
EDUCULT im Gespräch mit Ebrahim Amini
Im Gespräch mit EDUCULT berichtet der aus Afghanistan stammende und in Österreich lebende Schriftsteller Ebrahim Amini über die Literaturszene und seine literatarische Arbeit in Afghanistan. Er wurde 1987 in der Provinz Balkh geboren und begann schon sehr früh zu schreiben und eine Leidenschaft für die Literatur zu entwickeln. In Afghanistan arbeitete er als Schriftsteller und Journalist, zuletzt als Media Analyzer beim Think Tank "Afghanistan Watch" in Kabul. Im Interview erzählt er über die Entwicklung der Situation für JournalistInnen und SchriftstellerInnen in seinem Herkunftsland unter den wechselnden politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in den letzten Jahrzehnten sowie die generelle aktuelle Stimmung in Afghanistan.
EDUCULT: Wir von EDUCULT begleiten vor allem größere Projekte in den Bereichen Kulturelle Bildung und Kulturpolitik und helfen mit, dass Qualitätsentwicklung stattfinden kann. Wir haben ungefähr vor einem Jahr ein Projekt auch für das deutsche Kulturministerium durchgeführt, wo es vor allem darum ging, wie sich verhält der Kulturbetrieb gegenüber geflüchteten Menschen verhält. Gibt es aus Ihrer Sicht eine Aufgabe für den Kulturbetrieb und wenn ja, wie kann diese ausschauen?
Ebrahim Amini: Ich freue mich, dass ich solche Programme kennengelernt habe, das ist für mich interessant. Obwohl meine bisherigen Erfahrungen eigentlich eine andere Sprache, eine andere Stimmung oder ein anderes Land waren, weil ich aus Afghanistan komme und dort alles anders ist. Ich bin Dichter und Liedermacher. Ich schreibe seit zehn Jahren Gedichte und veröffentliche sie. Ich bin 1987 in Afghanistan geboren, als Afghanistan gerade im Krieg gegen Russland war. Die Mojahedin (Anm.: islamistische Guerilla-Gruppierungen, die zwischen 1979 und 1989 gegen die sowjetischen Truppen und die von ihnen gestützte kommunistische Regierung kämpften) haben gegen Russland gekämpft. Aber nach diesem Krieg begannen die Bürgerkriege in Afghanistan, bei denen auch viele Menschen getötet wurden. Die Fluchtbewegungen begannen während des russischen Krieges und setzten sich dann mit Bürgerkriegen fort. So viele Menschen wurden mit den Kriegen heimatlos und flohen in andere Länder. Viele Schulen wurden zerstört. Kabul, die Hauptstadt Afghanistans, die ein Symbol des Fortschritts für die Nachbarländer war, wurde völlig ruiniert. Danach sind die Taliban gekommen und das ganze Land war unter deren Regierung. Mein Vater wurde wegen seiner politischen Aktivitäten drei Jahre lang von den Taliban inhaftiert. Aber er wurde vor dem Fall der Taliban mit einer Reihe von anderen Taliban-Häftlingen ausgetauscht und dadurch befreit. Als die Taliban die Region verließen und sich mithilfe von westlichen Ländern eine Regierung in Afghanistan eingerichtet wurde, war ich 14 Jahre alt. Aufgrund all dieser Situationen konnte ich nicht regelmäßig die Schule besuchen. Ich bin dann vom Dorf in die Stadt Mazar-e Sharif im Norden Afghanistans gegangen, um die Schule abzuschließen und um eine Ausbildung zu beginnen. 2006 habe ich dort das Gymnasium absolviert und habe meine ersten Schritte in der Literaturwelt gemacht.
EDUCULT: Sie haben geschrieben, sie haben veröffentlicht, auch Texte, wie Bücher oder Zeitschriften verfasst?
