EDUCULT im Gespräch mit Linda Zahra und Alfoz Tanjour
Linda Zahra und Alfoz Tanjour mussten 2012 Syrien verlassen, nachdem sie bei Demonstrationen teilgenommen und einige kritische Filme gemacht hatten. Nach einem Zwischenaufenthalt in Beirut kamen die beiden Künstler 2014 mit ihren zwei Kindern nach Wien, wo Linda Zahra sich nun als Fotografin verwirklichen kann und bereits drei Ausstellungen ihrer Arbeiten zeigte. Alfoz Tanjour ist im Nahen Osten bereits für seine Dokumentationen bekannt und arbeitet in Österreich derzeit an seinem ersten Spielfilm über eine syrische Flüchtlingsgeschichte im Kontext der österreichischen Gesellschaft.
Bis 18. März kann man die Fotografien von Linda Zahra noch im Rahmen der Ausstellung „Insight – Syrische Frauen – Fluchtziel Österreich“ am Hauptbahnhof Wien an der DigiWall beim Aufgang zu Bahnsteig 3 und 4 sehen, in denen sie in Wien lebende syrische Frauen porträtiert.
English version here
EDUCULT: Könnten Sie uns ein wenig über sich selbst und Ihren künstlerischen Hintergrund erzählen?
Linda Zahra: Ich war in Syrien als Visagistin tätig und arbeitete bei vielen Filmen als Make-up Artist. Vor acht Jahren begann ich mit der Fotografie, meiner eigentliche Leidenschaft. Ich war außerdem Executive Producer bei einigen Filmen. Bei manchen Produktionen arbeitete ich mit meinem Mann zusammen.
EDUCULT: Gab es in Syrien vor dem Krieg eine bedeutende Filmindustrie? Wie würden Sie die aktuelle Situation für Filmschaffende in Syrien beschreiben?
Alfoz Tanjour: In Syrien gab es nur eine nationale Filmorganisation, die Filme finanziell unterstützt hat, ich meine Kinoproduktionen bzw. 35-mm-Filme. Es gibt nicht wirklich Ressourcen oder eine richtige Industrie für die Realisation von Dokumentationen. Auch die Akzeptanz für das Genre des Dokumentarfilms ist in der arabischen Welt sehr gering. Nachdem 2003 der Al Jazeera Documentary Channel gestartet ist, wurden auch viele Dokumentationen produziert und verbreitet. Ich würde sagen, dass von diesem Moment an die Filmemacher allmählichen ihre Wege fanden, ihre Dokumentationen zu realisieren. Ich habe zum Beispiel für den Documentary Channel von Al Jazeera und das Al Jazeera Network gearbeitet, sowie auch für andere Sender.
EDUCULT: Gibt es in Syrien eine professionelle Ausbildung für FilmemacherInnen, wie z.B. eine Filmakademie?
Linda Zahra: Nein, wir haben keine Filmakademie in Syrien.
Alfoz Tanjour: Es gibt nur ein Höheres Institut für Dramatische Kunst in Damaskus. Dort kann man Schauspieler oder Kritiker werden. Linda und ich studierten Film von 2000-2005 gemeinsam in Moldawien.
EDUCULT: Würden Sie sagen, dass die Filmindustrie in Syrien und in den benachbarten Ländern zerstört ist?
Alfoz Tanjour: Alle meine Freunde, die gegen das Regime sind, haben das Land verlassen. Ich kenne zum Beispiel ein paar Filmemacher, die jetzt in Berlin leben. Diejenigen, die sich dafür entschieden haben, in Syrien zu bleiben, sind auch mittlerweile auf der Seite des Regimes. Es werden jedes Jahr auch ein paar neue Filme in Syrien produziert, aber sie haben alle eine spezielle Intention und sind mehr oder weniger auf Propaganda aufgebaut.
Linda Zahra: Sie erzählen den Leuten, dass sie zurückkommen sollen, oder dass es genug Arbeit für sie gäbe. Aber das ist alles Fake, wir halten nichts davon.
Alfoz Tanjour: Die Kulturszene in Syrien ist mittlerweile gespalten in diejenigen, die gegen und diejenigen, die für das Regime arbeiten. Die Kollegen, die derzeit dort noch arbeiten, sind meist „neue“ Leute, von denen ich zuvor noch nichts gehört habe. Viele Journalisten, Autoren und Filmemacher mussten Syrien verlassen.
EDUCULT: Was war Ihre Motivation gerade nach Österreich zu kommen?
Linda Zahra: Wir kamen wegen des Krieges in Syrien hierher. Es war für uns zu gefährlich, dort zu bleiben. Fast zwei Jahre lebten wir dann in Beirut, bis wir dort in einer ähnlich gefährlichen Situation waren. Ein Freund von uns lebt in Wien und hat uns damals geraten, nach Europa zu kommen. Wir stellten dann einige Recherchen über verschiedene Länder in Europa an und entschieden uns schließlich für Österreich – wegen unseres Freundes und wegen der Stadt Wien. Wir dachten, dass wir hier in Wien gute Chancen haben könnten.
