EDUCULT im Gespräch mit Ahmad und Mohammed
Ahmad und Mohammed, zwei Brüder aus Syrien, sind vor einigen Monaten nach einer langwierigen und streckenweise gefährlichen Flucht in Österreich angekommen. Nach zwei Monaten im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen konnten die beiden in eine Wiener Privatwohnung umziehen, die ihnen einer ihrer neuen österreichischen Freunde zur Verfügung gestellt hat. Derzeit trifft man die beiden täglich am Westbahnhof, wo sie Neuankömmlinge als Arabisch-Dolmetscher unterstützen. Am kommenden Samstag, 12.09., performen sie in der Arena Wien gemeinsam mit weiteren Flüchtlingen einen Auszug aus Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ in einer Inszenierung des Künstler-Kollektivs „Die Schweigende Mehrheit".
In einem Gespräch erzählen sie uns von ihrer Heimat Syrien vor dem Krieg, wie sich ihre Einstellung zum Leben in den letzten Jahren verändert hat und was wir ÖsterreicherInnen von der syrischen Kultur lernen könnten.
EDUCULT: Lieber Ahmad, lieber Mohammed, woher kommt ihr beiden?
Ahmad: Ich wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten geboren und lebte dort bis zu meinem 18. Lebensjahr. Danach studierte ich an der Universität in Syrien, da es dort für die Syrer frei war. Ich studierte vier Jahre lang Finanzwirtschaft und hätte nur mehr einen Kurs bzw. das letzte Examen benötigt, doch dann begann der Krieg in Halab/Aleppo. Die Polizei suchte nach mir, da ich Menschen, die aus Anatolien geflüchtet waren, in Halab geholfen habe. Sie schrieb in ihren Berichten, dass ich mit den falschen Menschen zusammen gegen die Regierung arbeiten würde, eine Waffe hätte usw. Ich hatte Glück, dass ich in die Türkei flüchten konnte, blieb aber nur zwei Monate dort. Ich bewarb mich für ein Stipendium auf der türkischen Seite von Zypern. Dort gibt es eine Universität und ich studierte dort eineinhalb Jahre Finanzwesen, doch es war ein Stipendium der Türkei, da ich keinen Pass hatte. Er war abgelaufen. Die Regierung half mir dabei, nach Zypern zu reisen und dort für eineinhalb Jahre zu studieren. Ich habe mein Studium dort abgeschlossen.
Danach kam ich in die Türkei zurück und habe versucht, eine Arbeit zu finden, aber es war nicht leicht. Wenn man dort einen Job finden möchte, z.B. in einem Restaurant, dann muss man Türkisch sprechen und du findest auch keine Arbeit entsprechend deiner Ausbildung. Ich hätte Türkisch lernen müssen, doch die Kurse waren zu teuer.
Mohammed: Nachdem ich meine Ausbildung in Buchhaltung in Syrien abgeschlossen hatte, habe ich in unserer Fabrik gearbeitet. Mein Vater besaß eine Fabrik für Taschen und Schuhe für Frauen und ich managte das Unternehmen. Aber heute gibt es sie nicht mehr. Alles ist zerstört. Ich hätte dann zum Militär gehen sollen. Wenn sie mich aufgegriffen hätten, dann hätten sie mich zur Armee mitgenommen, aber meine Familie und ich wollten das nicht. Ich bin zuhause geblieben und so hat mich die Polizei nicht aufgreifen können. Zu dieser Zeit war Daesh, der Islamische Staat, in meiner Region. Wenn die mich erwischt hätten, dann hätte ich zu ihnen gehen müssen. Im letzten Monat des Aufenthalts von Ahmad kam ich in die Türkei und versuchte auch eine Arbeit zu finden. Es war schwierig. Selbst wenn man Arbeit findet, dann deckt das Gehalt gerade einmal die Kosten für das Essen. Es reicht nicht für die Miete, selbst für ein kleines Zimmer nicht, da die Lebenskosten so hoch sind. Wir haben dann entschieden, nach Europa zu kommen.
EDUCULT: Wie ist Situation derzeit in eurer Heimat?
