EDUCULT im Gespräch mit Abdallah Shmelawi
Der 1982 im Irak geborene Theaterregisseur Abdallah Shmelawi lebt und arbeitet seit 2006 in Wien. Er absolvierte sein Studium am Kunstinstitut Bagdad und war einige Jahre als Regisseur und Schauspieler tätig, war auf internationalen Festivals zu Gast und erhielt für seine Arbeit mehrere Preise, bevor er aus politischen Gründen das Land verlassen musste und nach Wien kam. Im Gespräch mit EDUCULT erzählt er von seinem Leben und der Theaterszene in Bagdad, der politischen Situation im Irak, von seiner Ankunft in Wien und seinen Theater- und Performanceprojekten in den beiden Städten.
EDUCULT: Herr Shmelawi, sie sind in Bagdad geboren?
Abdallah Shmelawi: Ja. Aber als Künstler bin ich Iraker, Österreicher und Wiener gleichzeitig. Oder Künstler aus Bagdad. Das ist ein Unterschied, in der Kunst gibt es diese Grenzen nicht. Ich denke, aus diesem Grund bin ich Künstler. Als Kind war ich in unserem Land in jeder Beziehung eingesperrt. Es gab ja auch noch keine Mobiltelefone oder Internet. Aber ich habe immer den Himmel und die Erde angeschaut und gedacht: das gehört alles mir. Die jungen Leute bei uns träumen von einer anderen Welt, sie wollen wissen wie diese Welt aussieht. Ich würde sagen, dass ich deshalb mit dieser Krankheit geboren bin, der Krankheit Kunst. Als Künstler gehört dir die ganze Welt.
Vielleicht könnten Sie uns etwas über sich und ihre Arbeit erzählen? Was hat Sie überhaupt nach Österreich geführt, welche Erfahrungen und vielleicht auch Wunschvorstellungen entwickeln Sie dabei?
Mein Beruf ist Theaterregisseur. Es gibt in Bagdad ein Kunstinstitut, das wurde von Großbritannien und dem Irak aufgebaut. Dort habe ich fünf Jahre lang studiert und mit dem Diplom für Schauspiel und Theaterregie abgeschlossen. In der Zeit von Saddam Hussein hatte man es als Kunststudierender nicht einfach, da musste man immer aufpassen. Auch mit Büchern, egal welche Bücher. Keiner durfte etwas gegen die Al Baʿth-Partei von Saddam schreiben oder sagen. Manchmal haben wir Studenten Bücher versteckt, zum Beispiel Albert Camus „Caligula“, oder „Don Quichote“, nur mit Shakespeare hatte Saddam keine Probleme (lacht). Dieses Institut ist heute übrigens geschlossen, immer noch. Danach war ich noch 2 Jahre an der Kunstakademie, dort habe ich aber keinen Abschluss, weil der Krieg zwischen Amerika und Saddam begonnen hat. Da hat sich unsere Welt umgedreht. Unter Saddam Hussein gab es nur eine Partei. Man wusste mit wem man es zu tun hatte und auch ungefähr was verboten war und wie weit man gehen konnte. Danach kamen die religiös aggressiven Leute. Und es gab plötzlich mehr als 150 Parteien. Niemand kannte diese Leute und niemand wusste mehr wer einem gut oder böse gesinnt ist. Es kamen Gruppen aus dem Iran, ein paar aus Großbritannien, andere aus Amerika, alle hatten ihre eigene Armee und schlugen sich auf der Straße. Das war genau die Zeit meiner Diplominszenierung und es war schwierig Menschen zu finden, die sich in einen Theatersaal setzen um ein Theaterstück anzuschauen. Ich habe die Leute also beim Haupttor einzeln reingelassen und sie mussten durch ein Labyrinth aus schwarzen Stoffbahnen bis zum Ausgang gehen. Das Stück hat dann genauso lange gedauert, wie es gedauert hat bis die Leute wieder draußen waren. Es hat sich niemand verbeugt am Schluss oder so. Da zu der Zeit in Bagdad auch oft der Strom ausgefallen ist, habe ich nur so beleuchtet, wie die Leute zu der Zeit auch zuhause Licht hatten. Mit Taschenlampen, die oft nur mehr sehr schwach leuchteten oder Petroleumlampen. An einer Stelle waren nackte Schauspieler zu sehen, das war extrem gefährlich, weil das wurde von den religiösen Gruppen als Zeichen gewertet, dass wir Kommunisten sind, oder zumindest Ungläubige. An einer anderen Stelle war ein Mann mit riesigem Schwanz und einer Fahne zu sehen. Und dann war da ein Spiegel mit einem Fußabdruck aus Ton. Wenn man da reingeschaut hat, hatte man einen staubigen Fußabdruck im Gesicht. Dieser Fußabdruck ist ein Symbol für die vielen Soldaten, die desertiert sind. Um nicht zu sterben, haben sie ihre Uniform ausgezogen und um Zivilkleidung gebettelt. Die meisten haben keine Schuhe bekommen und sind barfuß durch die Straßen gelaufen. Das alles war in Bagdad. Ich habe dort am modernen Theater Regie gemacht und auch als Schauspieler gearbeitet.
