
EDUCULT im Gespräch mit Oleg Soulimenko
Oleg Soulimenko ist ein russischer Performer und Choreograph, der sowohl in Wien, als auch in Moskau arbeitet und lebt. Bevor er sich dazu entschied, seine berufliche Laufbahn dem Tanz zu widmen, studierte er Bauingenieurwesen. 1990 gründete Oleg Soulimenko das „International Laboratory Saira Blanche Theater“. Dessen Bühnenwerke, die zutiefst anspruchsvolle, starke und provokative performerische Improvisationsübungen entfalteten, wurden in West-und Osteuropa, sowie in den Vereinigten Staaten von Amerika aufgeführt. 2002 arbeitete Oleg mit dem Tanzquartier Wien zusammen, indem er das Projekt „East meets West“, ein kreativer Dialog zwischen russischen und österreichischen KünstlerInnen, mitgestaltete und ins Leben rief. 2010 kreierte er in Kooperation mit dem brut Wien das Austauschprojekt „Music here, Music there: Vienna Moscow“ zwischen Österreich und Russland, welches letztendlich in Wien und auch in Moskau aufgeführt wurde. Seine Performances wurden auf internationalen Veranstaltungen und Festivals, wie zum Beispiel den Festwochen, Tanzquartier Wien, brut Wien und Impulstanz Wien, Performa in New York, steirischer Herbst in Graz, Sophiensaele und Tanz im August Berlin, dem Kunstverein Hannover, Theater Festival Impulse in Deutschland, Kaai Theatre in Brüssel, Southern Theater in Minneapolis, Baltic Circle in Helsinki und der Kunsthalle Wien, präsentiert. 2012 stellte Oleg Soulimenko die beeindruckende Produktion „Made in Austria“ bei den Wiener Festwochen vor. Sein neues Stück „LOSS“ wird dieses Jahr beim Impulstanz aufgeführt.
EDUCULT: Um Sie zu Beginn ein wenig kennenzulernen, könnten Sie uns bitte erzählen, warum Sie nach Österreich gekommen sind?
Oleg Soulimenko: Das war eigentlich Zufall. Es ist eine ziemlich lange Geschichte, und ich arbeite momentan an einer Dokumentation darüber. Es fing in den 90ern an, um genau zu sein 1993, als ich Tänzer war und wir eine Einladung erhielten. Eigentlich studierte ich Bauingenieurwesen und ich war es gewohnt, für eine Militärfabrik hart und diszipliniert zu arbeiten. Aber dann änderte sich mein Leben plötzlich und ich wurde Künstler, mit mehr Freiheiten, mehr Raum, mehr Zeit und einer anderen Wahrnehmung über mein Leben.
Dann stieg ich in das experimentelle Theater ein und war sehr neugierig auf die neuen Theaterformen. Zudem studierte ich weiterhin Tanz und Performance, aber das war eher eine persönliche Weiterbildung. Dann bekamen ein Freund und ich eine Einladung zu einem Symposium in Italien. Aber wir erhielten kein Visum für Italien, da die ursprüngliche Einladung aus Deutschland kam und uns somit kein Visum ausgestellt werden konnte. In den 90ern war es eigentlich schon einfach aus Russland hinaus zu kommen, aber nicht nach Westeuropa.
Also bekamen wir kein Visum für Italien, aber ein Freund von mir, mit dem ich mich entschloss nach Italien zu reisen, sagte, dass wir stattdessen die Grenze über die Berge passieren sollten. Es führte dazu, dass wir ein illegales Visum nach Österreich erwarben und als wir in Wien ankamen, machten wir uns auf den Weg über die Alpen nach Italien. Unseren ersten Abend in Wien verbrachten wir mit Freundesfreunden, die wir nach Vorschlägen für einen „alternativen“ Ort fragten. Sie empfohlen uns das WUK, wo eine freie Performance-Aufführung aus Prag stattfand. Es war zwar ein bisschen konventionell, aber vom Tanz her in Ordnung und dort hatte man noch nicht die Nase voll von der Bühne. Wir waren sehr naiv, es war ja erst 1994. Wir gingen dort hin und erzählten, dass wir gerne auf dieser Bühne performen würden, weil es viele Vorzüge hatte, die wir in Russland nicht kannten, und weil dort noch wenig Experimentelles durchgeführt wurde. Als wir den Direktor trafen und er uns mitteilte, dass er nicht in der Lage sei, unsere Show bald zu zeigen, fragte er uns dennoch, ob wir ein Video zum Vorzeigen hätten. Also gaben wir ihm das Videomaterial und nachdem es ihm gefiel, wurden wir ein Jahr später für eine Aufführung eingeladen. Viele Leute mochten das, was wir machten, und es kam dann dazu, dass Wiener KünstlerInnen uns nach einer Zusammenarbeit fragten.
