst in traditionellen Branchen sind immer weniger gewillt, sich beliebig zu „entfremden“, damit bestimmte (quantifizierbare) Teilleistungen von ihrer ganzheitlich verfassten Persönlichkeit abzuspalten und je nach Anforderung im Rahmen von Arbeitsprozessen zur Verfügung zu stellen. Sie wollen sich nicht auf quantifizierbare Funktionen beschränken lassen sondern als „ganze Menschen“ gesehen und behandelt werden, um so in gleicher Weise ihre kognitiven, emotionalen und affektiven Anteile auszuleben (dass diese Form der umfassenden Präsenz auch zu neuen, ebenso umfassenden Formen der Auslieferung, ja Ausbeutung führen können, gegenüber denen sich Strategien der traditionellen ArbeitnehmerInnen-Vertretungen bislang als weitgehend machtlos erweisen, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden).

Freiheit und Unvorhersehbarkeit als zentraler Wert kultureller Bildung

Der Analogieschluss, der sich aus diesen Überlegungen in Bezug auf kulturelle Bildung ergibt, liegt in ihrer ganz ähnlich gearteten Doppelnatur. Immerhin haben wir es auch im Bereich der kulturellen Bildung mit einer Form der gestalterischen Weltaneignung, also mit Arbeit zu tun. Dem generellen Trend folgend unterliegt auch kulturelle Bildung zunehmenden Quantifizierungserwartungen (etwa in der Erwartung eindeutig nachweisbarer Wirkungen). Und natürlich lässt sich eine Reihe von vergleichbaren Datensätzen ermitteln, wenn es etwa um die eingesetzten Ressourcen oder um die beteiligten Arbeitskräfte und die Größenordnungen ihrer Einkommen geht. Schon wesentlich schwieriger wird es, wenn die spezifisch subjektiven Dimensionen und ihren prinzipiellen Unvorhersehbarkeiten angesprochen sind, die sich nicht einfach in Daten fassen lassen.

Immerhin repräsentiert kulturelle Bildung in besonderer Weise eine „Kultur der Freiheiten“, in der jeder Versuch des Vergleichens tendenziell als Einschränkung und Verlust pädagogischer und/oder künstlerischer Autonomie erlebt wird. Als solche ermöglich sie ideale „Lernzeiten“ für eine neue Generation von ArbeitnehmerInnen, die darauf bestehen, sich mit ihrer ganzen sinnlichen Ausstattung in den Arbeitsprozess einzubringen. Angelehnt an Marx besteht das „Feuer“ spezifisch kultureller Aktivitäten in einem unhintergehbaren Freiheitsanspruch, der sich um den Preis seiner Existenz allen Versuchen verweigern muss, sich in Zahlen pressen zu lassen. Immerhin sind es ja gerade seine nicht quantifizierbaren Anteile und damit die Bereitschaft der Akteure, sich mit allen verfügbaren Persönlichkeitsanteilen auf ein Experiment mit ungewissem Ausgang einzulassen, die erst die Dynamik des Feldes ausmacht. Dieser prinzipiellen Offenheit des Feldes entsprechen übrigens auch alle bisherigen Fehlschläge, kulturelle Bildung für allfällige Vergleiche definitorisch zuzurichten (umso mehr, wenn es um die Verwendung unterschiedlicher Sprachen und ihrer unterschiedlichen Traditionen geht und das gemeinhin verbindende Englisch selbst mit einem Bias behaftet ist, wenn es in besondere Weise marktwirtschaftlich gerichtete Wertvorstellungen (Vorbereitung auf die sogenannten Cultural Industries) transportiert; ein Umstand, der schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Äußerung veranlasst hat, dass „die Regeln des Unbestimmten notwendig unbestimmt“ bleiben müssen.

Die Messer am Werk

Dieser kleine theoretische Vorspann bildet den Auftakt für einen Bericht über das jüngste Treffen einer Gruppe Arts Education Researcher in Utrecht/Niederlande INRAE, denen es ein Anliegen ist, eine international vergleichbare Datenbasis für das Feld zu schaffen (MONAES).

Die Ausgangsfrage, die ich mir vorab und ganz pragmatisch gestellt habe, lautet, ob ein solcher Vergleich überhaupt gebraucht wird und wenn ja, von wem zu welchem Zweck und zu welchem Nutzen darauf basierende Daten verwendet werden. Immerhin gab es bereits eine Reihe von Anläufen wie COMACE, die  Compendium-Initiative oder das AEMS-Projekt, das 2011 – 2013 von EDUCULT durchgeführt worden ist. Zu keinem von ihnen sind auch nur halbwegs relevante Nutzungsdaten zu eruieren, geschweige denn Hinweise zur Einbeziehung diesbezüglicher Daten in die jeweilige kultur- und bildungspolitische Entscheidungsfindung.

Die Entstehungsbedingungen lassen sich in der Regel auf wohlmeinende Absichten, mittels dieser Formen der internationalen Vergleichung einen vertieften Fachzusammenhang herstellen zu können, zurückführen. Dazu kommt die Hoffnung, sich anhand international erhobener Vergleichszahlen nationalen Marginalisierungstendenzen zu entziehen und auf der Grundlage eines transparenten Informations- und Erfahrungsaustausches einen Bedeutungszuwachs im eigenen Land zu erzielen.

Modellprojekte als entkontextualisierte Referenzen

Meiner Vermutung nach gibt es angesichts der herrschenden politischen Praxen wenig Grund, diesbezügliche Erwartungshaltungen allzu hoch zu schrauben. Bislang setzen nationale Kultur- und Bildungspolitiken in nur sehr geringem Ausmaß auf objektive Datenerhebungen, wenn es um Fragen der kulturellen Bildung geht. Stattdessen sind es vor allem einige wenige medial gehypte Projekte, wie das venezolanische Modell „El Sistema“, das britische Projekt „Creative Partnerships“ oder der norwegische „Kulturrucksack“, die es schaffen, politische Neugierde zu erzeugen, um in der Folge wahllos in ganz unterschiedliche politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Kontexte implementiert zu werden.