Das heißt, Sie haben fertig studiert und haben dann auch…
…ja, gearbeitet. Ich habe als Student auch außerhalb der Akademie und dem Institut gearbeitet. Am internationalen Theater und einem Regietheater. Es gab früher viele Theater in Bagdad, aber im Moment haben wir nur noch eines.
Ich kenne mich so wenig aus. Entschuldigung dafür. Hat es in Bagdad, im Irak, eine längere Theatertradition gegeben? Sie sagen, es gibt dieses Ausbildungsinstitut, es gibt Einflüsse aus dem UK dazu. Aber gibt es so etwas wie eine Theaterszene?
Die gibt es, doch. Ich habe auch zwei Theaterstücke selbst geschrieben und inszeniert. In meinem letzten Stück, es hieß „Notfall“, haben wir die Politik und die Religionen sehr stark kritisiert. Nach dem Theater haben die Terroristengruppen uns beschossen. Ein Schauspieler hatte eine Kugel im Bauch, er lebt heute in Schweden und arbeitet als Tänzer.
Das heißt, das war eine politische Agitation und die Politik hat mit Waffen geantwortet?
Ja, man kann nicht sagen, ob es die Politiker oder die islamistischen Milizen waren. Generell war es für Künstler sehr schwierig. Es gab auch keine Schauspielerinnen. Wenn ich in meinem Theaterstück ein Mädchen brauchte, habe ich manchmal die Szene selbst gespielt. Es gab nur zwei Frauen, die mit uns studiert hatten. Die haben beide einen Brief bekommen, dass sie ihr Leben verlieren, wenn sie Theater spielen. Die eine ging nach Ägypten und die andere nach Schweden oder Kanada. Ich habe keinen Kontakt mehr.
Das heißt, wenn eine Frau Theater spielen wollte, dann wurde sie mit dem Tod bedroht?
Genau. Heute haben wir offiziell keine Probleme mehr. Der Irak hat einen gewählten Präsidenten. Offiziell ist das alles wieder erlaubt. Aber im Irak regiert nicht dieser Präsident, das ganze System ist korrupt. Überall gibt es Spitzel und Selbstjustiz. Die Zivilbevölkerung ist ja auch in hohem Grad bewaffnet.
Sie erzählen von dem einschneidenden Erlebnis, dass Sie bedroht worden sind von den Terroristen. Was ist dann passiert?
Dann bin ich hier her nach Wien gekommen.
Warum sind Sie auf die Idee gekommen, ausgerechnet nach Wien zu kommen?