Ebrahim Amini: Ich habe im Gymnasium einen Lehrer gehabt, der uns immer Gedichte vorgelesen hat. Aber es hing auch mit meiner Kindheit zusammen. Ich habe damals schon sehr viele Gedichte von persischen klassischen und auch zeitgenössischen Dichtern gelesen. Und das hat vielleicht Wirkung auf meine Gedanken gehabt. Als ich jung war, hat mich dieser Bereich besonders interessiert. Mein erstes Gedicht habe ich im Gymnasium geschrieben. Wir haben eine Zeitung gehabt, die an der Wand aufgehängt war. Und alle drei Monate gab es ein neues Thema beziehungsweise einen neuen Text an der Wand. Sie haben dort auch meine Gedichte veröffentlicht und danach haben die anderen gesagt, dass ich Talent habe und in diesem Bereich einfach gut bin. Dann habe ich angefangen zum Literaturhaus in unserer Stadt zu gehen und habe ich mich von Tag zu Tag in diesem Bereich verbessert.
EDUCULT: Wie kann ich mir das vorstellen, in Mazar-e Sharif gibt es eine Literarische Szene, sie sagen ein Literaturhaus oder Literaturvereine? Also es gibt Menschen, die sich für Literatur interessieren, die sich auch zusammenfinden? Die sich gegenseitig berichten, wo sie in ihrer Arbeit stehen?
Ebrahim Amini: Seinerzeit gab es in Mazar-e Sharif ein einziges Zentrum für Literaturtätigkeiten in einer Bibliothek, sie heißt Mawlana Khasta. Das ist ein Zentrum, wo Dichter, Kritiker und Schriftsteller, auch Schriftstellerinnen und Dichterinnen, jede Woche zusammenkommen und ihre Gedichte vorlesen. Sie diskutieren, reden über verschieden Themen und geben einander Feedback. Und damals gab einen Verein, der Balkh-Schriftstellerverein heißt. Seit bereits 50 Jahren versammeln sich Literaten dort, um gemeinsam über Literatur zu diskutieren. Später wurden viel mehr Gruppen und Vereine gegründet, die sich für Literatur einsetzen.
EDUCULT: Das heißt es gibt ein reiches, literarisches Leben?
Ebrahim Amini: Ja schon. Balkh ist die Region, die der Ursprung der persischen Sprache und der Geburtsort von Mawlana Jalal al-Din Muhammad Balkhi (Anm.: berühmter persischer Sufi-Mystiker, auch bekannt als Rumi) ist. Wir haben viele berühmte Schriftsteller aus der Vergangenheit in unserer Stadt, aber auch zeitgenössische Schriftsteller und Dichter haben – vor allem nach dem Fall der Taliban – verstärkt ihre Aktivitäten aufgenommen.
EDUCULT: Die unterschiedlichen, vielen politischen Wechsel – hatten diese unmittelbare Auswirkungen auf eure Arbeit?
Ebrahim Amini: Ja, schon. Früher – in der Zeit der kommunistischen Regierung in Afghanistan – gab es eine extreme Zensur und Selbstzensur. Die Schriftsteller und Dichter konnten nicht einfach alles äußern und herausgeben. Daher versuchten sie immer symbolische Elemente in Gedichten oder Geschichten verwenden, um etwas von der Situation zu zeigen. Aber ohne Erlaubnis von der Regierung konnten sie nichts veröffentlichen. Als die Mojahedin gekommen sind, ist es etwas anders geworden. Diese haben auch ihre eigene lyrische Literatur gehabt und haben versucht, eigene Gedanken zu publizieren. Das Verhalten der Mojahedin während des Krieges mit dem kommunistischen Regime war extrem und ähnelte den Taliban. Zum Beispiel brannten sie die Schulen nieder, töteten Lehrer und Künstler. Aber als sie die Regierung an sich rissen, existierten Meinungsfreiheit und relative individuelle Freiheiten. Aber im Allgemeinen entstanden während der Konfrontation der Mojahedin und der kommunistischen Regierung zwei Arten von Literatur. Beide wurden als Widerstandsliteratur bezeichnet. So existierten zwei literarische Trends gleichzeitig. Während in der Zeit der Taliban Unterdrückung und Schweigen dominierten.
EDUCULT: Sie haben auch gesagt, dass es nicht nur Autoren und Dichter, sondern auch Dichterinnen gibt. Haben Sie das als gleichberechtigt erlebt, waren Männer und Frauen in dem Bereich gleichberechtigt, oder war das ein Problem?