Dazu kommt der Umstand, dass die kultur-, die bildungs- oder die jugendpolitische Entscheidungsfindung sehr unterschiedlichen Traditionen folgt (ihre VertreterInnen interpretieren und nutzen Daten schon auf Grund unterschiedlicher Definitionen, Sprachregelungen, konzeptiven Zugängen und Implementierungsstrategien ganz unterschiedlich) und wir noch weit davon entfernt sind, kulturelle Bildung als ein Politikfeld in seinem eigenen Recht etabliert zu haben.

Auch der Umstand, dass wir zwar in und um Schule über die besten Datenlagen verfügen, deren Bedeutung im Vergleich zum informellen Sektor (über den in seiner Eigenschaft als kulturelle Sozialisationsinstanz bislang kaum verlässliche Daten vorliegen) zunehmend im Abnehmen begriffen ist, trägt nicht unbedingt dazu bei, ein über die Ressortgrenzen hinweg auch nur halbwegs verlässliches Datenkorsett zu schnüren.

Arts Education Research als Übersetzungsleistung

Die Veranstaltung in Utrecht stellte eine gute Möglichkeit dar, noch einmal grundsätzlich über das Verhältnis zwischen der kulturellen Bildungsszene selbst, ihrer Beforschung und der sie betreffenden politischen Entscheidungsfindung nachzudenken. Immerhin besteht die Gefahr, dass die drei Bereiche zunehmend auseinander driften und dabei ihren je eigenen Logiken gehorchen. Umgekehrt scheinen mir die Möglichkeiten – internationaler Datenvergleich hin oder her – nicht ausgelotet, wenn es darum geht, sich aufeinander zu beziehen und sich gegenseitig zu stärken. Dabei könnte insbesondere der angewandten Forschung eine vermittelnde Funktion zukommen, deren Aufgabe darin besteht, Übersetzungsleistungen zwischen der prinzipiellen Unauslotbarkeit des Feldes einerseits und der Erwartung der Politik nach seiner „Messung“ (auch angesichts des wachsenden Konkurrenzdrucks innerhalb unterschiedlicher Politikfelder, die angeblich nur die Sprache der Zahlen verstehen) andererseits zu überbringen.

Und was ist eigentlich das Problem?

Die KollegInnen aus Deutschland und den Niederlanden scheinen im Moment wild entschlossen, mit Hilfe eines Fragebogens noch dieses Jahr einen ersten Aufschlag für eine neue Runde einer umfassenden internationalen Vergleichbarkeit zu versuchen. Umso dringlicher mein Rat, Vergleichbarkeit nicht als einen Fortschritt per se anzusehen, sondern sich zuerst darüber zu verständigen, worin eigentlich das Problem liegt, das man hofft, mithilfe einer verbesserten Vergleichbarkeit zu lösen.

Mein diesbezüglicher Vorschlag in Utrecht ist darauf hinausgelaufen, sich den Status an Wohlfahrtstaatlichkeit in ausgewählten Ländern genauer anzusehen, um Korrelationen mit dem Status kultureller Bildung herstellen zu können. Immerhin steht zu befürchten, dass sich das wachsende Heer derjenigen, jeglicher Perspektiven beraubter jungen Menschen, die vom bestehenden Netz an Wohlfahrtstaatlichkeit nicht mehr aufgefangen werden, derartig ins Abseits gestellt sieht, dass sie nur mehr wenig Bereitschaft mitbringen werden, sich an Programmen kultureller Bildung zu beteiligen. Sie fühlen sich auch so schon verarscht genug.

Aber das ist möglicherweise ein anderes Thema, das die Forschungs-Community mit der Herstellung von Vergleichsdaten eher zu kaschieren sucht, denn zu lösen.

 

Bildhinweis: bei dem Titelbild des Blogs handelt es sich um eine interaktive Grafik mit Länderinformationen zur kulturellen Bildung, die auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung angeschaut werden kann.

Evaluation des Projekts „Woher? Wohin? Mythen – Nation – Identitäten“

Im Rahmen des Projekts befragten junge KomponistInnen aus Mittelosteuropa mit musikalischen Mitteln historische und aktuelle Mythen, die in den Nationalstaaten dieser Region der Identitäts- und Sinnstiftung dienen. Zu diesem Thema komponierten die TeilnehmerInnen des Projekts Werke, die vom international renommierten Ensemble Modern in Deutschland und Mittelosteuropa uraufgeführt wurden.

Projektbeschreibung

Das Projekt "Woher? Wohin? Mythen – Nation – Identitäten" wurde 2011 in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und Ensemble Modern gestartet und richtete sich an junge KomponistInnen aus Mittelosteuropa. In einem gemeinsamen Workshop beschäftigten sich die TeilnehmerInnen mit dem Thema und erarbeiteten daraufhin mit dem Ensemble Modern die Aufführung, der von ihnen komponierten, zeitgenössische Musikstücke. Die Stücke wurden vom renommierten Ensemble in München, Frankfurt am Main, Budapest, Warschau und Riga aufgeführt.

Methode

Evaluationsgegenstand sind die Zielerreichung und die Wirkungsanalyse des Projekts "Woher? Wohin? Mythen – Nation – Identitäten". Untersucht wird dabei, welche Wirkung das  Projekt auf individueller und öffentlicher Ebene erzeugt und was es zum Beispiel für die jungen KomponistInnen bedeutet hat, aber auch wie das Projekt von der (Fach-)Öffentlichkeit in den verschiedenen Ländern aufgenommen wurde. Dazu werden Interviews mit den Projektverantwortlichen und TeilnehmerInnen durchgeführt sowie mit zwei Fokusgruppen in München und Prag diskutiert. Zusätzlich werden wichtige Dokumente, die im Projektverlauf entstanden sind, einer Analyse unterzogen.