Am Anfang dachte ich nicht an Wien oder Deutschland. Ich dachte an Großbritannien, London, weil ich da Familie von vor 1970, vor der kommunistischen Zeit, habe. Mein Vater schickte mich dorthin, weil er dachte, das ist ein sicherer Ort. Ich hatte vorher keinen Kontakt zu dem Mann, der mich hierhergebracht hat, mein Vater hat ihm das Geld gegeben. Der Mann hat mich hier in Wien gelassen. Ich habe auf der Straße ein Mädchen gefragt, wo es hier Theater oder Museen gibt. Mit der Straßenbahn 2 vom Schwedenplatz hat sie mit mir eine Runde gemacht und mich hierher ins Museumsquartier gebracht. Da ist dieses verkehrte Haus im Dach des Museums gesteckt, von Erwin Wurm. Hier bin ich lange alleine gesessen. Es war den ganzen Tag ruhig. Ich kannte hier niemanden und hatte nur die Telefonnummer von einem befreundeten Bildhauer, der an der Angewandten studiert. Den ganzen Tag habe ich versucht, ihn zu erreichen und zu treffen. Dann kam er und fragte mich, ob ich Hunger habe und ich sagte, ich habe Durst nach Bier. Viele Jahre im Krieg habe ich kein Bier bekommen. 2003 bis Ende 2006 wollte ich ein Bier trinken, aber es gab keines mehr, weil die Islamisten es verboten hatten. Man konnte wegen einer Dose sein Leben verlieren. Das erste Bier habe ich in der Kantine im MQ getrunken. Am nächsten Tag hat mein Freund mich nach Traiskirchen ins Erstaufnahmezentrum gebracht.
Wie haben Sie Zugang zum Theater hier in Österreich gefunden? War das schwierig? War es einfach? Haben Sie sich unterstützt gefühlt oder war es brutal?
Ich mag das Theater hier, aber ich habe es nicht so mit der klassischen Schule. Im Studium habe ich natürlich über klassisches Theater gelernt. Aber schon während des Studiums habe ich mir eine eigene Meinung zu klassischen Stoffen gebildet. Die Regie interpretiert diese Stoffe neu und kann zum Beispiel Hamlet oder Macbeth eine ganz neue Bedeutung geben. Das habe ich auch schon in Bagdad gemacht. Erste Zugänge zum Theater hier habe ich über die Kulturabteilung in Traiskirchen bekommen. Dort war ein guter Mann, dem habe ich gesagt „Ich will Theater machen“, er hat mir geholfen. Ich habe den Kulturpass bekommen und er hat mir jede Woche ein Ticket für die Lokalbahn nach Wien besorgt. So war ich jede Woche im Volkstheater oder im Museumsquartier in der Halle G. In Traiskirchen selbst habe ich mit anderen Menschen, die dort gelebt haben, an einem Stück gearbeitet. Wir haben mitten im Winter im Garten geprobt. Aber der Direktor hat uns verboten, zu dem Stück Leute von draußen einzuladen. Wir durften es auch nicht außerhalb des Aufnahmezentrums aufführen. Ich habe nicht lange in Traiskirchen gelebt. Eine Woche danach habe ich eine Grafikstudentin der Universität für Angewandte Kunst kennengelernt. Sie hat mir bald ein Zimmer vermietet, in dem ich gelebt habe bis meine Frau und meine drei Kinder hierherkamen. Über sie habe ich auch Kontakt zu den Studenten der Angewandten bekommen. Da war ich zum Beispiel auf Diplomfeiern und so. Das war am Anfang alles ziemlich unglaublich für mich. Hier habe ich auch begonnen, Live-Performances zu machen. Ich habe unglaublich viele Projektideen in der Schublade. Aber ihre Umsetzung ist kompliziert, wenn man wenige Kontakte hat und das System noch nicht so gut kennt. Trotzdem bin ich jetzt hier, ich habe keine Angst mehr und lebe in Freiheit. Wenn mich heute jemand fragt wo ich geboren bin, sage ich oft: „In Wien, im Museumsquartier“. Weil seit dem 7. Dezember 2006 bin ich in Wien, das ist wie ein neuer Geburtsort und ein neues Geburtsdatum.
Das heißt, Sie sind Wiener geworden. Können, wollen Sie sich vorstellen, wieder einmal nach Bagdad zurück zu gehen, wenn sich die Situation dort normalisiert?