Ebrahim Amini: Es gibt schon Dichterinnen in unserer Stadt, aber sie sind sehr vorsichtig. Die männliche Öffentlichkeit lässt sie da nicht frei ihre Interessen ausdrücken. Sie sind vor allem eingeschränkt, was die Themenwahl angeht. Wenn eine Dichterin etwas über eigene Gefühle oder sexuelle Themen in ihre Gedichte bringt, dann denken die Leser immer, dass sie ein schlechter Mensch ist. Es gibt eine riesige Kluft zwischen Schriftstellern, Dichtern und der Gesellschaft, das ist vor allem das Problem. Die meisten Menschen haben keine Vorstellung von Seelenbedürfnissen oder was für die Kultur gut ist.
EDUCULT: Aber jetzt sagen Sie, Ihre Gedichte sind an die Wand ihrer Schule gebracht worden. Spielt Dichtung in der Schule für mehrere Leute eine Rolle? Gibt es da einen bestimmten Unterricht beziehungsweise kann Schule eine Rolle spielen, damit sich mehrere Leute für Dichtung interessieren?
Ebrahim Amini: Schon. Aber das Problem ist, dass die Themen zu komplex für Kinder sind. Zum Beispiel bringen sie ein Gedicht, das 800 Jahre alt ist, in Volksschulklassen. Ich finde, das passt nicht. Kinder brauchen eine eigene Literatur, eine Kinderliteratur. Die gibt es in Afghanistan zwar auch, aber wir haben einfach ein sehr altes Schul-Erziehungssystem. Zum Beispiel, als ich klein war, gab es in unseren Büchern der ersten und zweiten Klasse viele Wörter, die Waffen, den Djihad oder Kriege beschrieben. Das ist schlecht für Kinder. Aber die haben das absichtlich gemacht. Ich weiß nicht, woher das kommt, dass Kinder in der ersten Klasse über Waffen und Krieg lesen müssen. Und das ist ein großes Problem in unserer Gesellschaft.
EDUCULT: Wie kam es, dass Sie Afghanistan verließen?
Ebrahim Amini: Neben Gedichten und dem Literaturbereich habe ich auch als Journalist in Afghanistan gearbeitet. Ich war Media Analyzer in der Organisation „Afghanistan Watch“ und wir haben viele Artikel zum Thema „Frieden mit Taliban“ publiziert. Ich hatte dabei immer das Gefühl, dass meine Persönlichkeit anders ist, als die der breiteren Gesellschaft oder der Regierung. Ich habe offen und ehrlich meine Gedanken und meine persönliche Meinung geteilt. Das war nicht üblich und das war einer der Hauptgründe für meine Flucht. Es gibt in Afghanistan auch sehr viele Menschen, die drogenabhängig sind. Ich habe eine Menge von ihnen jeden Tag irgendwo unter einer Brücke und in der Nähe meines Arbeitsplatzes gesehen. Ich hatte das Gefühl, dieses Problem wird immer größer und das hat mir auch Angst gemacht. Ich hielt Stereotypen für unwichtig und schrieb alle meine Gedanken frei in meine Gedichte. Eigentlich wollte ich nicht weg. Ich habe meine Arbeit gehabt, auch ein gutes Gehalt. Meine Frau hat Pädagogik studiert, hat im Kinderbereich gearbeitet und hat ihr eigenes Unternehmen gehabt, „Future for Afghanistan Children“, bei dem ich auch mitgeholfen habe. Aber mit der Zeit war ich gezwungen, Afghanistan zu verlassen und nach Europa zu kommen.
EDUCULT: Ihre Gefährdung in Afghanistan war also Ihre journalistische Tätigkeit?
Ebrahim Amini: Auch meine Gedanken und meine Einstellung. Ich war kein religiöser Mensch und das habe ich auch öffentlich gesagt. Ich habe vieles kritisiert in meinen Gedichten. Ich habe die Klischees kritisiert und was unserer Gesellschaft schadet, und auch was die Regierung mit den Leuten macht. Ich habe in schriftlichen Medien die Landesmafia enttarnt und zahlreiche komplizierte Ereignisse veröffentlicht. Die anderen Journalisten bekamen Geld dafür, still zu bleiben. Wir sehen nach 15 Jahren oder mehr, nachdem eine demokratische Regierung nach Afghanistan gekommen ist, sind die Leute trotzdem extremistisch. Viele Menschen haben einfach keine Vorstellung von Wahlen oder von einer modernen, offenen Gesellschaft. Und das ist das Problem. Obwohl die Regierung behauptet hat, „wir sind für Menschenrechte und Frauenrechte gekommen“ und solche Dinge.