Ahmad: Unsere Stadt ist nun unter der Herrschaft des IS. Sie greifen jeden, der älter als 14 Jahre ist auf und bringen ihn für zwei Monate in ein Camp, um ihn auf den Kampf vorzubereiten. Die Schulen und Universitäten müssen geschlossen bleiben, da Wissenschaft für sie keine Weisheit ist. Du darfst nur den Koran lesen. Aber deren Auslegung ist falsch, meiner Meinung nach. In meiner Religion und im Koran steht als erstes geschrieben, dass man lesen und lernen soll. Doch sie haben die Schulen geschlossen. Der IS ist nicht der Islam, sie sagen nur, dass sie Muslime sind. Wenn du Muslim bist, dann akzeptieren sie dich, aber sie sind keine Muslime und darum mussten alle Menschen fliehen.
Mohammed: Es gibt so viele Dinge, gegen die sie sind, z.B. wenn der Bart zu kurz ist oder deine Haare anders gestylt sind.
Ahmad: Wir haben uns dem Militärdienst verweigert. Du bekämpfst und tötest Menschen, die aber keine Kriminellen sind, sondern deine Familie sein könnten. Das ist das, was geschieht. Der IS und das Militär kämpfen nicht gegeneinander, sondern sie bekämpfen die Menschen. Die Regierung macht in Syrien nun damit Werbung für den Krieg, dass es um Religion gehe. Aber das ist ein Blödsinn.
EDUCULT: Viele Österreicher fragen sich, warum so viele Menschen aus Syrien den beschwerlichen Weg nach Europa auf sich nehmen. Die Vereinigten Arabischen Emirate wären geografisch näher.
Ahmad: In der Türkei habe ich versucht ein Visum für die Vereinigten Arabischen Emirate zu beantragen, aber das war sehr schwierig. Es gibt da keine Chance für Syrer. Ich bin sehr traurig darüber. Wenn ich heute Menschen aus den arabischen Golfstaaten in Wien sehe, würde ich sie gerne fragen, ob sie sich nicht dafür schämen, während die Menschen hier, die nicht dieselbe Sprache, Kultur oder Religion wie wir haben, die Grenze öffnen und „Welcome Refugees“ rufen. Was ist mit euch? Ihr schweigt. Gestern war der König von Saudi Arabien so glücklich, weil er fünf syrische Flüchtlinge, fünf Kinder ohne ihre Familien, aufgenommen hat. Ich würde ihm gerne sagen, dass er einmal hierher kommen sollte und sehen sollte, wie eine kleine Familie hier mehr Menschen aufnimmt als er selbst. Er ist der König eines reichen Landes und beherbergt nur fünf Personen, fünf Kinder. Ich würde gerne etwas dazu sagen, aber da fehlen mir die Worte. Ob in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Oman oder Katar, es ist überall dasselbe. Mein Vater kam 1982 übrigens in die Vereinigten Arabischen Emirate und damals war dort noch alles Wüste. Ich wurde dort geboren.
EDUCULT: Aber deine Nationalität ist syrisch?
Ahmad: Niemand bekommt diese Nationalität so leicht, selbst nicht obwohl meine Mutter aus den Vereinigten Arabischen Emiraten stammt. Mein Vater kam 1982 also in die Vereinigten Arabischen Emirate. Damals war alles Wüste, da gab es nichts. Mein Vater war Lehrer, meine Mutter auch und sie unterrichteten die Schüler dort. Die Menschen, die dort sind, kommen nur dorthin, um zu arbeiten, aus Indien, Pakistan, Syrien, Libanon oder Ägypten. Wenn nur eine dieser Nationalitäten aufhören würde, dort zu arbeiten, würde alles zusammen brechen. So sehe ich das. Ehrlich gesagt, geht es nur ums Geld, aber den Verstand kann sich der König auch nicht kaufen. Du kannst in den arabischen Golfstaaten nicht über Menschenrechte sprechen, es gibt keine Menschenrechte dort. Vielleicht sprechen auch Europa und die USA nicht darüber, aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, vor allem wegen des Öls.