EDUCULT: Waren Sie zu dieser Zeit mit illegalem Aufenthaltsstatus in Wien?
Oleg Soulimenko: Also das erste Mal gingen wir zur Behörde in Moskau, was legal war, allerdings die Visa, die wir kauften, waren illegal. Zu dieser Behörde, was wir später herausfanden, gingen normalerweise Prostituierte und es gab dort Verbindungen zur österreichischen Botschaft und zu Reiseagenturen. Demzufolge bekamen wir Touristen-Visa und mussten einen Aufpreis dafür bezahlen. Eigentlich sollte man zu einer Botschaft gehen, was wir aber nicht taten. Das zweite Mal reisten wir nach Österreich mit einer ordnungsgemäßen Einladung und wir erhielten unsere Visa am österreichischen Konsulat in Moskau.
EDUCULT: Als Sie zum ersten Mal kamen, knüpften Sie Kontakte und gingen dann wieder zurück nach Russland, um ein Jahr später zu ihrer Vorführung wiederzukehren. Hatten die Menschen in Russland eine Vorstellung, wie sich die österreichische Tanzszene gestaltete?
Oleg Soulimenko: Nein, nicht wirklich. Die meisten russischen KünstlerInnen wussten Bescheid über Amerika, Japan, Frankreich, etc. Vielleicht ein- oder zweimal hatte ich zuvor eine österreichische Tanzproduktion in Moskau gesehen. Später zu meinem ersten Besuch war ich aufgeschlossener und versuchte, viele Menschen aus der experimentellen Tanzszene nach Moskau einzuladen. Ich lud sie ein, gemeinsam zu unterrichten und zu performen. Wir hatten zwar kein Geld, aber wir konnten ein Studio und eine Bleibe zum Schlafen anbieten. Zudem erhielten sie ein wenig Geld von den StudentInnen. Da die Menschen so neugierig auf Russland waren, entschlossen sich einige dazu, zu kommen und erhielten dabei wahrscheinlich Unterstützung vom österreichischen Staat. Viele ÖsterreicherInnen waren interessiert an dem, was wir in Moskau taten, jedoch keine Person von institutioneller Ebene aus Moskau. Beamte sahen unser Video und es wirkte auf sie wie eine Art „Dirty Dancing“ oder etwas in die Richtung. Aus der Zeit der Sowjetunion, hatten wir genug vom traditionellen Theater und formal schönem Tanz und wollten daher aus diesem ausbrechen. Ich denke nicht, dass offizielle russische Kulturinstitutionen bereit waren, für etwas derartig Unkonventionelles, Experimentelles und Seltsames. Aber Wien schien Gefallen daran gehabt zu haben.
Ich erinnere mich an den ersten Auftritt am New York/ Work in Progress“ Festival im Hof des WUK’s, nicht an diese wunderschöne Bühne, die wir das erste Mal in Wien sahen, und die Leute sagten so etwas wie: „Wow! Die Russen kommen!“ Hier traf ich dann ein Mädchen, welches ich fragte, ob sie nach Moskau ziehen möchte, um dort mit mir zu leben. Sie sagte zu und kam für drei Wintermonate mit. Doch nach dem harten Leben im russischen Winter und den künstlerischen Erfahrungen, entschied sie sich um. Also pendelte ich drei bis vier Jahre zwischen Moskau und Wien immer mit KünstlerInnen-Visa, die man immer nur sehr schwierig bekam. Und schließlich entschieden wir uns dann dazu, zu heiraten und so wurde alles einfacher.