EDUCULT: Jetzt sind Sie nach Österreich gekommen. Was waren Ihre ersten Erfahrungen, wie ist es Ihnen anfangs gegangen?
Ebrahim Amini: Ich kann sagen, ich habe noch immer Heimweh nach Afghanistan. Ich bin in meinem Land berühmt geworden, ich habe fünf Bücher veröffentlicht. Ich war Mitglied vom P.E.N.-Club (Anm.: internationaler Autorenverband), ein beliebter junger Dichter und habe auch die junge literarische Generation in Afghanistan beeinflusst. Das hat mich sehr gefreut. Aber jetzt fühle ich mich eigentlich sehr einsam. Es war für mich hier am Anfang sehr anstrengend und auch irreal. Ich konnte zu Beginn weder Deutsch noch Englisch. Ich habe mich ja bis dahin nur auf meine Sprache und die persische Literatur konzentriert. Das war natürlich sehr schwer. Aber jetzt habe ich mich mehr mit Deutsch beschäftigt. Ich brauche aber noch sehr viel Übung, weil ich bisher wenige Kontakte gehabt habe. Ich habe drei Jahre in Salzburg gelebt. Salzburg ist eine kleine Stadt, durch die man überall zu Fuß hinkommt. Das war mir zu klein und da habe ich mich nicht so wohlgefühlt. Ich wollte in eine größere Stadt, in der man mehr Leute kennenlernen kann und auch mehr kulturelle Möglichkeiten hat. Dann habe ich in Wien einen Job gefunden und bin nun seit einem Jahr hier.
EDUCULT: Sind Sie hier in Österreich literarisch tätig? Schreiben Sie weiter in Farsi?
Ebrahim Amini: Bisher habe ich fünf Gedichtsammlungen in Farsi veröffentlicht. Und ich führe ein Tagebuch. Als ich aus Afghanistan weggezogen bin, habe ich alles, was mir auf dem Weg passiert ist, notiert. Es ist quasi schon ein Buch, aber noch nicht ganz fertig. Ich habe mir überlegt, mir alles noch einmal durchzulesen und meine Erlebnisse in Österreich da noch einzubringen. Das Buch ist nicht nur ein Reisebuch, ich habe meine innersten Gedanken aufgeschrieben. Ich habe nicht nur aufgeschrieben, was ich gesehen habe, was in Griechenland passiert zum Beispiel, sondern auch emotionale Dinge. Ich habe dazu auch viele kurze Gedichte, etwa 80, in der freien Form geschrieben. So wird dieses Buch eine Gedichtsammlung über Migration, Schwierigkeiten und Hindernisse auf dem Weg und über Fremdheit und Heimweh. Ich habe vor, es übersetzen zu lassen und dann zu veröffentlichen. Ich habe auch noch eine Gedichtsammlung in der Neuen Ghazal Form (Anm.: eine lyrische Gedichtform). Das Neue Ghazal ist eine moderne Form, aber die Inhalte, Bilder, Fantasie und Emotionen sind denen der klassischen Form von Ghazal sehr ähnlich. Das ist bereits die zweite Neue Ghazal Sammlung, die ich in Österreich geschrieben habe. Und ich will diese in Afghanistan oder im Iran publizieren. Meine Erlebnisse und Erfahrungen sind schon auch in diesen Gedichten, aber diese sind sehr schwer ins Deutsche zu übersetzen, fast unmöglich. Ich habe außerdem viele Lieder für den berühmten Sänger Dawood Sarkhosh geschrieben, der schon seit 15 Jahren in Wien lebt. Er ist sehr erfolgreich und beliebt und hat 2016 ein großes Konzert im Gasometer in Wien gespielt.
EDUCULT: Sie sagen, dass Sie ihre Migrationserfahrung in vielen Gedichten niederlegen und deutlich machen möchten. Gibt es etwas oder eine bestimmte Erfahrung, welche Sie uns mitgeben wollen, was sie miterlebt haben? Gibt es etwas, was sie besonders geprägt hat, was sie erfahren haben? Sie haben schon ein bisschen über Ihr Heimweh gesprochen – gibt es einige bestimmende Dinge, wo Sie sagen können: „das war wichtig“?