Alfoz Tanjour: Zu Beginn der Revolution in Syrien nahmen wir bei einigen Demonstrationen teil und dokumentierten sie mit Fotos und kurzen Videos, die wir im Internet veröffentlichten. Als dann die Waffen den Ton angaben, haben wir uns entschlossen, das Land zu verlassen.
EDUCULT: War es für Sie schwierig hier in Wien ein Teil der künstlerischen Szene zu werden? Was waren dabei die größten Herausforderungen?
Alfoz Tanjour: Es ist allgemein sehr schwierig außerhalb des eigenen Landes seinen Weg zu finden und wirklich die Chance zu bekommen, sich zu beweisen – auch in Beirut war es schwer für uns. Aber die Menschen in Europa respektieren Kunst und sie wissen viel darüber. Wenn jemand einen neuen Künstler wirklich interessant findet, wird er versuchen, ihn zu unterstützen und sich bemühen, seine Kunst in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Für mich war es nie ein Problem, eine Arbeit zu finden, weil ich mir bereits im Nahen Osten als Filmemacher einen Namen gemacht habe und viele Geldgeber und arabische Fernsehstationen mich kennen. In den letzten sieben, acht Jahren habe ich Dokumentationen gemacht, aber hier habe ich nun die Möglichkeit meine Spielfilme zu realisieren. Seit vier Jahren arbeite ich nun an meinem ersten langen Spielfilm und ich hoffe, ihn im kommenden Jahr hier in Österreich fertigstellen zu können. Es ist eine syrische Flüchtlingsgeschichte, die sich aber auch mit den Rahmenbedingungen der österreichischen Gesellschaft auseinandersetzt. Also man kann sagen, der Film ist halb syrisch und halb österreichisch.
Linda Zahra: Ich habe einen Weg für mich gefunden, hier in Österreich als Fotografin zu arbeiten. Im Jänner diesen Jahres hatte ich meine erste Ausstellung in Wien in der Galerie ART 3 und letzten Monat machte ich die Visuals für die Auftaktveranstaltung von „Syrian Links“ im Theater Akzent. Aktuell gibt es gerade meine dritte Ausstellung am Wiener Hauptbahnhof mit dem Titel „Insights – Syrische Frauen – Fluchtziel Österreich“. Ich bin gerade am Beginn, mich hier in Wien als Künstlerin zu verwirklichen.
EDUCULT: Sind Initiativen wie „Syrian Links” in einem solchen Prozess der Verwirklichung Ihrer künstlerischen Arbeit in Österreich hilfreich für Sie?
Linda Zahra: „Syrian Links” hat mir viele Türen geöffnet, wie z.B. diese Ausstellung am Wiener Hauptbahnhof zu realisieren oder für deren Auftaktveranstaltung die Visuals machen zu können. Und ich kann mir gut vorstellen, dass wir noch weitere Projekte gemeinsam machen werden. Wir brauchen solche Initiativen in Wien, weil derzeit viele Künstler aus Syrien hier leben und sie auch die Möglichkeiten suchen, ihre Kunst zu präsentieren.
EDUCULT: Kann man von einer beträchtlichen Anzahl nun in Wien lebender syrischer KünstlerInnen sprechen? Haben sie alle ähnliche Möglichkeiten wie Sie?
Linda Zahra: Ja, es gibt eine Menge syrischer Künstlerinnen und Künstler hier in Wien. Einige suchen noch nach Möglichkeiten wie „Syrian Links” und nach einem Weg, ihr Können unter Beweis zu stellen, aber andere wie z.B. Salah Ammo oder Adel Dauood haben bereits ihren Weg und ihr Publikum gefunden.
EDUCULT: Sie sind 2014 nach Österreich gekommen. Ich habe den Eindruck, dass sich die Haltung der österreichischen Gesellschaft gegenüber Flüchtlingen in der letzten Zeit wesentlich geändert hat. Wie ist Ihr Eindruck und welche Erfahrungen haben Sie mit der österreichischen Bevölkerung in diesem Zusammenhang gemacht?