 

Bildnachweis: © Liga-Urme / Goethe Institut Prag

Der Kulturbetrieb brennt!

Wir wollen es uns gar nicht vorstellen: Zentrale Kultureinrichtungen öffnen ihr Angebot für neue Zielgruppen und die Begünstigten haben nichts anderes im Sinn als diese zu zerstören. Noch eine Denkunmöglichkeit in Wien, bereits Realität in anderen Kulturmetropolen:

Da ist z.B. die Bibliothek in Clamart, einem südlichen Vorort von Paris. Gebaut wurde sie als Angebot der kulturellen Teilhabe für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Als architektonische Vorzeigearchitektur sollte sie den Bedürfnissen der potentiellen NutzerInnen in optimaler Weise entsprechen; selbst im Detail sollte die Möblierung durch den Stararchitekten Alvar Aalto den Beleg für die Wertschätzung der örtlichen Bevölkerung erbringen. Und dann kamen die Randalierer, zerstörten weite Teile der Inneneinrichtung und tobten sich an den Beständen in einer Weise aus, dass fast alle Bücher weggeworfen werden mussten.

In dem Maß, in dem das Angebot der Kulturvermittlung steigt, wächst das Ausmaß sozialer Undankbarkeit

In seinem Beitrag „Schwelbrand der Republik“ in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Februar 2015 zeigt Alex Rühle, dass es sich dabei um keinen Einzelfall handelt. Seinen Recherchen zufolge sind in den letzten Jahren mehr als 70 öffentliche Bibliotheken in ganz Frankreich angezündet worden. Der Soziologe Denis Merklen hat dazu 2014 dazu ein eigenes Buch verfasst („Pourquoi brule-t-on des bibliothèques?“); öffentliche Reaktionen blieben aus. Es scheint, als wollte sich niemand – die unmittelbar betroffenen Bibliothekare am wenigsten –  mit dieser Form der sozialen Undankbarkeit beschäftigten: „Diese Leute haben oft ein emphatisches Bildungsideal. Sie wollen helfen. Sie verschenken gewisser Maßen Bildung. Und dann zündet man ihnen das Haus an. Viele verstummen danach total“.

Die Verletzungen sitzen also tief. Und doch könnte sich ein öffentlicher Diskurs lohnen, angesichts solcher Extremfälle darüber nachzudenken, welche negativen Reaktionen die eigenen Absichten, Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen, in Zeiten eines dräuenden Krieges zwischen Arm und Reich hervorrufen können. Immerhin basiert die überwiegende Anzahl an kulturellen Bildungsangeboten auf einem affirmativen Partizipationsverständnis und damit auf der Annahme, jungen Menschen jedweder sozialer Herkunft etwas Gutes zu tun, wenn eine professionelle Vermittlerszene versucht, sie mit dem Angebot des Kulturbetriebs vertraut zu machen.

„Wir brauchen keine Bücher. Wir brauchen die Unterstützer im Kampf gegen soziale Diskriminierung.“ (ein 17jähriger Pariser)

Was aber, wenn  AdressatInnen dieses Angebot als ihnen nicht gemäß, vielleicht sogar als gegen sie gerichtet einschätzen? Immerhin könnten sozial Benachteiligte auf die Idee kommen, das kulturelle Angebot stelle gar kein gemeinsames Gut dar, an dem sie eingeladen sind teilzuhaben, sondern einen Bestandteil eines gegen sie gerichteten Systems, das es gelte, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Dann mutierten Bibliotheken und andere kulturelle Einrichtungen zu Symbolen für einen Staat, der ihnen Teilnahme im umfassenden Sinn verwehrt und sie stattdessen mit kulturellen Teilnahmealmosen abspeist. O-Ton eines jungen Zuwanderers: „Sie stellen uns Bibliotheken hin, um uns einzuschläfern. Damit wir schön ruhig  in unserer Ecke bleiben und Märchen lesen. Wir brauchen keine Bücher. Wir brauchen Arbeit“.

„Partizipation“ als Taktik, die bestehende kulturelle Hegemonie aufrecht zu erhalten?

Der Architekt Markus Miessen hat 2012 im Merve-Verlag den Band „Albtraum Partizipation“ herausgebracht. Vor dem Hintergrund des aktuellen Partizipations-Hypes warnt er vor allzu euphorischen Einschätzungen von Teilhabe und  Mitwirkung. In seinem, im Buch abgedruckten Gespräch mit der belgischen Politikwissenschafterin Chantal Mouffe wird deutlich, wie sehr Hoffnungen auf Partizipation dazu neigen, die spezifisch politische Dimension unter den Tisch fallen zu lassen. Dabei sind es gerade die unterschiedlichen Interessen und der daraus resultierende Umgang mit Konflikten, der darüber entscheidet, ob Partizipation emanzipatorischen Ansprüchen genügt oder es nicht doch bei der Zurichtung in die bestehenden Gewaltverhältnisse bleibt.

Dieser blinde Fleck erweist sich im Bereich der Kunst- und Kulturvermittlung dort am gravierendsten, wo die jeweiligen Zielgruppen nur in den seltensten Fällen als Interessensträger eigener Anliegen wahrgenommen werden. Und in der Tat gibt es bislang keinen kollektiven Aufschrei benachteiligter Zielgruppen, endlich Zugang zum Kulturbetrieb zu erhalten. Diesbezügliche Formen des Aufbegehrens „Ich will da hinein!“ halten sich in engen Grenzen. Es sind stattdessen die Kunst- und KulturvermittlerInnen, die ihre Aufgabe darin sehen, spezifische kulturelle Ansprüche von den Benachteiligten zu behaupten, um sie danach in einem Gestus der Unterstützung und der Hilfestellung zu realisieren, in der Hoffnung, damit das Interesse für die Sache der Kultur bei den bislang vermeintlich Interesselosen zu wecken.