Ebrahim Amini: Ich habe mich immer heimatlos gefühlt. Ich war zuerst in Salzburg und habe dann einen Job im „Verein menschen.leben“ in Wien bekommen, wo ich als Nachtdienstportier mit Jugendlichen arbeiten konnte. Dafür bin ich nach Wien umgezogen. Ich habe drei Monate und 14 Tage gearbeitet, die Probezeit war fast vorbei und am 15. wurde ich gekündigt, einen Tag bevor ich meinen unbefristeten Vertrag unterschreiben konnte. Die Kündigung war nicht von Angesicht zu Angesicht, sie haben mir eine Mail geschickt und geschrieben „Es tut mir leid, du hast nicht erfolgreich gearbeitet“. Das hat mir schon wehgetan. Und dann habe ich meine Wohnung verloren. Der Makler hat mich betrogen. Er hat die Wohnung ohne das Wissen des Eigentümers untervermietet und das war nicht erlaubt. Der Eigentümer hat mich verklagt und dann stand ich – gemeinsam mit meinen zwei Kindern und meiner Frau – auf der Straße, ohne ein Dach über dem Kopf. Danach war ich beim Bezirksgericht und habe gesagt, dass ich in die Wohnung viel hineingesteckt habe. Ich hatte Arbeit und einen Lohn gehabt und alle Voraussetzungen erfüllt. Dort haben sie mir geraten, nicht gerichtlich zu handeln, sondern das Problem persönlich mit dem Makler zu besprechen. Danach hat er mir einen Teil des Geldes wiedergegeben. Über eine Online-Plattform habe ich eine andere Wohnung gefunden, auch mit Untermiete, weil ich zu der Zeit keinen Job hatte. Der Hauptmieter dieser Wohnung hat mir aber nach zwei Monaten gesagt, dass ich die Wohnung Ende des Monats verlassen muss. Ich habe den Namen des Eigentümers gegoogelt und habe ihn per Mail kontaktiert. Ich habe ihm meine Situation erklärt und er hat sich bedankt, dass ich ihm Bescheid gegeben habe, denn der Mieter durfte die Wohnung gar nicht untervermieten. Daraufhin hat mir der Eigentümer die Wohnung gegeben. So hatte ich endlich eine Wohnung in Wien.
EDUCULT: Wie geht’s ihrer Frau und ihren Kindern hier?
Ebrahim Amini: Meinen Kindern geht es hier sehr gut. Mein älterer Sohn ist sieben Jahre alt und er spricht schon super Deutsch. Er liest verschiedene Bücher und seine Lehrerinnen sind stolz auf ihn. Er macht Karate und ich bin mir sicher, dass er eine glänzende Zukunft haben wird. Das jüngere Kind ist aber noch klein. Meine Frau hatte mit dem Verlassen von Afghanistan auch auf einmal alles, was ihr wichtig war – Familie, Heimat, Freunde, Arbeit – verloren. Nach den drei Jahren in Österreich hat sie sich nun hier eingewöhnt und jetzt haben sie und ihre Freundin sogar einen Integrationsverein gegründet.
EDUCULT: Wir haben in ein paar Wochen Wahlen. Interessieren Sie sich dafür, was hier vor sich geht, auch politisch? Ist das für Sie wichtig oder haben Sie andere Probleme?
Ebrahim Amini: Ich habe schon andere Probleme. Ich besuche gerade einen Deutschkurs und ich habe sechs Monate bei einem Lieferservice mit dem Fahrrad gearbeitet. Das war eine gute Erfahrung. Ich finde die österreichische Politik ist nicht viel anders als die Politik in einem anderen Land auf der Welt. Die Politiker bringen keine positiven Änderungen. Ich erwarte mir jetzt nicht, dass jemand kommt und alles verbessert. Ich meine, wenn Strache kommt, kann er trotzdem gar nichts machen. Wenn er Sozial- oder Mindestsicherungen stoppt oder reduziert, werden die Leute viel stehlen und viel krimineller sein. Ich denke, die ganzen Politiker und alles was da gerade läuft, das ist einfach nur eine Show. Sie wollen nur die Aufmerksamkeit der Menschen. Aber natürlich bin ich selbst für die SPÖ, ich möchte nicht, dass die FPÖ gewinnt, weil die sehr beleidigend in ihrer Werbung sind.
