EDUCULT im Gespräch mit Phoebe Violet
Phoebe Violet stammt aus Costa Rica und kam als Jugendliche mit ihrer Familie nach Österreich. EDUCULT hat mit der jungen Geigerin und Sängerin über ihr Leben, ihre Karriere als Musikerin und über Kulturpolitik in Costa Rica und Österreich gesprochen.
EDUCULT: Woher kommst du künstlerisch und wie genau sieht deine musikalische Arbeit aus?
Phoebe Violet: Ich spiele hauptsächlich Geige, mache Gesang und schreibe Musik. Das Ganze hat sehr früh angefangen. Geige habe ich mit drei Jahren angefangen, aus der Unruhe, dass ich das machen möchte, was meine Schwester macht – sie hat damals schon Geige gespielt. Das habe ich in Costa Rica gelernt – Klavier, Chor, das war alles dabei. Es war für meine Mutter sehr wertvoll, dass wir Musik als Teil unseres Lebens dabei haben. Und wir sind dadurch mit Musik aufgewachsen, das war selbstverständlich.
Ist deine Mutter auch Musikerin? Oder einfach interessiert?
In meiner Familie waren alle irgendwie mit Musik beschäftigt. Aber nur hobbymäßig, weil Lateinamerika und klassische Musik, das hat damals gar nicht existiert. Meine Schwester war Teil der ersten Kleinkindergruppe einer staatlich geförderten Musikschule, die gelernt hat, Geige zu spielen. Davor gab es das nicht. Also das ist dreißig Jahre her. Musik war immer dabei in meiner Kindheit. Auch Tanz, Ballett und Malen, die künstlerische Seite war irgendwie sehr ausgeprägt. Wir sind dann in Costa Rica aufs Konservatorium gegangen. Mein Vater kommt aus England, aber wir sind nicht mit ihm aufgewachsen. Und wie ich 14 war, hat meine Mutter einen Österreicher kennengelernt, der dann mein Stiefvater geworden ist. Und so sind wir nach Österreich gezogen, wo wir in einer Musikschule weiter Geigenunterricht hatten. Das war aus gesundheitlichen Gründen, weil es meinem Stiefvater nicht so gut ging in der Zeit und man nicht wusste, wie sich das entwickelt. Also wir hatten ein super Leben in Costa Rica, wir sind nicht geflüchtet oder Ähnliches. Meine Schwester und ich wollten ohnehin im Ausland studieren und so hat sich das gut ergeben.
Wie war das dann als Jugendliche, auf einen ganz anderen Kontinent umzuziehen?
Für mich war es komischerweise nicht so seltsam. Weil wir sind sehr oft umgezogen. Wir haben oft Schule gewechselt – meine Mutter hat ihren Job als Lehrerin öfters gewechselt und somit sind wir woanders hingezogen und ungefähr alle vier Jahre haben wir woanders gelebt, in Costa Rica. Wir waren immer in englischsprachigen Schulen, eben dort, wo meine Mutter unterrichtet hat. Für mich war es am leichtesten – ich war vierzehn, ich wusste noch nicht, wer ich bin, wer meine Freunde sind – es war noch sehr viel offen. Und in Österreich gab es plötzlich Winter und man hat Deutsch auf der Straße gehört. Aber es war jetzt nicht so eine radikale Trauer für mich. Mich haben die Kleinigkeiten total fasziniert, die tollen Autos auf der Straße, die guten Straßen überall, ohne Löcher. Mir haben zum Beispiel die tropischen Gerüche gefehlt, diese Feuchtigkeit, die Papageien, die durch den Himmel fliegen. Aber als große Veränderung hat es sich erst viel später angefühlt.
Kinder und Jugendliche sind dann oft doch flexibler, als man denkt, und können sich gut anpassen. Und die Dinge die doch schwierig sind, kommen dann manchmal erst später heraus.
Genau. Und ich war auch nicht alleine hier. Meine Mutter und meine Schwester, also meine Familie war auch da. Wir sind auch jedes Jahr hingeflogen und das war dann schon hart, aber aus anderen Gründen. Weil man ist dann Außenseiter*in überall wo man ist. Und das ist dann sehr unangenehm, weil das will man nicht sein.
Wenn ihr wieder zurückgekommen seid?
Ja. Aber sogar wie wir dort gelebt haben, waren wir ein bisschen Außenseiterinnen. Denn wir sind sehr streng erzogen worden, es war irgendwie sehr viel zu tun. Wir haben zuhause nur klassische Musik gehört, kein Alkohol, keine Salsa-Musik. Tanzen war etwas, das man lernt, aber nicht in der Familie drinnen. Es war alles sehr ernst.
Sehr europäisch?
Ja, eigentlich schon! Und daher war es immer ein bisschen seltsam, sogar mein Name klingt nicht lateinamerikanisch, ich habe einen englischen Namen. Daher haben die Leute immer vermittelt: „Du bist nicht von hier eigentlich“. Und das hat es dann noch einmal bestätigt, weil ich in Österreich auch komplett „ausländisch“ war.