Eine solche Haltung der wohlwollenden Anleitung im Umgang mit den eigenen kulturellen Vorlieben verhindert jede Einsicht, dass sich hinter dieser paternalistischen Form der Kommunikation ein ganz grundsätzlicher Konflikt verbirgt. Die Verweigerung, das Verhältnis zwischen Anbietern und Zielgruppen als konflikthaft zu erkennen, führt offenbar dazu – siehe französische Bibliotheken –  dass sich bei den stummen AdressatInnen die Absichten aller noch so gut gemeinten Versuche, „allen Menschen den Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen“ in ihr Gegenteil verkehren. Das Ergebnis wäre nicht kulturelles Empowerment sondern ein Anheizen einer Zerstörungswut bei denjenigen, die keine konstruktive Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu artikulieren und der (kulturellen) Verfasstheit der eigenen Existenz eigenständig Ausdruck zu geben.

Weit und breit keine Korrelation zwischen der Teilnahme an Kulturaktivitäten und der Interessensartikulation junger Menschen

Bleibt die Verwunderung, wie es sein kann, dass sich KulturpolitikerInnen im Anspruch sonnen, Kunst- und Kultureinrichtungen für benachteiligte Zielgruppen zu öffnen während diese daran arbeiten, ihre Zerstörungswerkzeuge zu schärfen. Dabei bräuchten Entscheidungsträger nur einen  Blick in eine Vielzahl von Studien zu werfen, die deutlich machen, dass „die Teilnahme an Kulturaktivitäten nicht einhergehen mit einem Interessenszuwachs der jungen Bevölkerung“. So ist die deutsche Kulturforscherin Susanne Keuchel just im Jahr der massiven Ausweitung der französischen Bibliotheksbrände in Bezug auf nachhaltige Wirkungen von Kulturvermittlung 2014 zum Schluss gekommen, dass eine vermehrte Teilnahme an Vermittlungsprogrammen „nicht dazu führt, dass sich die Interessen der jungen Leute im Sinne eines breiten Kulturbegriffs, der beispielsweise neben dem Besuch klassischer Kultureinrichtungen, wie Museen oder Theater, auch den Besuch eines Rock-, Popkonzerts oder Poetry-Slam-Veranstaltung mit beinhaltet, positiv verändern“.

Und sie wissen nicht, wie man ein Buch hält

Noch mehr relativiert werden die Versuche einer nachhaltig wirksamen Kulturvermittlung, wenn wir über die europäischen Grenzen schauen. Im Rahmen einer Tagung international vergleichender kulturellen Bildungsforschung in Utrecht berichtete David Johnson vom Centre for Comparative and International Education an der Universität Oxford über Forschungen zum Gebrauch von modernen Kulturgütern in ausgewählten Ländern. Seinen Ergebnissen zufolge wäre in einer Reihe von Ländern eine Mehrheit junger Menschen mit Errungenschaften des modernen Kulturbetriebs (Buch, Theater, Film…) überhaupt nicht vertraut, ohne dass sie das als einen Mangel erleben würden: Mehr als 50 Prozent von Achtjährigen zum Beispiel im Sudan oder im Jemen könnten nicht zwischen der Vorder- und der Rückseite von Büchern unterscheiden, beziehungsweise ob diese ihnen in lesbarer Ansicht oder auf dem Kopf gestellt gezeigt wurden. Jetzt weiß ich nicht, zu welchen Ergebnissen entsprechende Settings in Banlieues so mancher französischen Stadt geführt hätten; Johnsons Schlussfolgerungen liefen in jedem Fall darauf hinaus, den Anspruch eines verbindlich zu vermittelnden Kanons an kulturellen Ausdrucksformen zu hinterfragen und in der Kommunikation mit den befragten Menschen zu aller erst dort anzusetzen, wo diese in der Lage sind, Wünsche und Erwartungen zu artikulieren.

Bezogen auf den europäischen Kontext würde das bedeuten, mit der Bezeichnung von sozialen Gruppen als „Benachteiligte“ nicht nur die Ursachen für diese mitzuliefen, sondern auch die (politischen) Kräfte zu benennen, die eine solche herbeiführen (eine solche Klärung könnte auch zu einer zumindest partiellen Entlastung von VermittlerInnen führen, die sich so nicht mehr im überfordernden Auftrag sehen müssen, gegenüber benachteiligenden Umständen mit spezifisch kulturellen und damit denkbar ungeeigneten Mitteln kompensatorisch wirken zu sollen).

Ist das Desinteresse an Kulturpolitik in Österreich bereits allumfassend?

Noch brennen die österreichischen Kultureinrichtungen nicht (und werden es hoffentlich auch in absehbarer Zeit nicht tun); gleichzeitig zeichnen sich im Bereich der staatlichen Kunst- und Kulturverwaltung umfassende Veränderungen ab, die darauf hindeuten, dass kulturpolitisch bald kein Stein auf dem anderen bleiben könnte. Da ist einerseits der unübersehbare Wille des für Kunst und Kultur zuständigen Bundesministers Josef Ostermayer, auf Grund der angespannten Budgetsituation sukzessive eine Verlagerung der Förderpraxis vom Bundes auf die Länder (Stichwort: Kulturhoheit der Länder) vorzunehmen. Und da ist andererseits hinter den Kulissen  eine umfassende Strukturreform der Kunst- und Kulturverwaltung im Gange, die von einer Neuausrichtung der Bundestheaterholding bis zur Zusammenlegung der bisher getrennt geführten Kunst- und Kultursektionen im Bundeskanzleramt reicht.