EDUCULT: Ich habe heute mit Ihnen vor allem gelernt: Es gibt in Afghanistan auch eine liberale Öffentlichkeit, die literarisch interessiert ist. Sie sind wahrscheinlich in Kontakt mit ihrem Heimatland und auch mit einzelnen Leuten. Wie geht’s dieser liberalen Öffentlichkeit heute?
Ebrahim Amini: Momentan gibt es eine neue Generation, die Gedichte schreiben und die Richtung verändern will, die es früher im literarischen Bereich gab. Manche Organisationen sind unabhängig. Zum Beispiel gibt es in Kabul eine Niederlassung des internationalen P.E.N.-Club. Die haben eigene Regelungen, Vorlesungen und viele Programme. Sie unterstützen auch die Redefreiheit. Aber trotzdem gibt es auch Vereine, die von Personen oder Parteien finanziell abhängig sind. Das finde ich nicht gut. Sie veröffentlichen nicht für sich selbst, sondern für die Parteien. Als wir dort waren, waren wir selbständig und haben alles selber gemacht. Jetzt ist die Stimmung in Afghanistan politisch geworden.
EDUCULT: Gibt es eine Perspektive für dieses Land? Gibt es eine Hoffnung für Sie, wieder nach Hause zu gehen?
Ebrahim Amini: Ich finde schon, aber wenn es so läuft, wie heute… In den Dörfern sitzen die Taliban und andere mit der Regierung unzufriedene Gruppen. In den Städten gibt es die Regierung und Gesetze und die Polizei – wenn sie auch nicht so stark ist. Es gibt Hoffnung in der neuen Generation. Die einzige Lösung für unsere Leute ist es, miteinander in Dialog zu treten und auf einen Punkt zu kommen. Wir sehen in anderen Ländern, z.B. Indien oder China, dass es viele Volkgruppen gibt und die Menschen trotzdem alle zusammen leben und keine Probleme miteinander haben. Das zeigt, dass das in einer multikulturellen Gesellschaft möglich ist. Wir sind auch so eine Gesellschaft, aber bei uns muss sich ein Bewusstsein über die Qualität einer seit tausenden Jahren multilingualen und multiethnischen Gesellschaft erst bilden. Ich glaube, die Menschen müssen anfangen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Aber die größte Gefahr ist, wie ich finde, wenn die Amerikaner, Russland, China, Indien und unsere Nachbarn Pakistan und Iran uns nicht in Ruhe lassen. Ich habe das Gefühl, sie wollen Afghanistan zu einem Kriegsschauplatz machen, so wie in Syrien oder Jemen. Sie könnten Afghanistan auch in eine ähnliche Situation wie in diesen Ländern bringen. Jetzt, wo der Krieg im Irak aus ist, haben wir viele IS-Kämpfer und andere terroristische Gruppen in Afghanistan. Unser Land und das Leben dort sind von der internationalen Politik beeinflusst. Afghanistan ist ein Ort, an dem die Weltmächte spielen und wir können das selbst nicht ändern. Auch Regierungen wollen keine bewussten Änderungen in der Gesellschaft machen. Ein riesiges Problem in Afghanistan ist die Korruption. In allen Bereichen, in allen Richtungen. Viele Millionen Dollar sind zum Beispiel einfach aus Afghanistan verschwunden – nach Dubai, Tadschikistan, Istanbul, überall, auch nach Europa. Es gibt viele Afghanen in Europa, die schon länger beruflich hier ansässig sind. Die kommen dann nach Afghanistan und sagen: „Wir haben in Europa studiert und wir wissen alles.“ Die machen dann dort Geschäfte, machen sich die Taschen voll und gehen wieder weg. Das sind meist Technokraten, die dann als Regierungsbeamte, Minister oder Ratgeber aus dem Westen kommen und aufgrund ihrer Beziehungen alle Möglichkeiten haben, durch Korruption an Macht und Geld zu kommen. Und nach einer Weile, wenn ein anderer Präsident kommt oder eine andere Partei das Land regiert, dann verlassen sie das Land einfach wieder – und die Leute bleiben. Das andere große Problem ist die Unsicherheit, dass hunderte Leute auf der Straße getötet werden, in Kabul, in Mazar-e Sharif. In den Dörfern haben sie keine Ahnung, was passiert. Auch die Journalisten berichten nicht darüber, was in der Umgebung passiert. Zum Beispiel wird der IS in vielen Regionen immer stärker. Irgendwann kommen sie raus. Ich finde noch immer, dass Afghanistan in einer Gefahrensituation ist.