Ich denke mir im Moment, ich werde mir hier ein Grab kaufen. Ich habe gehört, es gibt so ein System hier. Die Gräber meiner Familie existieren nicht mehr oder keiner weiß wo sie sind. Wenn ich hier ein Grab habe, dann habe ich meine Ruhe. Wenn es in Bagdad Sicherheit gibt und ich dort Kunst machen kann, will ich gerne auch dort sein. Aber aktuell ist das sehr schwierig. Man kann den Politikern nicht trauen. Sie sagen „kommt nach Bagdad“, aber dann weißt Du nicht, was du dort bekommst.
Ihre Frau, ihre Kinder sind nachgekommen. Ihre Eltern leben noch dort?
Meine Frau und Kinder sind fast ein Jahr nach mir hierhergekommen. Zuerst habe ich eine Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling bekommen und dann habe ich mit dem Roten Kreuz gearbeitet. Ich bin immer noch als Freiwilliger beim Roten Kreuz. Auch in Bagdad habe ich während dem Krieg beim italienischen Roten Kreuz gearbeitet. Es gab bei uns kein Krankenhaus, keine Medikamente, gar nichts. Wir waren eine Künstlergruppe und arbeiteten auf der Straße und in einem verbrannten Theatergebäude, aber in der Freizeit haben wir mit dem italienischen Roten Kreuz gearbeitet. Zur selben Zeit habe ich auch als Fotografie Assistent bei der französischen Presse gearbeitet, die hatten amerikanische Security. Deshalb habe ich Probleme bekommen, weil ich aus einem schiitischen Bezirk komme. Die Leute haben erzählt, dass ich den Amerikanern und den Fremden nahe stehe. Verrückte Leute.
Aber sind Sie noch mit Ihren Eltern in Kontakt?
Ja. Meine Mutter ist 2010 an Krebs verstorben, als ich schon hier war. Niemand hatte gewusst, dass sie Krebs hatte. Aber mein Vater und meine Schwester leben immer noch in Bagdad. Mein Vater hat wieder geheiratet. Im Irak sind wir eine kleine Familie. Mein Vater hatte nur zwei Kinder. Er war Fußballer in der irakischen Nationalmannschaft und ist jetzt dort Trainer. Als Fußballer war er auch viel hier in Europa unterwegs.
Wie geht es Ihnen heute hier mit dem Theaterbetrieb in Österreich? Wie erleben Sie das? Kriegen Sie Engagements?
Bis jetzt habe ich in Österreich nicht viel am Theater gearbeitet. Ich habe „Bagdad in Love“ im WUK gemacht. Da hat mir auch der „Kubik Verein“ geholfen, das ist ein Studentenverein der Angewandten. Ich habe Freunde aus der Schweiz, Syrien, den Niederlanden und Schweden eingeladen, und Abdul Rahman, den befreundeten Bildhauer. „Bagdad in Love“ wurde 3 Tage lang eröffnet. Am ersten Tag wurde die Ausstellung eröffnet. Am zweiten Tag gab es ein Stück von Nigar Hasib und Shamal Amin vom Lalish Theater Labor, das sind zwei irakische Kurden, die schon lange hier leben und hier Theaterwissenschaft studiert haben. Am dritten Tag habe ich eine Live-Performance gemacht. Das war meine erste Performance, die live und spontan entstanden ist. Fix war nur das Material, das hatte mir mein Onkel aus Bagdad geschickt: Wenn bei uns jemand stirbt, dann wird ein großes Stück schwarzer Stoff beschrieben und aus dem Fenster gehängt. Darauf steht ein Satz aus dem Koran, der Name des Toten, das Sterbedatum und die Todesursache. Ich habe also meinen Onkel angerufen, der viele Kontakte im Bezirk hat, und ihn gebeten, diese Stoffe für mich zu sammeln. Zu der Zeit starben sehr viele Leute bei uns im Bezirk, häufig durch Bomben. Manchmal waren es 50 Personen, davon 4 Freunde, 3 Bekannte, 2 von der Familie und so weiter. Keiner weint, niemand kann etwas tun. Man sitzt nur da und sagt: was soll ich machen? Ich habe 18 solche Stoffe bekommen. Sie kamen in einem Plastiksack. Ich wollte den Sack aufmachen, aber ich habe es nicht geschafft. Ich habe mir gedacht, dann lasse ich es lieber, und habe einen Kaffee getrunken. Dann habe ich meinem Freund Abdul Rahman, dem Bildhauer gesagt, dass ich nicht die Kraft habe, mein Herz so aufzumachen. Weil mein Onkel mir gesagt hat, dass er die Stoffe aus unserem Bezirk genommen hat. Ich hatte Angst.