EDUCULT: Also entstand eine österreichisch-russische Beziehung?
Oleg Soulimenko: Ja, ich würde sagen zwischen Kunst und Liebe.
EDUCULT: Sie erwecken den Eindruck, dass sie nach Wien kamen und direkt in Szene des zeitgenössischen Tanz eingetaucht sind und dann wie ein Fisch im Wasser ohne Weiteres problemlos herumschwammen. Es wirkt so, als hätten Sie sich sofort eingefügt.
Oleg Soulimenko: Also, nicht genau so, es hat seine Zeit gedauert. Zu dieser Zeit wusste ich nicht viel, vor allem über Institutionalisierung, und ich wusste eigentlich nicht, wie ich um künstlerische Unterstützung ansuche. Wir mussten improvisieren und durch Menschen und Gruppen mit ähnlichen Interessen, wurden wir schließlich eingeladen und waren in der Lage mehr Möglichkeiten zu nutzen. Falls man in Russland eine Performance organisierte, bekam man erstens keine finanzielle Unterstützung und zweitens musste man sich selber um sich und das Equipment kümmern. Hier geht man zu einer Institution und die haben Lichter, Techniker, betreiben Öffentlichkeitsarbeit und können zudem auch noch zahlen! Auf diese Weise hat man mehr Zeit und Kraft, sich auf den kreativen Prozess zu konzentrieren. Ich konnte nun erkennen, dass unsere Arbeit für Menschen interessant war. Damals gab es in Moskau, einer Stadt mit elf Millionen EinwohnerInnen, nicht eine einzige Institution, die verantwortlich war für zeitgenössischen Tanz. Ich hatte mein Studio an der Technischen Universität und vielleicht zwanzig bis dreißig Leute kamen, um unsere Aufführung zu sehen. Wir konnten diese nicht bitten, Tickets zu kaufen oder gar Eintritt verlangen. Ich behaupte, Österreich war sehr aufgeschlossen uns gegenüber und half, uns zu vernetzen.
EDUCULT: Wenn Sie die Szene heute betrachten und mit den 90ern vergleichen, welche Veränderungen nehmen Sie wahr? Vor allem bezogen auf die Förder- und kulturpolitischen Aspekte. Welche bedeutenden Veränderungen haben stattgefunden?
Oleg Soulimenko: Ende der 90er Jahre und am Beginn des neuen Jahrtausends traten die größten Veränderungen ein. Ausgehend vom Tanzquartier hier in Wien, als Sigrid Gareis acht Jahre lang die Intendantin war. Sie lud mit ihrem Team ziemlich spannende KünstlerInnen ein, wovon einige mit der lokalen Szene zusammenarbeiteten, und dadurch öffnete sich Wien sogar noch mehr. Dann begann sich auch der Tanz selbst sehr zu wandeln – es gab viele Kooperationen von visuellen KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, ArchitektInnen, TheoretikerInnen und so weiter und so fort. Also wurde Tanz zu mehr als nur eine visuelle und körperliche Ausdrucksform. TänzerInnen und Performer aus der ganzen Welt, und vor allem aus Europa, begannen miteinander zusammenarbeiten, aus Deutschland, Frankreich, dem Baltikum, Japan und sie wurden alle stark in einen tänzerischen Gestaltungs- und Veränderungsprozess involviert.
EDUCULT: Wie nehmen Sie die Beziehung zum Publikum hier war? Sie erwähnten, dass in Moskau meist nur zwanzig bis dreißig Menschen anwesend waren. Gibt es hier ein interessiertes, kunstaffines Publikum?
Oleg Soulimenko: Ja, das ist es hier in der Tat- durchdacht und analytisch. Vielleicht vergleiche ich es zu sehr mit Berlin oder Brüssel, allerdings könnte es hier noch mehr Menschen im Publikum geben. Aber das Publikum, welches wir haben, ist überaus interessiert am Geschehen des zeitgenössischen Tanz und der Performance Art.