EDUCULT: Meine abschließende Frage ist: Sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben, Sie würden eigentlich gerne wieder nach Afghanistan zurückkehren und dort Ihre alte Funktion wiederaufnehmen?
Ebrahim Amini: Ja natürlich. Jeden Tag in der Früh denke ich an mein Dorf. Ich weiß, wie wertvoll das Leben ist. Ich frage mich: „Warum sind wir nicht geblieben und warum haben wir nicht gekämpft, gegen die Leute, die unser Leben vernichten wollten?“ Aber wir waren einsame Leute. Dichter in Afghanistan sind wie Blumen in der Hölle. Wir können nichts daran ändern. In Europa gibt es zum Beispiel Leute, die auf Kunst und Kultur aufmerksam machen. Aber in unserem Land gibt es keine Chance für Literaten, außer in kleinen Kreisen. Wenn ich zurückkehre, muss ich meine Erfahrungen von hier mitnehmen. Hier gibt es einfach bessere Qualifikationen bei allem, im Literaturbereich, im Kunstbereich. Es gibt viele neue Ideen in den westlichen Ländern. Von vielen dieser westlichen Ideen und Gedanken aus Philisophie, Literatur und Kunst haben wir schon in Afghanistan gelesen und gelernt.
EDUCULT: Sind Sie hier in Kontakt mit literarischen Verbänden, anderen Autoren, zum Beispiel iranischen oder afghanischen Schriftstellern?
Ebrahim Amini: Wir und die Iraner haben eine gemeinsame Literatur, aber zwischen uns gibt es eine Rivalität – vielleicht ein bisschen wie in Österreich und Deutschland (lacht). Trotzdem haben wir eine gemeinsame Vergangenheit. Es ist nur der Akzent der unterschiedlich ist, aber ich kenne die verschiedenen Akzente. Ich glaube, die Afghanen sind in den Augen der Iraner einfach anders. Sie haben das Vorurteil, alle Afghanen seien ungebildet. Vielleicht ist mein Gefühl falsch, aber ich war einmal bei einem iranischen Verein hier und sie haben mir angeboten, beim nächsten Mal mein Gedicht bei ihnen vorzutragen. Aber dieses „nächste Mal“ ist nie passiert. Sie haben dann gesagt, dass sie das Programm schon fertig gemacht hätten und dass es nicht stattfinden würde. Da war ich etwas enttäuscht, ich hatte gedacht, die Iraner und wir teilen eine Geschichte und eine Sprache und halten zusammen. Ich kenne viele Schriftsteller und Kritiker aus dem Iran, und ich habe auch iranische Freunde hier in Österreich, die Schriftsteller sind. Ich wäre gerne hier mit Dichtern und Dichterinnen in Österreich in einem engeren Kontakt. Wenn ich mein Deutsch verbessert habe, werde ich mich besser ausdrücken können. Ich könnte etwas von der Literatur in Afghanistan vorstellen. Ich möchte Mitglied vom P.E.N.-Club werden und einmal mit ihnen sprechen, welche Möglichkeiten es für mich gibt. Meiner Meinung nach wird in Österreich alles gut für Flüchtlinge geregelt, aber diejenigen unter ihnen, die kulturell begeistert sind, werden dabei nicht unterstützt. Ich finde es traurig, dass die Leute, die im eigenen Land Bekanntheitsgrad haben, die besondere Fähigkeiten im Bereich Literatur und Kunst haben, hier dann übersehen werden.
EDUCULT: Ganz herzlichen Dank dass Sie bereit gewesen sind und ich hoffe, wir bleiben in Kontakt!
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