Alle diese Maßnahmen bleiben bislang unterhalb  der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle und auch von kulturpolitischen Interessensvertretungen weitgehend unkommentiert. Es scheint einfach niemanden mehr ernsthaft zu interessieren, dass es in diesen Tagen im Gewand einer pragmatischen Verwaltungsreform zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung kulturpolitischer Ziele kommt. Keine Rede von entsprechenden Partizipationsangeboten, um ein Set an alternativen Szenarien zu entwickeln (warum nicht darüber nachdenken, einen ausgelagerten Österreichischen Kulturfonds nach dem Vorbild von „Arts Councils“ zu implementieren, der die Kunst- und Kulturförderung aus der staatlichen Bevormundung entlässt); statt dessen bleiben die Betroffenen bei der Ausformulierung  weitgehend ausgeschlossen. Eine doch sehr andere Vorgangsweise im Vergleich zu den Bemühungen etwa um das „Weißbuch zur Reform der Kulturpolitik“ in den späten 1990er Jahren, als es zum letzten Mal zu einer breiteren Diskussion um eine bestmögliche Organisation österreichischer Kulturpolitik gekommen ist (ohne freilich die Resultate in entsprechende Maßnahmen zu übersetzen).

Die Länder übernehmen die Lehrer und die Landeshauptleute profilieren sich als Totengräber staatlicher Bildungspolitik

Und noch auf eine weitere bedrohliche Entwicklung möchte ich hinweisen. Die VertreterInnen kultureller Bildung in Österreich mussten spätestens mit dem Amtsantritt von Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek zur Kenntnis nehmen, wie personenbezogen bildungs- und kulturpolitische Schwerpunkte mittlerweile verhandelt werden. Von einem Tag zum anderen wurde – auch das öffentlich weitgehend unkommentiert – der von ihrer Vorgängerin Claudia Schmid vorgetragene Schwerpunkt der Kulturvermittlung sang- und klanglos durch frauenpolitische Ambitionen der Amtsträgerin ersetzt.

 Jetzt folgt der nächste Streich, wenn sich der Verdacht erhärtet, die Zuständigkeit für das Unterrichtspersonal solle künftig auf die Bundesländer verteilt werden. Auch in diesem Fall handelt es sich – scheinbar – bloß um einen Akt der Verwaltungsreform im föderal verfassten Kleinstaat Österreich. Und doch steckt wesentlich mehr dahinter: Immerhin hat der australische Bildungsforscher John Hattie anhand einer Metaanalyse einer Vielzahl von internationalen Studien zu den wirkungsvollsten pädagogischen Faktoren in der aktuellen Schulentwicklung aufgezeigt, dass es vorrangig die LehrerInnen sind, die einen guten Unterricht ausmachen.

Und genau um diese, beziehungsweise um die politische Zuständigkeit tobt seit vielen Jahren ein erbitterter Kampf zwischen dem Zentralstaat und den neun Bundesländern. Mit der Entscheidung, der durch eine Reihe von Gefechten mit den konservativen Kräften gezeichneten Bildungsministerin, den politischen Begehrlichkeiten der Länder nachzugeben, zeichnet sich jetzt per Erschöpfung eine Lösung ab, im Rahmen dessen das Bildungsministerium als Motor von Schulentwicklung seine Selbstabschaffung betreibt. Offenbar als persönlicher Befreiungsschlag inszeniert (sollen sich doch künftig die Länder mit den Lehrergewerkschaften herumraufen) begibt sich damit der Bund einer zentralen Steuerungsmöglichkeit und öffnet der Durchsetzung vielfältigster Partialinteressen Tür und Tor.

Nachdem die Lehrpläne an Österreichs Schulen ohnehin nur als nur wenig relevant angesehen werden und sich angesichts einer konservativen Grundstruktur des Landes gepaart mit bildungspolitischem Dilettantismus auch keine Lösung für eine gemeinsame Schule der 10 bis 14-jährigen abzeichnet, bedeutet dieses Zugeständnis an die Begehrlichkeiten einzelner Provinzkaiser de facto das Ende staatlicher Bildungspolitik in Österreich. Und die Brandstifter aller Art erhalten einmal mehr Auftrieb.

Bildnachweis: La Petite Bibliothèque Ronde à Clamart © Marie D Martel @flickr.com

Auf der Suche nach Alternativen

An den Rändern Europas brodelt es. Schon dringt der Lärm der Kanonen bis in unsere heimeligen Wohnzimmer und immer mehr junge Menschen erklären sich bereit, am gewaltsamen Kampf hier oder anderswo teilzunehmen. Das permanente Waffengeklirr auf den Bildschirmen relativiert zunehmend die Illusion, zumindest im Zentrum des Kontinents sei der Krieg überwunden und in eine Phase des „ewigen Friedens“ (Immanuel Kant) eingetreten.

Geändert hat sich der Charakter dessen, was wir bislang gemeinhin als Krieg verstanden haben, auch wenn nach wie vor Menschen darin umkommen. Spätestens mit dem Überhandnehmen krisenhafter Erscheinungen tat sich selbst der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher schwer, eindeutige Grenzen zwischen Krise und Krieg zu ziehen. Sprach er am Anfang noch von einem Krieg der Generationen, so driftete seine Analyse kurz vor seinem Tod in Richtung Krieg reich gegen arm. Der begnadete politische Pamphletist und Kabarettist Georg Schramm hat dazu in seinem Vortrag anlässlich eines Jubiläums der Gemeinschaftsbank Leihen und Schenken einen prominenten Zeugen aufgerufen, wenn er den Großinvestor Warren Buffett mit der Aussage zitiert, er, Buffett wirke an führender Stelle mit  in einem globalen Krieg reich gegen arm und habe vor, diesen zu gewinnen.

Dieser Kampf wurde bislang als Ausdruck einer, seit dem Zusammenbruch des Ostblocks global dominanten kulturellen Hegemonie als weitgehend alternativ verkauft. Die Unterschiede ließen sich allenfalls im Grad der Radikalität ihrer Durchsetzung festmachen. So vermeinen einzelne Vertreter mit der Behauptung der Omnipotenz des Marktes auch gleich die aus ihrer Sicht überfällige Entsorgung demokratischer Errungenschaften organisieren zu müssen (eine bedrohliche Entwicklung, die angesichts der zunehmenden Stärke rechtsradikaler Parteien das Diktum Max Horkheimers in Erinnerung ruft: „Wer über Kapitalismus nicht reden will, soll über den Faschismus schweigen“).