Sie kennen die Leute.
Ja. Mein Onkel hat mir nicht gesagt, ob jemand von der Familie dabei ist. Er hat mir nur gesagt, dass ich sicher ein paar von den Leuten kenne. Auch mein Freund konnte das nicht anschauen. Ich habe gesagt, „okay dann lassen wir es, aber ich will eine Performance darüber machen.“ Am Tag der Performance waren auch andere Freunde von mir da, alle Iraker, die schon 10-15 Jahre hier waren. Die waren aus meinem Bezirk und kannten meine Familie. Ich sagte ihnen, bitte machen wir es auf, wir müssen wissen, was da drinnen ist. Bis zum Beginn der Performance hat niemand es geschafft. Die Performance hat dann so begonnen, dass ich den Plastiksack in die Hand genommen und dem Publikum erklärt habe, warum wir es nicht geschafft haben, es aufzumachen. Langsam und vorsichtig haben wir dann die Stoffe aufgefaltet. Draus ist dann eine sehr beeindruckende Performance geworden. Das war mein erstes Projekt in Wien. Danach habe ich im Lalish Theater Labor „Irrgarten“ gemacht, über die amerikanische Armee. Aber das Budget war extrem knapp.
Wie geht es Ihnen hier in Österreich? Wie erleben Sie Österreich, auch die Menschen, mit denen Sie es zu tun haben?
Seit dem letzten Sommer bin ich in Kontakt mit Aslı Kışlal und Anna Schober (Künstlerische Leiterin und Dramaturgin von diverCITYLAB, Anm.). Bei diverCITYLAB habe ich drei Monate lang an einem Schauspielworkshop teilgenommen. Alle dort haben mir gesagt, dass ich so einen Workshop nicht brauche, aber ich habe Aslı und Anna gesagt: „Lasst mich mitmachen, ich will neue Leute kennenlernen.“ Am Ende des Workshops haben sie mir angeboten, Artist in Residence bei diverCITYLAB zu sein. Jetzt arbeite ich an einem Konzept mit dem Arbeitstitel „Marathon of Religions“. Das Stück handelt von Gesellschaften in der Krise und den Menschen, die darauf warten, dass irgendwann alles besser wird. Vom Warten, dass jemand kommt und alles für uns besser macht. Ein Gott oder ein Politiker. Es erzählt von Erinnerungen an den Krieg, vom Überlebenskampf in einer chaotischen Situation. Es ist der Versuch zu atmen ohne dabei das Schießpulver in der Luft zu riechen. Es ist der Versuch Demokratie zu verstehen und die Krise zu überwinden. Ein wichtiger Bezug zu Österreich ist darin die Glock, die österreichische Waffe. Diese Waffe beherrscht seit 2003 die Straßen von Bagdad. Durch sie habe ich viele Freunde verloren. Und zwar nicht im Krieg mit Amerika oder den Terroristen. Die Glock ist Symbol für einen anderen Krieg. Die Österreicher verkaufen diese Waffe an unsere Politiker, dabei gibt es noch gar kein funktionierendes System. Und wir geben sie dann unseren 9jährigen Kindern. Die spielen in der Straße damit. Unsere Jungen haben keine Arbeit, sie gehen zur Polizei und verlassen sie dann wieder. Und niemand sagt „gib die Waffe her“. Dann arbeiten sie vielleicht mit Milizen. Es gibt einen Markt, wenn man eine Glock braucht, dann geht man da hin. In meiner Familie hat eine Cousine 9 Söhne, die andere 8. Jeder von ihnen hat so eine Waffe, nur ich hatte keine. Alle in meiner Familie haben mich komisch angeschaut, weil ich Künstler bin und mich der Islam, die Politiker, die Armee oder der Iran nicht interessiert hat, sondern nur mein Kunstinstitut, meine Akademie. Zu Beginn des Krieges haben wir drei Monate in einem verbrannten Theater gewohnt. Wir hatten nur die Bühne und das Dach und wir wohnten dort, verschiedene Künstler. Wir haben