Alfoz Tanjour: Syrien war 2003 mit einer ähnlichen Situation konfrontiert, als über 1,5 Millionen irakische Flüchtlinge nach Syrien kamen. Wir können es also nachvollziehen, dass es eine Herausforderung sein kann, Flüchtlinge in seinem Land aufzunehmen. Vor allem wenn die Zahlen steigen, kann es ein großes Problem sein. Zum Teil kann ich die derzeitige Haltung mancher europäischer Staaten akzeptieren, weil sie natürlich Sicherheit für Ihre Bevölkerung suchen und man nicht immer genau weiß, wer da aus der ganzen Welt genau kommt. Aber das ist ja alles nicht ein Problem, der letzten ein bis zwei Jahre, sondern der letzten hundert Jahre. Ich denke, dass der Westen und Amerika bereits die Möglichkeit gehabt hätten, etwas gegen den Krieg in Syrien zu tun, aber sie haben nichts gemacht. Aber ich möchte nicht länger über diese politischen Dinge sprechen. Ich denke nur, dass nun die gesamte Welt für die bisherigen Entwicklungen und die jetzige Situation zahlen muss. Jedes Land muss nun seinen Beitrag leisten. Wir hätten etwas tun können, um zu verhindern, dass es überhaupt soweit kommt, aber da es jetzt nun mal so ist, müssen wir nach Lösungen suchen. Aber das kann nicht bedeuten, mehr Grenzen zu bauen.
Linda Zahra: Die Menschen werden kommen und Möglichkeiten finden, die Grenzen zu überwinden.
Alfoz Tanjour: Meiner Meinung nach muss die Lösung aller Probleme in unseren Ländern beginnen. Zuallererst ist es wichtig, nach Friedenslösungen zu suchen. Wenn der Krieg zu Ende ist, werden auch die Menschen nicht mehr kommen. Für mich wäre es zum Beispiel derzeit noch sehr leicht, meine Familie zurück nachhause zu bringen, sofern es Frieden gibt. Wir haben in Syrien noch unser Haus und unsere Familien.
Linda Zahra: Aber nach drei oder mehr Jahren können wir nicht mehr so einfach zurück. Alfoz und ich vielleicht schon, aber wir müssen auch an unsere Kinder denken. Wir haben uns hier nun ein neues Leben aufgebaut und wirklich gute Möglichkeiten. Mit jedem Jahr wird es schwieriger zu uns, auch wieder in Syrien von neuem zu beginnen.
EDUCULT: Welche sind die größten Herausforderungen und Probleme, denen Sie hier begegnet sind oder mit denen Sie immer noch zu kämpfen haben?
Alfoz Tanjour: Es geht nicht nur darum, die Sprache zu lernen. Es ist für jeden eine sehr schwierige Erfahrung, seine Heimat zu verlassen und in einem anderen Land neu zu beginnen und fremd zu sein. Ich kann vielleicht innerhalb von sechs Monaten eine Sprache soweit lernen, dass ich mit den Menschen kommunizieren kann, aber es geht nicht nur darum.
Linda Zahra: Es geht vor allem auch um das Zwischenmenschliche, wie die Menschen hier miteinander umgehen und auch ganz Alltägliches.
Alfoz Tanjour: Allein die Luft, die man hier atmet, die Sonne, die Musik – alles ist anders – die Bäume, der Himmel…
Linda Zahra: Jedes kleine Detail ist eine neue Erfahrung.
Alfoz Tanjour: Das ist eine sehr schwierige Erfahrung. Vielleicht ist es für uns als Intellektuelle etwas einfacher, damit umzugehen, aber gerade für Menschen ohne einen gewissen Bildungshintergrund ist es wahrscheinlich noch schwieriger, sich zurechtzufinden und in einem neuen Land einzuleben. Derzeit haben wir aber ein ernstes Problem, für das wir eine Lösung suchen. Unser Sohn ist zwölf Jahre alt und war ein sehr guter Schüler sowohl in Syrien als auch in Beirut. Aber nun ist er mit einem ganz anderen Schulalltag konfrontiert, was gerade für einen Jungen in seinem Alter sehr schwierig ist. Er war hier zuerst in einer Mittelschule, aber nach etwa zwei Wochen haben wir gemerkt, dass das Bildungsniveau in dieser Schule nicht gut ist und so haben wir nach einem Gymnasium für ihn gesucht und gefunden. Im ersten Schuljahr hat er dort aber jede Woche nur eine Stunde zusätzlichen Deutschunterricht erhalten, genauer gesagt 45 Minuten. Unser Sohn war sehr frustriert, weil er den anderen Unterrichtseinheiten nicht wirklich folgen konnte, da er die Sprache noch nicht beherrschte. Mein Freund in Deutschland hat auch einen Sohn im selben Alter und seine Erfahrung ist genau umgekehrt. Zuerst musste er jede Woche 16 Stunden Deutsch lernen und nach drei Monaten kamen allmählich die anderen Unterrichtsfächer hinzu, wie Geschichte oder Geografie. Heute ist er nach nur einem Jahr einer der besten Schüler der Schule.