Die neu entfachten Hoffnungen auf politische Alternativen

Zuletzt erschien die neoliberale Einbahnstraße in Richtung „nowhere-land“ sosehr zu einer Autobahn ausgebaut, dass 2011 selbst Schirrmacher, als dem intellektuellen Hüter bürgerlichen Bewusstseins, erste öffentliche Zweifel kamen. Aber erst mit dem jüngsten Wahlsieg von Syriza wird erstmals auch einem breiteren europäischen Publikum bewusst, dass da möglicher Weise grundsätzlich etwas nicht stimmt. Und es gibt ein erstes Aufatmen unter der bleiernen Decke der herrschenden Verhältnisse. Als wäre das Tabu verordneter Alternativlosigkeit einer politisch-ökonomischen Hegemonie gebrochen, die uns in medialer Einstimmigkeit einzureden versuchte, die Verhältnisse würden sich nur durch Vermehrung von Leiden der Vielen irgendwann zum Besseren wenden ohne mitzutransportieren, dass dieser Weg immer tiefer in den Abgrund führen könnte. (dissidente Analysten wie Heiner Flassbeck, die vermeinen, Europa brauche einen Neuanfang wurden hingegen systematisch aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt)

Plötzlich ist sie wieder auf der Tagesordnung, die Idee von einem anderen Zusammenleben. Und  ihre Umsetzung startet nicht im Zentrum sondern von der Peripherie, geographisch an den südlichen Rändern Europas und soziologisch von sozial benachteiligten Gruppen, die nach Jahren der Bevormundung ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen wollen. Die kontroversen Debatten rund um die Ansprüche der neuen griechischen Führung machen unmittelbar deutlich, dass ihre Realisierung nicht von alleine kommt. Sie will erkämpft werden in einer Vielzahl von zum Teil sehr dreckigen Auseinandersetzungen. Ihr Erfolg hängt ab von einem grundsätzlichen Gesinnungswandel, vor allem bei denen, denen bislang die Aufgabe zugedacht war, die negativen Konsequenzen der Krise in Form von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Verelendung zu tragen.

Konsequenzen für die Kulturpolitik

Die aktuellen Entwicklungen im Kampf um politische Deutungs- und Entscheidungsmacht bringen mich zur Frage, ob die Radikalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch die Kulturpolitik dazu zwingt, einige ihrer Grundannahmen in Zweifel zu ziehen und sich im Kampf der Interessen neu zu positionieren.

Obwohl wir seit nunmehr 50 Jahren die Anwendbarkeit von Konzepten eines „weiten Kulturbegriffs“ diskutieren, konzentrierten sich die kulturpolitischen Ansprüche der letzten Jahre entlang des herrschenden ökonomischen Paradigmas ungebrochen auf den Erhalt eines etablierten Kulturbetriebs, den es einerseits galt, für die herrschenden Marktverhältnisse zuzurichten und andererseits – als Legitimationsstrategie zur Aufrechterhaltung öffentlicher Privilegierung – gegenüber denjenigen sozialen Gruppen zu öffnen, die bislang kein Interesse an seinen Angeboten gezeigt haben.

Diese Strategien – so meine Vermutung – gehen immer mehr an den Lebenswirklichkeiten derer, die so angesprochen werden sollen, vorbei. Die dabei zutage tretende Unfähigkeit, sich kulturpolitisch neu zu orientieren berührt ein theoretisches Problem, wenn es gilt, eine handlungsleitende Charakterisierung der potentiellen NutzerInnen und ihr kulturelles Verhalten vorzunehmen.

Die NutzerInnen als die großen Unbekannten

Das sind zum einen die weithin akzeptieren Vorstellungen Pierre Bourdieus, demzufolge unterschiedliche soziale Gruppen mit einer unterschiedlichen Menge nicht nur an finanziellem sondern auch kulturellem Kapital ausgestattet sind. Sein Besitz stünde für die Herausbildung des jeweiligen sozialen Habitus. Die Form der sozialen Hierarchie würde zumal die Ärmeren daran hindern, in vollem Ausmaß am kulturellen Leben teilzunehmen. Aufgabe des öffentlichen Kulturbetriebes wäre es, diese Ungleichheiten zu beheben und möglichst alle Menschen an ihren (als besonderer gesellschaftlicher Wert erkannten) Angeboten teilhaben zu lassen.

Dementgegen haben in den letzten Jahren Milieutheorien an Bedeutung gewonnen, nach denen sich die Bevölkerung in unterschiedliche, scheinbar horizontal nebeneinander verfasste Milieus unterteilen lassen würde, deren Mitglieder sich an ihren je besonderen Lebensstilen erkennen würden. Diese inkludierten auch ein spezifisches kulturelles Verhalten, das als jeweilige Zuschreibung nicht beliebig verändert werden kann und unter dem Vorzeichen zunehmender Pluralisierung der Gesellschaft auch gar nicht verändert werden will. Der wesentliche Unterschied zwischen Sinus-Milieu und Bourdieus Habitus liegt vor allem im Verlust einer politischen Sicht. In ersterem Modell tummeln sich die unterschiedlichen sozialen Gruppen scheinbar unvermittelt nebeneinander ohne dass ihre wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse noch einmal kritisch gewürdigt würden.

Warum soll ich fremdgehen?