EDUCULT: Einige Zeit lang war ich sehr interessiert am Impulstanz und versuchte, europäische Kooperationen zu organisieren. Sie sagten, das eröffnete Ihnen auch die Möglichkeit, durchdachter die österreichische Situation zu betrachten. Könnten Sie uns ein wenig mehr davon berichten?
Oleg Soulimenko: Eigentlich war es anfangs eine Zusammenarbeit mit den Festwochen und ich präsentierte diese im Café im Donauturm in 165 Metern Höhe. Daraufhin kreierte ich eine Video-Installation am österreichischen Pavillon mit Impulstanz. Darauffolgend übernahm ich die Aufführung für die Black Box im brut Wien und fand schließlich mit Rosemarie Poiarkov zusammen, mit der ich gemeinsam ein Hörspiel für Ö1 machte.
EDUCULT: Sehr spannend fände ich auch Ihre Einschätzung über das, was „Made in Austria“ für Sie bedeutet. Welche Besonderheiten sehen Sie an diesem Land oder an der österreichischen Bevölkerung?
Oleg Soulimenko: Zu Beginn hatte ich die Vorstellung, Menschen wie mich zu finden: Menschen, die aus dem Osten, Westen, Norden oder Süden kommen und hier ihr Glück finden wollen. Wir begannen, in Klischees zu denken, was bedeutet es, glücklich zu sein oder was für eine Art Ort zum Leben ist Österreich überhaupt. Warum können Menschen hier glücklicher sein als anderswo? Ich, der aus Russland stammt, war sehr froh darüber, hier das tun zu können, was ich wirklich mochte.
Wir fanden neun Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, die hierher in unterschiedlichen Lebensphasen, mit unterschiedlicher Herkunft kamen. Und sie fanden alle, was ich gelernt habe, verschiedene Dinge hier. Beispielweise traf die eine Person viele sexy bzw. interessante Frauen und Männer in Clubs. Die andere hingegen gründete eine Familie und wieder eine andere fand die Arbeit, in der sie sich ausdrücken konnte. Es gab einen Mann, der bis zum 27ten Lebensjahr Jungfrau war. Hier in Wien heiratete er und kreierte eine eigene Parfümmarke, die für jeden Kunden/jede Kundin einen individuellen Duft herstellte. Die Menschen können zu ihm kommen und ihn nach einem speziellen Duft für eine bestimmte Vorhaben fragen: jemanden verführen, erfolgreich zu sein, etc. Einmal schuf er sogar ein „Österreichisches Parfüm“ für eine Ausstellung, in der die drei Komponenten, die er darstellen wollte, Innovation, Kultur und Natur waren. Würden sie mich fragen, was Österreich für mich ist, und da habe ich viel darüber nachgedacht, würde ich sagen, dass eine solche Zuschreibung für mich aus so vielen kleinen Bestandteilen besteht.
EDUCULT: Ich finde das faszinierend. Aber ich möchte auch sichergehen, das vollständig verstanden zu haben. Sie erzählten uns Geschichten von unterschiedlichen Menschen, die nach Österreich kamen, um Arbeit zu finden? Diese Vorstellung von Migration dürfte überhaupt keinen Sinn ergeben. Sprechen wir über Migration oder über verschiedene Individuen, die sich dazu entschlossen, etwas zusammen schaffen zu müssen. Ist der Begriff der Migration für sie überhaupt von Bedeutung?
Oleg Soulimenko: Nein, ich persönlich habe keine Verbindung zu diesem Ausdruck. Ich höre oft das Wort „Migrant“ und es wirkt auf mich so abgegrenzt. Es gibt einem das Gefühl, man müsse die Welt durch eine bestimmte Brille betrachten, so wie durch einen Käfig oder eine bestimmte Grenze. Manchmal fühle ich mich so, wenn ich in einem Geschäft bin, und ich beginne, in meinem gebrochenen Deutsch zu sprechen. Da erfahre ich bestimmte Reaktionen, die das Wort „Migrant“ hervorrufen. Aber wenn ich eine Ausstellung oder eine Galerie besuche, nehme ich keine Formen von Grenzen wahr. Die Art der Verschmelzung hängt auch immer von der Situation ab, in der man sich befindet.