EDUCULT: Ich möchte gerne wieder zur Ihrer künstlerischen Arbeit zurückkommen: Sind Sie der Meinung, dass die Kunst eine bestimmte Rolle in der Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden – z.B. zwischen „den ÖsterreicherInnen” und „den SyrerInnen” spielen kann? Kann Ihre künstlerische Arbeit als Vermittlerin dienen oder eine bestimmte Botschaft vermitteln?
Linda Zahra: Ich denke, ja. Ich hatte mich z.B. dazu entschlossen, mit einer Gruppe freiwilliger Österreicher und Syrer in die Türkei zu reisen. Mein Anliegen war es, dort Syrer zu fotografieren und die Bilder nach Österreich zu bringen, um den Menschen hier zu zeigen, was mit uns und unseren Kindern passiert. Ich habe dazu zwei Reportagen gemacht. Für die erste habe ich mit Kindern zu tun gehabt, vergangenen Oktober habe ich dann österreichische Ärzte an die Grenze der Türkei und Syrien begleitet, die kostenlose Behandlungen für Syrer durchgeführt haben. Ich habe dazu einen Kurzfilm gemacht.
EDUCULT: Würden Sie zustimmen, dass es einen bestimmten Auftrag für KünstlerInnen gibt?
Alfoz Tanjour: Nein, ich habe nie daran geglaubt, dass Kunst etwas verändern kann. Kunst kann keinen Krieg beenden, militärische Interventionen und politische Entscheidungen verhindern oder verändern, aber Kunst kann das Mitgefühl der Menschen ansprechen. Kunst kann viel auf humanitärer Ebene bewirken, sie kann die Menschen berühren.
Linda Zahra: Kunst kann Probleme nicht lösen, aber wir können uns über die Formen der Kunst ausdrücken. Meine derzeitige Ausstellung hat syrische Frauen zum Thema, die in Wien leben. Ich möchte syrischen Frauen hier eine Öffentlichkeit geben und anhand von 15 Beispielen, inklusive mir selbst, von ihrem Leben, ihren Berufen, Familien sowie den Träumen, die sie hier in Österreich haben, erzählen. Ich versuche sie alle dabei als schöne, starke und selbstbewusste Frauen zu zeigen. Die Menschen, die den Hauptbahnhof in Wien nun jeden Tag passieren, können meine Bilder der Frauen in den nächsten Tagen sehen und begegnen dabei gebildeten, syrischen Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Professionen.
EDUCULT: Welche Pläne haben Sie für die Zukunft? Möchten Sie in Österreich bleiben?
Alfoz Tanjour: Kurz bevor der Krieg in Syrien begonnen hatte, haben wir unser erstes und wahrscheinlich letztes Zuhause dort gekauft und bezogen. Wir haben unser ganzes Einkommen in dieses Haus in Damaskus investiert und haben dort nur ein Jahr und einige Monate gewohnt. Unsere ganzen Sachen sind noch immer dort in den Schränken verstaut.
Linda Zahra: Wir haben all unsere Träume und Wünsche in dieses Haus gesteckt.
Alfoz Tanjour: Derzeit kann ich nicht genau sagen, ob wir in Östereich bleiben wollen. Aber Wien hat uns die Möglichkeit gegeben, uns auszudrücken. Ich denke, wir sollten nun auch einen Schritt auf die Stadt zugehen und ihr etwas zurückgegeben, so wie z.B. mit meinem ersten Spielfilm, den ich hier realisieren möchte. Für unsere Tochter ist das Leben hier eine durchwegs positive Erfahrung. Sie ist in einem fantastischen Kindergarten, wo den Kindern wirklich ganz wunderbare Dinge, wie z.B. der respektvolle Umgang miteinander, beigebracht und sie zu eigenständigen Persönlichkeiten herangezogen werden. Wenn ich sie betrachte, dann sehe ich, dass sie jeden Tag wieder etwas ganz Wunderschönes gelernt hat.
Linda Zahra: Nach fünf Jahren wird es für uns sehr schwer sein, wieder nach Syrien zurückzukehren und Wien zu verlassen, weil wir bereits diese sehr gute Beziehung zu dieser Stadt aufgebaut haben. Aber ja, es ist alles eine Frage der Zeit.
Vielen Dank für das Gespräch!
LETZTE BEITRÄGE
- EDUCULT im Gespräch mit Karin Cheng
- EDUCULT im Gespräch mit Orwa Saleh
- EDUCULT im Gespräch mit Yun Wang
- EDUCULT im Gespräch mit Reem Jarbou
- EDUCULT im Gespräch mit Sami Ajouri
- EDUCULT im Gespräch mit Phoebe Violet
- EDUCULT im Gespräch mit Bekim Morina
- EDUCULT im Gespräch mit Agnieszka und Maciej Salamon
- EDUCULT im Gespräch mit Eleni Palles
- EDUCULT im Gespräch mit Reynier Diaz