EDUCULT: Noch vor wenigen Jahren war Syrien ein sehr reiches Land mit hohen Bildungsstandards.
Ahmad: Ja, aber es gab keine Unterstützung durch die Regierung. Wir waren nur vom Handel abhängig. Es gab viele Fabriken, aber die Regierung regierte auch über das Öl. Wir wissen nichts über die Ölwirtschaft. Es gehört alles der Regierung und dieser einen Familie. Aber es war ein gutes Leben. Syrer waren vor dem Krieg keine armen Menschen. Jeder hatte dort ein Zuhause, Essen und konnte sich leisten, was er braucht. Das war der Mindeststandard in Syrien. Und so wünschten sich auch die Menschen, die aus Syrien nach Europa kamen, sie hätten ein Leben wie in Syrien damals und einen gewissen Komfort, z. B. für jemanden, der täglich ins Restaurant ging oder in den Park, ist das hier eine große Veränderung. Wir sind jung und tun uns vielleicht leichter mit den kulturellen Unterschieden, aber für die älteren Menschen ist es schwierig.
EDUCULT: Was sind eure Ziele, eure unmittelbaren Pläne?
Ahmad: Natürlich ist es unmöglich für mich, nach Syrien zurück zu gehen. Dort wird es in den nächsten 10 Jahren keinen Frieden geben. Ich gehe nur dann zurück, wenn es Frieden und keinen Krieg mehr gibt. Die Schulen, Spitäler, Universität und die Infrastruktur – alles ist zerstört. Als ich hier hergekommen bin, habe ich zuerst vorgehabt, nach Deutschland zu gehen. Es war eine schlimme Zeit in Traiskirchen, aber ein Freund hat mir erzählt, dass Österreich nicht wie Traiskirchen ist. Während unseres Aufenthalts in Traiskirchen lernten wir dann Menschen kennen, die uns geholfen haben, uns willkommen geheißen und aufgenommen haben. Jetzt fühle ich mich hier wohl.
In Traiskirchen habe ich auch einen Syrer kennengelernt, der mir erzählt hat, dass er drei Monate dort war und nun beschlossen hat, nach Syrien zurückzugehen. Manche Österreicher glauben vielleicht, dass die Flüchtlinge nur aufgrund der wirtschaftlichen Lage aus Syrien oder dem Irak nach Österreich kommen. Das ist falsch. Es sind viele Menschen in Traiskirchen, die eine Ausbildung haben, Masterabschlüsse oder ein Doktorat. Ich kenne eine junge Frau aus Syrien, die Künstlerin ist. Sie macht Skulpturen. Sie hat mir erzählt, dass sie bereits nach 20 Tagen nach Wien in eine private Unterkunft gezogen ist und wieder begonnen hat, Skulpturen zu machen. Nun ist sie wieder glücklich.
EDUCULT: Sie hat gleich wieder ihre künstlerische Arbeit aufgenommen?
Ahmad: Ja, gestern habe ich mit ihr gesprochen. Es gibt auch arabische Musiker. Sie spielen “Oud”. Es ist so ähnlich wie eine Gitarre, aber arabisch. Ich kenne jemanden, dessen Lehrer war der berühmteste Oud-Spieler, Naseer Shamma. Er ist in der arabischen Welt und auch vielen Menschen außerhalb der arabischen Welt bekannt. Wenn du eine spezielle Ausbildung hast und z.B. Künstler bist, kannst du gleich wieder zu arbeiten beginnen. Es gibt viele Menschen, die Zertifikate haben und wissen, was sie machen möchten. Aber es ist schwierig, denn selbst wenn du einen Abschluss hast, gibt es noch so viele Schritte bis er anerkannt wird. Zuerst müssen wir die Sprache lernen.
EDUCULT: Was möchtet ihr tun? Möchtet ihr auch in nächster Zeit hier in Österreich bleiben?