EDUCULT: Ich lernte zwei Dinge: Erstens ist ein Migrant zu sein, ein künstliches Konzept, bei dem andere zuschreiben, welche Identität man selbst besitzt. Aber es gibt letztendlich auch keinen Zwang, diesen Begriff zu gebrauchen, und es ist nicht hilfreich für Ihre künstlerische Arbeit.
Oleg Soulimenko: Absolut. So ist es momentan auch mit der Kunst und dem Tanz. Wir sprechen immer weniger über Herkunft und über Nationalitäten.
EDUCULT: Ist das, was Sie in Russland erlebt haben oder andere in Indien, sind diese Erfahrungen dort nicht eine wichtige Ressource für Ihre künstlerische Arbeit? Oder geht es mehr um Sie als Individuum, weniger um Ihren kulturellen Background.
Oleg Soulimenko: Das ist eine ziemlich schwierige und komplexe Frage. Manchmal merke ich, dass es einerseits Phasen gibt, in denen ich diese Herkunft brauche, aber andererseits auch Momente, in denen das nicht so ist, weil es sich auf mich als Künstler richtet oder mich als Künstler schützt, wenn ich Dinge sagen kann wie: „Ich bin Russe. Ich bin dort geboren und aufgewachsen.“ Nun sage ich, ich bin ein Künstler, der in Wien lebt und arbeitet. Aber zu der Zeit, wo ich reflektiere und versuche meine Arbeit und meine Stärken zu verstehen, dann betrachte ich meinen Background und sehe, wie dieser mich geformt hat. Also manchmal muss ich sehen, warum ich Dinge auf eine gewisse Art und Weise tue. Und wann anders, möchte ich es einfach offen lassen, warum es derart viel bedeutet. Ab und an haben Menschen Klischees. In meiner Arbeit springe ich häufig zu anderen Stilen oder untersuche die klassischen Ausprägungen des „Storytelling“. Auf diese Weise spiele ich mit meiner Biographie. Wenn ich mit abstrakten Elementen arbeite, versuche ich, mich nicht auf meine Herkunft zu beziehen.
EDUCULT: Wenn man die Politik betrachtet, ist Migration zu einem großen Streitthema mit den rechts-populistischen VertererInnen in Europa und mit Herrn Putin geworden. Wie nehmen Sie den aktuellen politischen Diskurs in Österreich und anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden diesbezüglich wahr? Ist das für Sie überhaupt ein Thema oder hat es in der Kunstszene auch einen derart hohen Stellenwert?
Oleg Soulimenko: Ich bin von diesem Diskurs nicht so sehr beeinflusst, aber natürlich berührt mich die Migrationssituation. Ich versuche es zu verstehen, aber für mich sind da noch viele offene Fragen. Meine KunstfreundInnen hier sind sehr empathisch, sie helfen, diskutieren und protestieren. Über 70% meiner russischen Freunde, vor allem die in Russland, beurteilen die Situation negativ. Sie behaupten, dass die MigrantInnen, die nach Europa kommen, Europa zerstören möchten, wieso lassen wir sie? Ich war neugierig darauf, zu erfahren, warum sie denen, die schreckliche Erfahrungen hinter sich haben und vor Krieg flüchten, nicht helfen wollen. Schaut man sich Russland nach dem ersten Weltkrieg an, viele Offiziere und Adlige flohen auch nach Europa, weil sie von den Bolschewisten getötet worden wären. Sie sagen, jetzt sei die die Situation eine ganz andere. Man diskutiert über Dinge, aber viele in Russland bleiben sehr vorbehaltsvoll, Menschen aus den arabischen Ländern nach Europa zu lassen. Sie haben ein sehr statisches Bild von Europa und sie wehren sich, es sich verändern zu lassen.