abgelaufenes Filmmaterial von Kodak gefunden. Damit haben wir den Film „Ahlaam“ gedreht, mit Mohammed Al Darradji, der ist jetzt in Amerika und hat dort Filme wie „Son of Babylon“ gedreht. Weil das Material abgelaufen war, hat der Film ganz irre Farben. Kodak hat diesen Film genommen und auf einem Festival gezeigt. Zu der Zeit habe ich auch mein erstes Theaterstück geschrieben. Es heißt „Die Torte“. Unser Land ist wie eine Torte, jetzt ist alles geteilt. Im ersten Jahr nach dem amerikanischen Krieg hatten wir 29 Präsidenten. Keiner hat länger als ein Monat regiert. Was kann denn ein Präsident in einem Monat machen? Man kann nicht einmal ein Haus bauen, in einem Monat. Da steckt jeder nur das Geld in die eigene Tasche und ist wieder weg. In dem Stück habe ich 29 Schauspieler besetzt, die einen großen Schwanz hatten. Ich wollte damit sagen, der Präsident will uns ficken. Jeder kommt und fickt uns einen Monat lang und geht wieder. Nach dem Theaterstück hatte ich viele Probleme. Weil ich einen Schwanz gezeigt habe. Das ist mit dem Koran nicht vereinbar. Danach habe ich viel zu viele Augen auf mir gehabt. Einmal war ich unterwegs und man wollte mich mit einem Auto kidnappen, aber ich konnte weglaufen. Beim zweiten Mal haben mich diese Leute erwischt und mein Vater hat mich aus der terroristischen Gruppe mit 25.000 Dollar freigekauft. Danach hat mein Vater gesagt, ich habe hier keine Chance weiterzuleben, ich soll weggehen.
Darf ich Sie noch fragen, wie es Ihrer Familie hier in Österreich geht? Wie geht es den Kindern?
Meinen Kindern geht es super. Wahnsinn. In der Schule sind sie sehr brav, zuhause sind sie auch brav. Manchmal streiten sie.
Fühlen sie sich hier wohl?
Ja doch, mein größerer Sohn war drei Jahre, als er hierhergekommen ist. Er erinnert sich gar nicht an unsere Heimat. Sein Leben ist hier. Er hat Freunde, er spielt Fußball in einem Verein. Die anderen beiden spielen Geige und Gitarre, sie haben Freunde, gehen ins Kino. Ja, ich denke, wenn im Irak alles wie früher wäre – mit früher meine ich das Leben meines Vaters, nicht das zur Zeit von Saddam Hussein – dann… Ich habe ein Foto von meinem Vater mit Deutschen, Briten und Italienern, die bei uns in Bagdad zu Besuch waren, die europäischen Fußballer. Alle waren freundlich. Im Land waren Menschen verschiedener Religionen und ethnischer Identitäten, unsere Nachbarn waren Christen, Kurden, Sunniten, Juden, wir sind Schiiten. Wir waren Freunde, Familie, die Kinder waren zusammen. Wir hatten Vertrauen. Alle haben das Land verlassen, aber niemand konnte etwas mitnehmen. Vor ein paar Jahren habe ich einen Freund von meinem Opa, einen Juden, der in London lebt, gesprochen. Er hat gehört, dass ich hier bin und hat gefragt, ob ich etwas brauche. Er hatte etwas von meinem Vater, das ich ihm zurückgeben sollte. Es war unglaublich, er hatte ein altes Geschenk für mich, das von meiner Oma kam. Aber im Moment kannst du in Bagdad nicht sagen, dass Du einen jüdischen Freund hast. Daher kann ich nicht sagen, ich will dort leben. Weil das Leben braucht viele verschiedene Farben, viele verschiedene Meinungen, Religionen, Parteien. Zu meinem Vater sage ich oft, hier in Österreich ist die Politik auch manchmal schlecht, aber die Partei kommt mit Farbe, nicht mit einem Namen. Ich kenne die Farben: rot, blau, schwarz, grün,… aber nicht die Namen. Das ist besser, das Leben braucht mehr Farbe. Das ist so ein Spaß mit meinem Vater.