Mohammed: Ich hoffe, dass ich eines Tages wieder zurück in mein Land kann, weil ich es liebe. Aber wir sollten hier leben und die Sprache lernen und ich möchte ein Teil der österreichischen Gesellschaft sein. Wenn ich die Möglichkeit bekomme, arbeiten zu können, würde ich das auch gerne tun. Ich bin nicht gerne zuhause. Wir wollen leben und etwas für unsere Zukunft tun. Ich bin noch jung und habe viele Möglichkeiten. Ich möchte heiraten und Kinder haben. Ich möchte meinen Kindern ein gutes Leben bieten. Ich möchte nicht zurückkommen und meine Kinder haben dann nichts.
Ahmad: Wir bekommen als Flüchtlinge eine finanzielle Unterstützung, aber wir müssen arbeiten und wollen auch vom Staat unabhängig sein.
Mohammed: Als ich klein war, hat unser Vater uns beigebracht, dass man arbeiten muss. Ich kann nicht zuhause sitzen und darauf warten, dass Geld vorbeikommt, ich muss etwas tun.
Ahmad: Mein Ziel ist ein Masterstudium für Finanzwesen zu beginnen. Wenn ich diesen Master mache, dann wird es einfacher für mich sein. Ich brauche dann keine zusätzlichen Anerkennungen mehr. Aber darauf muss ich noch ein oder eineinhalb Jahre warten, da ich zuerst Deutsch lernen möchte. Es ist anders in deutscher Sprache zu studieren, als sich nur auf Deutsch unterhalten zu können.
EDUCULT: Gibt es etwas aus eurer Kultur oder eurer Art des Zusammenlebens in Syrien vor der Krise, was uns Österreicher bereichern könnte, von dem wir lernen können?
Ahmad: Die sozialen Beziehungen zwischen Syrern. Ich weiß nicht, wie es in Österreich ist, aber ich habe gehört, dass man in Europa seinen Bruder z.B. vielleicht einmal in der Woche trifft. Wir sprechen mit unseren Brüdern bzw. treffen sie täglich. Sobald wir Zeit haben, treffen wir unsere Verwandten. Die Kraft liegt in den sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Wenn ich auf der Straße gehe, dann grüße ich immer die Menschen, die ich kenne. In diesem Punkt unterscheiden wir uns. Wir grüßen unsere Familie und treffen sie, wenn wir unterwegs sind. Arabische Familien sind immer Großfamilien und es gibt z. B. einen Art Fonds, wo jeder Geld spendet, wenn jemand in der Familie krank ist oder heiratet.
EDUCULT: Hat sich eure Einstellung zum Leben seit Kriegsbeginn und mit eurer Fluchterfahrung verändert?
Ahmad: Ja, natürlich. Die erste Frage ist immer, warum ich noch am Leben bin. Wenn du die Möglichkeit hast, an einem sicheren Ort zu leben, dann solltest du auch keine Zeit verschwenden. Vor den Kriegen war ich noch stolz aus einem arabischen Land zu kommen, aber heute bin ich es nicht mehr. Ich sage nur, dass ich Syrer bin. Es war eine Chance zu flüchten und nun an einem sicheren Ort leben zu können. Ich möchte nicht noch mehr Zeit verlieren. Jetzt habe ich vier Jahre meines Lebens verloren, in denen ich nichts getan habe. Ich habe mit 22 Jahren mein Studium beendet und jetzt bin ich 26.
Mohammed: Jeder, der noch am Leben ist, hat Glück gehabt. Jeder, der in Syrien geblieben ist, ist dem Tod nahe. Selbst wenn du es in ein anderes arabisches Land schaffst, bist du nicht in Sicherheit. Es gibt Verbrecher, die dich in Beirut umbringen können. Ich kann nicht schlafen, wenn ich daran denke. Es macht mich fertig. Ich bin in Sicherheit, aber ich leide mit, wenn ich die Menschen in meinem Land sehe. Man verliert sich selbst. Wir müssen wieder ins Leben zurück.
Ahmad: Auch unsere Eltern und unsere Schwester, wir denken ständig an sie. Man muss die Nachrichten aus seiner Heimatstadt mitverfolgen, aber jeden Tag gibt es nur schlechte Nachrichten. Wenn du dich umhörst, hörst du nur, dass alle ihre Brüder und Eltern verloren haben. Wir haben Glück, wir haben unsere Familie noch. Sie sind am Leben.
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