EDUCULT: Aber Sie persönlich fühlen sich von diesem politischen Diskurs nicht betroffen? Und was würde geschehen, wenn Hofer hier Präsident werden würde? Hätte das Einfluss auf Ihre Arbeitsbedingungen?
Oleg Soulimenko: Auf jeden Fall. Ich denke, es gäbe bestimmte Momente, in denen das sehr schwierig, wenn nicht sogar gefährlich werden würde. Aber dieses Gefühl hatte ich bereits vor sieben bis neun Jahren. Dieses Empfinden, ein Fremder zu sein oder sogar nicht willkommen zu sein. Als ich anfangs hierher kam, erhielt ich keinerlei Unterstützung für meine Projekte. Aber ich wurde eingeladen, mit einigen KünstlerInnen zusammen zu arbeiten und auf Festivals zu performen. Aber dann, sobald mir jemand über diese Möglichkeit berichtete, war ich ziemlich überrascht darüber, sogar als Russe, der noch nicht so lange hier lebt, Unterstützung zu erfahren. Nun werden meine Reisen teils vom Staat gefördert, um verschiedene Projekte zu präsentieren, was eine großartige Gelegenheit ist, vor allem im Vergleich zu Russland. Aber in den letzten Jahren bemerke ich, dass Österreich nicht mehr so aufgeschlossen ist und der Fokus auf der Förderung von österreichischen Menschen liegt. Es fand ein Festival in Deutschland statt, zu dem ich eigentlich eingeladen werden sollte, aber anstatt dessen wurde ein/-e Österreicher/-in vorgezogen, weil diese/-r in der Folge vom österreichischen Staat gefördert werden würde. Das verdeutlichte mir, dass die Zeiten sich geändert haben und die Situation mit den rechten PolitkerInnen kommt erschwerend hinzu und führt zu einer Angst, dass ich als Künstler nicht in der Lage bin, zu überleben.
EDUCULT: Ich würde wirklich gerne mehr über die Lage in Russland zwischen den 80er und 90er Jahren lernen, als es dort eine kunstvolle, aber traditionelle Form des Tanzes gab, welche Sie versuchten zu verändern. Hat sich der moderne zeitgenössische Tanz seitdem einen anderen Status erarbeitet?
Oleg Soulimenko: Ich würde sagen, dass nicht die ganze Szene, aber einige individuelle ChoreographInnen, TänzerInnen und Performer progressiver wurden. Trotz fehlender Unterstützungs- und Förderbedingungen, gibt es dafür keine sichtbare Infrastruktur. Es existiert eine „Theater-Mafia“, bei der das sprachliche Erzählen Gewohnheit ist, sodass es für das Publikum verständlich zum Interpretieren ist. Experimentelle abstrakte Arbeiten sind zu interpretieren als keine Form der gängigen Norm. Ich denke, dies hat sich politisch in den letzten Jahren sogar noch weiter verschlechtert. Diese aufgeschlossene demokratische Art eigenständig zu denken, war zu dieser Zeit in Russland nicht gewollt.
EDUCULT: Auf der anderen Seite ist doch Moskau eine derart große Stadt mit vielen internationalen Beziehungen und man möchte doch meinen, dass das gegenwärtige Publikum grundsätzlich für zeitgenössischen Tanz empfänglich sei.
Oleg Soulimenko: Ziemlich am Ende der 90er Jahre und zu Beginn des neuen Jahrtausends fing es an, als private Förderstellen, wie die Ford Foundation, oder russische Oligarchen Förderungen einrichteten und fortan ein kleiner Teil an staatlicher Unterstützung auch hineinfloss. Aber in den letzten paar Jahren wurde sogar dieser kleine Teil unter Druck des Staates und der Orthodoxen Kirche limitiert.
EDUCULT: Also hat sich der politische Ansatz in der Folge geändert?