Hat Ihre Frau eine große Veränderung erlebt, wie sie in Bagdad gelebt hat und hier?
Ja, meine Frau ist Hausfrau. Es war bei uns schwierig in der Zeit von Saddam Hussein. Da war Saddam Husseins Sohn, er ließ die Mädchen auf der Universität nicht in Ruhe. Er ließ sich die Mädchen aussuchen, die zu ihm und seinen Freunden kommen sollten für Sex oder was weiß ich. Zu der Zeit haben die Menschen ihre Töchter zuhause gelassen und nicht zur Universität geschickt. Er war wirklich verrückt mit seiner Gruppe und seinen Autos. Niemand durfte etwas gegen ihn sagen. Der Vater meiner Frau ist religiös. Er sagte, sie bleibt besser zuhause, er wollte keine Probleme mit solchen Dingen.
Dann muss das Ihre Frau hier als große Befreiung erleben.
Sie lebt hier in Freiheit, aber manchmal ist sie immer noch ein bisschen religiös. Zu Feierlichkeiten geht sie in die Moschee. Sie macht noch den Sprachkurs. Manchmal schimpft sie mich. Sie beneidet mich für das Leben in der Kunstwelt. Sie hat wohl auch Angst um mich.
Eine letzte Frage hätte ich noch. Was wünschten Sie sich? Was haben Sie für Pläne? Was könnte in fünf Jahren sein?
Hier? In fünf Jahren? Manchmal komme ich abends hierher ins Museumsquartier und denke über meine Projekte, meine Zukunft nach. Ich habe dieses Jahr eine Residenz bei diverCITYLAB mit Aslı und Anna. Ich versuche im Rahmen dieser Residenz möglichst viele Projekte aus meiner Schublade zu machen. Ich will Regie machen. Morgen habe ich einen nächsten Termin, um das kommende Jahr mit diverCITYLAB zu planen. Mein letztes Projekt war hier im MQ Hof, im Dschungel. Ich habe zwei syrische Freunde, eingeladen. Wir haben im Hof begonnen und am Ende war ich an der Wand da oben. Und im Oktober war ich in Kopenhagen bei einem Performance-Festival eingeladen. Das war super, mit Leuten aus Schweden, Dänemark, Kolumbien, Iran, … Was meine Möglichkeiten als Performer betrifft, bin ich recht zufrieden. Auch an Filmprojekten arbeite ich immer wieder. Ich habe auch eine Post Production Firma mit Freunden in der Schweiz. 2016 habe ich als Location Manager bei „Bagdad in my Shadow“ von Samir, einem syrischen Regisseur, gearbeitet. Mit dem Theater ist es schwieriger. Früher, im Irak, war das einfacher – als Künstler hast du monatlich Geld bekommen und einen Raum für Proben. Wenn dein Stück fertig war, hast Du ein Theater bekommen, um es zu zeigen. Hier muss man Förderungen beantragen, Verträge machen, Kontakte haben, die Sprache sprechen,… das ganze System ist anders. Aber ich lerne dazu. Ich wünsche mir, dass ich hier von meiner Kunst leben kann. Und ich träume davon, dass irgendwann eines meiner Stücke hier in der Halle G gespielt wird.
Herzlichen Dank Ihnen.
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