In einer solcherart ideologisch eingeebneten Kulturlandschaft stellt sich die Frage des Zugangs zum Kulturbetrieb ganz neu: Warum sollen Menschen eines bestimmten Milieus, dessen Mitglieder sich von der Wertschätzung des öffentlichen Kulturangebotes verabschiedet haben, dieses (trotzdem) wahrnehmen? In dem Maße in dem sie sich entlang der kulturellen Spielregeln der eigenen Gruppe verhalten, bleiben ihnen die kulturellen Angebote anderer Milieus notwendiger Weise fremd;   es macht für die Aufrechterhaltung ihres eigenen Lebensstils auch gar keinen Sinn, sich daran zu beteiligten. Da mag es einige „Omnivores“ geben, die ihren Ehrgeiz darin setzen, sich zwischen alle kulturellen Stühle zu setzen; kulturpolitisch stellen sie eine minoritäre und daher zu vernachlässigende Gruppe dar.

Warum es lohnen könnte, sich (wieder) mit Antonio Gramsci zu beschäftigen

Auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma bin ich nochmals auf Antonio Gramscis Konzept der „Kulturellen Hegemonie“ gestoßen. Im Sinne des „weiten Kulturbegriffs“ umfasst auch sein Kulturbegriff die Vereinheitlichung und Verallgemeinerung von Lebens-, Denk-  und Fühlweisen unterschiedlicher Gruppen. Zugleich – und das macht seine Überlegungen politisch – drückt sich in seiner jeweiligen Bestimmung der Kampf um Hegemonie und Subalternität aus. Insofern verweigert Gramsci „Kultur“ die Anerkennung als etwas per se „Höheres“, das den Führungsanspruch bestimmter sozialer Gruppen (für ihn als ersten Vorsitzenden der italienischen KPI waren es noch ganz selbstverständlich Klassen) als natürlich und legitim erscheinen lässt. Kultur per se ist ihm weder gut noch schlecht. Vielmehr ergibt sich ihre Wirksamkeit für ihn erst im Einsatz bei der Durchsetzung jeweiliger Gruppeninteressen, den er als Emanzipation von Klassenherrschaft und Befreiung aus Subalternität beschreibt.

In Bezugnahme auf ein  Zitat des  italienischen Literaturkritiker Francisco de Santis „Kein Standhalten ohne Überzeugung. Und keine Überzeugung ohne Kultur“ macht Gramsci deutlich, dass „Kultur“ keinen Zustand darstellt, vielmehr ist ihm „Kultur“ ein Movens im politischen Kampf, das um seine gesellschaftliche Stellung weiß und im Konstatieren der eigenen Subalternität nach Überwindung und Emanzipation sucht.

Umgelegt auf den öffentlichen Kulturbetrieb wird das sich aus Gramscis Denken ergebende Dilemma unmittelbar evident. Immerhin wurden seine wesentlichen Bestimmungsstücke zur Repräsentanz einer ganz spezifischen, sich selbst als „höher“ interpretierenden sozialen Schicht errichtet und betrieben. Als solche stellte sie durchaus einen Verallgemeinerungsanspruch ohne diesen freilich konkret einzulösen. Stattdessen konnten all diejenigen, die dieser Gruppe nicht angehörten, schon an der architektonischen Ausgestaltung unmittelbar erkennen, dass sie nicht dazu gehörten und als „Kulturlose“ gefälligst draußen zu bleiben hätten. Spätestens mit der Eroberung des Staatsapparates durch das Bürgertum erwies sich der öffentliche Kulturbetrieb als wichtiges symbolisches Werkzeug im Kampf um kulturelle Hegemonie, dem die Aufgabe zukam, den solcherart Ausgeschlossenen ihren Status als Subalterne einzuschreiben.

Wann werden alle so wie ich?

Den sozialdemokratischen Jahrzenten der 1970er Jahre und folgenden ist zugute zu halten, dass Politik in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen darauf gerichtet war, gesellschaftliche Integrationstendenzen zu befördern. Sie war geleitet von der Utopie, früher oder später würden sich alle Mitglieder der Gesellschaft in einem mittelständischen Milieu zusammenfinden und auf diese Weise auch gemeinsam das kulturelle Angebot schätzen lernen. Die Rede war von einer demokratischen Kultur, die früher oder später die Klassenschranken überwinden und von einem Kulturbetrieb, der von seiner Zuschreibungsfunktion entbunden würde. In ihm tätige VermittlerInnen (der überwiegende Teil von ihnen selbst aus bürgerlichem Milieu) konnten sich weitgehend unangefochten von der Hoffnung inspirieren lassen, alle NutzerInnen würden früher oder später wie sie.

Es blieb einer kleinen alternativen Szenen vorbehalten, diesem Angebot zu misstrauen und stattdessen ihre eigen-sinnigen Kulturvorstellungen zu entwickeln, um mit ihren Überzeugungen am Kampf um die kulturelle Hegemonie teilzunehmen. Heute wissen wir besser Bescheid über die Elastizität des öffentlichen Betriebes, dem es sukzessive gelungen ist, all diese Versuche entweder als Teil des kulturellen Mainstreams zu integrieren und für die eigene Weiterentwicklung zu nutzen oder im Getriebe der mehr als ungleichen Konkurrenzverhältnisse zu zerstören.

Entlang einer solchen Analyse scheinbarer Homogenisierung bleibt unberücksichtigt, dass sich der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang mittlerweile grundsätzlich geändert hat. Auch wenn da oder dort noch sozialdemokratische Parteien mitregieren, so haben sie ihren Anspruch auf sukzessive Vermittelständigung sozial Benachteiligter längst aufgegeben. Vielmehr scheint es, als hätten ihre führenden Köpfe angesichts des ausgebrochenen Krieges von reich gegen arm weitgehend aufgegeben, sich für die Interessen der VerliererInnen einzusetzen. Weit und breit kein Konzept der Regierenden, wie es gelingen könnte, der schleichenden Verarmung, die in Teilen Europas bereits weit in die etablierten Mittelschichten hineinreicht, noch einmal wirksam entgegen zu wirken.