Oleg Soulimenko: Ja, und das Ergebnis davon war, dass es nicht genügend Ressourcen gab, zeitgenössischen Tanz zu unterstützen, obwohl sich viele junge Menschen danach sehnten. Ihnen wurde nicht nur dabei nicht geholfen, sie wurden sogar daran gehindert. Einer meiner FreundInnen wurde eingeladen, eine Art alternative Infrastruktur zu organisieren und er/sie konnte sich damit über Wasser halten, wenig Miete in ihrem Studio zu bezahlen und verschiedene Tanzprojekte zu schaffen, die mit zeitgenössischer Musik und Performance Art, sowie mit Bildungsprogrammen zusammen wirken. Dann kamen Menschen mit Macht und Einfluss und übernahmen. Diese haben so tiefgehende Beziehungen und nutzen einen Teil für kommerzielle Dinge. Und das ist nur eine von tausenden Geschichten.
EDUCULT: Ich bin mir nicht sicher, ob du Teodor Currentzis mit seiner Insel kennst. Er vermochte es derart außergewöhnliche Produktionen dort zu schaffen. Nun habe ich den Eindruck, dass wenn man weit genug weg vom Zentrum lebt, kann so etwas möglich sein. Er wurde zu einem Star mit seiner MusicAeterna.
Oleg Soulimenko: Das mag der Fall gewesen sein, vor sieben bis zehn Jahren. Ich weiß, dass der Gallerist Marat Gelman, der vor einigen Jahren nach Montenegro zog, um kulturelle Projekte zu organisieren, und Verbindungen zu Perm pflegte. Er kuratierte im Museum Zeitgenössischer Kunst in Perm. Das war eine ziemlich gute Zeit vor sieben bis zehn Jahren. Das Öl brachte einiges an Geld. Viele BürgermeisterInnen überlegten, wie sie ihre Stadt „sexy“ gestalten konnten. Ich glaube nicht, dass das Museum Zeitgenössischer Kunst trotz seiner Popularität auf die gleiche Weise funktionierte. Für die Menschen, die versuchten mit Hilfe von zeitgenössischer Kunst zu arbeiten, wurde es nämlich fortan schwieriger.
EDUCULT: Darf ich noch nach Ihren zukünftigen Plänen fragen? Möchten Sie dauerhaft in Österreich bleiben oder wünschen Sie sich, im Zuge von Veränderungen nach Russland zurück zu kehren. Oder denken Sie eher Tag für Tag?
Oleg Soulimenko: Vor einigen Jahren dachte ich sogar daran, zurück nach Russland zu gehen, und ich reiste ungefähr drei, viermal das Jahr dorthin. Das Publikum dort stellte mir Fragen, die aus den Lebenserfahrungen entsprangen. Hier hingegen ist es eine Art Routine, eine Performance zu sehen, so als würde man in ein Restaurant gehen. Dort gibt es zwar keine Infrastruktur, aber ich erkannte so viele Möglichkeiten. Aber bei dem jetzigen Russland habe ich das Gefühl, es gäbe keine Zukunft für das Land, leider. Betrachtet man den Ukraine-Konflikt, merkt man, dass irgendetwas schief läuft in diesem Land. Ich sehe mich selbst nicht mehr dort. Das war für mich sehr emotional und hart. Die traditionellen Formen des Nationalismus und des Patriotismus haben wieder überhandgenommen und ich frage mich nun, was an der russischen Kultur verkehrt ist. Viele streben nach Macht und denken, dass Putin Russland wieder stark mache und die Menschen nun wieder für sich einstehen können. Ich erkenne nur wenige, übriggebliebenen gute Szenarien, entweder das Ausbrechen eines russischen Bürgerkriegs im Inneren oder eine gänzliche Totalitarisierung.
Nun hat sich meine Lebenssituation verändert, Ich habe Kinder hier, habe eine österreichische Freundin und in der Zwischenzeit ist Österreich zu einer zweiten Heimat geworden. Manchmal denke ich über die Möglichkeit nach, woanders zu leben, aber die Stadt hat eine magnetische Anziehungskraft – der „Way of Life“, die Infrastruktur, es ist einer der privilegiertesten Orte, die ich kenne.
EDUCULT: Also ich habe wahrgenommen, dass Sie wegen der Umstände eher hier Ihre Zukunft sehen als dort.