Aus dieser Form der politischen Resignation ließe sich schließen, der Kampf um kulturelle Hegemonie wäre zumindest fürs Erste verloren. Wäre da nicht die Hoffnung aus dem Süden; gäbe es da nicht Menschen,  die nicht mehr  bereit sind, sich mit ihrer Rolle als Subalterne zufrieden zu geben und beginnen, in Alternativen zu denken und früher oder später auch zu handeln.

Dieser Kampf um Alternativen, der früher oder später ins Zentrum Europas (und damit auch nach Österreich) überschwappen wird, wird auch den Kulturbetrieb vor eine grundsätzliche Entscheidung stellen. In seiner aktuellen Verfasstheit repräsentiert er ganz offensichtlich eine strukturelle Verweigerung, die wachsenden Brüche und Verwerfungen in der Bevölkerung bei seiner künftigen Positionierung zu thematisieren. In seiner jetzigen Form mutiert er zum Affirmator bestehender Gewaltverhältnisse. An dieser Zuschreibung ändert auch der Umstand, dass Menschen auch sozial benachteiligter Gruppen schon mal an einem  Vermittlungsprogramm teilnehmen, nur sehr wenig. (wie wir selbst in einer Reihe von Projekten feststellen können, trägt die Teilnahme an solchen Programmen strukturell eher zur Verfestigung von Rollenzuschreibungen innerhalb der sozialen Hierarchie als zu ihrer Überwindung bei).

Die neuen Aufgaben für VermittlerInnen als die „organischen Intellektuellen“ der Krisenverlierer

Was wäre die Alternative? Antonio Gramsci hat auch dazu einen Vorschlag in der Funktion des „organischen Intellektuellen“ gemacht. Es handelt sich dabei um Akteure, die in der Lage sind, die konkrete Situation benachteiligter Gruppen zu durchdringen, zu verstehen und auf dieser Basis und eingebettet in eine tiefverankerte Vertrauensstellung überzeugende Konzepte ihrer Überwindung zu entwickeln. Wenn ich die KulturvermittlerInnen-Szene von heute überblicke, so liege ich mit meiner Vermutung wahrscheinlich nicht falsch, wenn ich annehme, dass das Gros der Akteure mit einer (bildungs-)bürgerlichen Herkunft ausgestattet ist. Als solche ist ihnen die „Kultur“ derer, die sie als Mitglieder sozial benachteiligter Zielgruppen ebenso identifiziert wie stigmatisiert haben, weitgehend fremd. Geschweige denn verfügen sie über das notwendige Vertrauen, Bewusstsein über den Status der Subalternität dieser „Kultur“ herzustellen und an Konzepten ihrer Überwindung mitzuwirken. Und doch wäre genau das das kulturpolitische Gebot der Stunde, wenn es um die Forderung der Einbeziehung sozial benachteiligter Zielgruppen geht.

In der jetzigen Form, so meine These, kann das nicht gelingen. Als „organische Intellektuelle“ sozial privilegierter Gruppen vertreten VermittlerInnen in erster Linie die Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse; alles andere würde sie überfordern und würde von den Benachteiligten wohl auch nicht als überzeugend empfunden, so idealistisch die einen oder anderen Versuche auch geprägt sein mögen.

Hier liegt eine der zentralen Ursachen für die Notwendigkeit, Kulturpolitik von der Peripherie her neu zu denken. Syriza, Podemos und Co sind vielleicht nur Versuchsballone, die schon morgen an der herrschenden Alternativlosigkeit zerbrechen. Aber die Hoffnung auf Alternativen ist wiedergeboren und wird sich so schnell nicht mehr zerstören lassen.

Werden sich KulturvermittlerInnen mit KrisenverliererInnen solidarisieren?

Um die Hoffnung auf eine „andere Politik“ aufrecht zu erhalten, könnte dem Kulturbetrieb eine wichtige Rolle zukommen, wenn seine RepräsentantInnen es als ihre Aufgabe sehen, mitzuhelfen, im Kampf um die künftige kulturelle Hegemonie für und mit KrisenverliererInnen überzeugende Zukunftsperspektiven von heute zu entwickeln. Zentral erscheint mir in dem Zusammenhang gerade die angesprochene Rolle der VermittlerInnen, die heute vor der Herausforderung stehen, sich mit den KrisenverliererInnen zu solidarisieren.  In dem Maß, in dem sie sich selbst ermächtigen, ihre (objektive) Rolle im gesamtgesellschaftlichen Gefüge zu reflektieren, könnten sich zumindest einige ermutigt fühlen, symbolisch die Seiten zu wechseln. Ihre Funktion beschränkte sich dann nicht mehr in der Verfolgung der hegemonialen Interessen ihrer Betriebe sondern in erster Linie der Menschen, denen als Benachteiligte von Heute die Herkules-Aufgabe zukommen wird, sich im Kampf um kulturelle Hegemonie durchzusetzen (und dabei den gigantischen Steinbruch an Artefakten und Erfahrungen des Kulturbetriebs zu nutzen). Darin läge ihre vorrangige Aufgabe angesichts des Kampfes reich gegen arm.

Hinweis I: Symposium „Peripheries.Power.Cultural Policies“am 22. 4. 2015 Angewandte

A propos: Am 22. April 2015 findet unter dem Titel „Peripheries.Power.Cultural Policies“ ein eintägiges internationales Symposium an der Universität für angewandte Kunst statt, das von mir ausgerichtet wird.

Hinweis II: Wenn Djerassi Recht hat, brauchen wir auf „unsere Kultur“ nicht stolz zu sein,

Vor wenigen Tagen ist der Chemiker und Schriftsteller Carl Djerassi gestorben. In einem seiner letzten Interviews machte er klar, dass produktionsreife Konzepte für die „Pille für Männer“ längst in den Schubladen internationaler Pharmabetriebe liegen. Dass diese nicht längst in den Apotheken verkauft werden, belegt die Dominanz des Kulturellen über die Ökonomie. Und ist doch ein unglaublicher Skandal.

 

Bildnachweis: La Résistance —16mai 2012 ©Alexis Gravel Flickr.com