Oleg Soulimenko: Ja, wegen der politischen und der sozialen Lage. Vor einem Jahrzehnt hatte ich die Hoffnung, dass auch Russland aufgeschlossener und progressiver werden würde. Wenn man 300 Meilen von Russland aus reist und die Natur, die Landschaften, die Städte sieht, erkennt man die Kraft. Dann spreche ich mit dort ansässigen Menschen und sie sind vom Fernsehen überzeugt, dass Amerika kommen und sie ihrer natürlichen Ressourcen berauben möchte und, dass Europa keinen gemeinsamen Geist mehr habe und hingegen die russische Seele sehr geeint ist. Sie schauen Fern und glauben die simple Propaganda.
EDUCULT: Ich fand es besonders interessant, wie Sie den Migrationsaspekt in der Kunst relativiert haben. Sie dürften viel erlebt und eine Last auf Ihren Schultern tragen, um so zu sprechen, aber es ist unbedeutend für ihre künstlerische Produktion.
Oleg Soulimenko: Was denken Sie darüber? Vor zehn Jahren als ich in Amerika war, waren dort KünstlerInnen aus Frankreich und Deutschland, mit denen ich nie darüber gesprochen habe, und die wirklich nicht diese Begriffe verwendeten. Niemand dachte, er oder sie sei anders aufgrund der eigenen Herkunft. Aber in diesem Fall scheint es, wichtiger zu sein. Die RechtspopulistInnen bringen diese Vorstellung scheinbar wieder zurück.
EDUCULT: Es wirkt wie eine politische Konstruktion, um eine Trennung in der Gesellschaft zu finden. Sie möchten manchen Menschen ein Gefühl der Sicherheit oder der Verteidigung geben.
Oleg Soulimenko: Ich erinnere mich an das Schengen Abkommen, den EURO, die Menschen waren überrascht. Vielleicht waren Sie nicht bereit dazu. Wir haben nun keinen Pass mehr gebraucht, um nach Europa zu fliegen. Die Grenzen verschwanden. Vielleicht ging das für einige zu schnell, was ihnen Angstgefühle vermittelte und daher wollen sie jetzt die Grenzen zurück.
EDUCULT: Meine Interpretation dessen ist es, dass wir von Grund auf eine Art der östlichen oder westlichen Identität haben. Es gab einen Eisernen Vorhang zwischen ihnen, und als wir ihn herunterrissen, starb ein Feind und wir waren froh darüber. Aber dann wollten die Menschen wissen, gegen wen wir uns nun richten? Wer ist der neue Feind? Und der Islam hat eine spezielle Bedeutung erfahren in dieser Beziehung. Jetzt da Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern kommen und die Fundamentalisten, die terroristische Taten ausüben, geben ihnen das Gefühl, der neue Feind zu sein. Diese Verführung der Politik schafft deren Profil, ein Feindbild zu haben, gegen das man sich aussprechen kann.
Oleg Soulimenko: Aber warum brauchen wir Feindbilder? In der Kunst braucht man einander, um durch einen Blick auf das Fremde sich selbst zu verstehen.
EDUCULT: Ja, wir benötigen das „Fremde“. Und Sie sind das „Fremde“. Aber ich kann mich dazu entschließen, durch Sie und durch ein Gespräch mit Ihnen bereichert zu werden – oder ich könnte die Entscheidung treffen, mich von Ihnen verängstigt und bedroht zu fühlen.
Oleg Soulimenko: Und wir wissen, dass verängstigte Menschen leicht zu manipulieren sind.
EDUCULT: Die Globalisierung mit diesen gewaltigen kapitalistischen Wirtschaftsweisen und den technologischen Entwicklungen hat riesige soziale Veränderungen und große Unsicherheiten gebildet. Nun ist man auf der Suche nach Menschen, die dafür verantwortlich sind. Das kann man auf eine positiv oder eine destruktive Art und Weise tun.
Oleg, ich danke Ihnen vielmals für Ihre Zeit! Alles Gute für Sie und ich freue mich darauf, in einer Ihrer nächsten Vorstellungen im Leopold Museum vom 10. bis zum 13. August im Publikum zu sitzen.
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