Und war es von der Sprache her schwierig?
Es war cool, weil ich in Linz in eine englischsprachige Schule gegangen bin. So habe ich Deutsch langsam lernen können. Und bis ich achtzehn war, habe ich das auch können. Ich bin dort dann in eine andere Gruppe gegangen, wo wir „Ausländer*innen“ Deutsch lernen konnten. Aber der Unterricht selbst war nur auf Englisch und so war es kein Problem für mich, was super war. Auch ein großer Vorteil für mich.
Noch einmal zurück zu deiner musikalischen Arbeit. Du hast gesagt, du spielst vor allem Geige und du singst. Würdest du etwas davon als deine „Hauptstärke“ bezeichnen, etwas was du mehr machst, oder was dir näher ist, wo du das Gefühl hast, da bist du mehr „zuhause“?
Früher war das auf jeden Fall Geige spielen, denn es war für mich wie ein Arm, wie ein zusätzliches Organ, Geige zu spielen. Ich habe dann in Linz weiter Geige an der Musikschule gemacht und bin dann nach Wien gezogen, wo ich dann in die freiberufliche Szene reingekommen bin. Ich habe dann eigentlich vom Geige spielen gelebt. Jetzt mittlerweile hat sich das ein bisschen geändert: Ich schreibe Lieder, seit ich etwa dreizehn bin. Dazu habe ich damals Gitarre gelernt, um mich selbst zu begleiten. Aber dass ich Musik schreibe und dass ich das singe und präsentiere, das ist seit fünf oder sechs Jahren. Auch, dass ich sage, ich will damit arbeiten. Somit habe ich jetzt schon das Gefühl, dass alle drei Dinge miteinander zusammenkommen. Das Komponieren, das Singen und das Geigespielen. Alle drei haben genau den gleichen Stellenwert. Das ist einfach eine Art, mich auszudrücken. Und alle ergänzen sich. Und ich kann für meine eigenen musikalischen Projekte nicht nur eine Sache machen, ich brauche alle drei.
Hast du in einem der Fächer ein künstlerisches Studium abgeschlossen? Oder hast du nach der Musikschule autodidaktisch weitergelernt?
In Linz habe ich viele Solo-Geigenkonzerte gespielt und die „klassische Seite“ war voll auf meiner Seite sozusagen, das ist gut gegangen. Dann war ich bei einem Wettbewerb für klassische Musik. Und die Jury war so gemein. Die wollten einfach irgendetwas sagen, um mich herunter zu machen. Und für mich war dann klar, dass ich definitiv nicht klassische Musik studieren möchte, weil mir das einfach viel zu konservativ ist. Ich behandle die Musik als einen Weg mich auszudrücken. Und ich habe überhaupt kein Interesse daran, dass mir jemand sagt, dass ich das falsch spiele, weil das nicht nach Mozart klingt. Ich finde, eine Partitur ist da, um sie auch selbst deuten zu können. Natürlich verstehe ich die Grenzen, dass man sagt: „Okay, man muss es auch so können, wie es in der Stilistik von vor 200 Jahren war“. Aber ich finde, es gibt einfach viel mehr Raum, wo man sagen kann, vielleicht bedeutet diese Phrase etwas anderes für mich und ich will das auch so spielen. Ich habe auch schon sehr lange gemalt und überlegt, mich mehr mit dieser Materie auseinanderzusetzen, aber das Studium war mir zu abstrakt. Und dann habe ich mich für Architektur entschieden. Ich habe eine Zeit lang Architektur studiert. Nebenbei habe ich immer Musik gemacht und mich dann doch nicht für Architektur entschieden – weil das ein Bürojob ist und ich irrsinnig gerne auf einer Bühne bin.
Hattest du jemals das Gefühl, wenn du mit Musiker*innen, die eine universitäre Ausbildung gemacht haben, auf der Bühne bist oder zusammenarbeitest, dass dir etwas fehlt? Eine gewisse Technik oder Ähnliches? Oder hast du das Gefühl, dass du das gut aufgeholt hast durch die Arbeit an dir selbst?
Diese Frage ist für mich schwierig zu beantworten. Das Fehlen der akademischen Ausbildung hat mir irrsinnig viel Unsicherheit gegeben. Du kommst dir selbst wie ein*e Fälscher*in vor. Du sitzt in einem Orchester, alle haben eine Ausbildung und du nicht. Und du bist auch dabei. Ich habe einen Komplex gehabt natürlich, weil ich gedacht habe: „Was tue ich hier? Diese ganzen Leute verbringen ihr ganzes Leben damit zu studieren und ich komme dahin, weil ich übe.“ Aber gleichzeitig habe ich mir gedacht, am Ende gibt dir ein Universitätsstudium Werkzeuge weiterzukommen, aber heutzutage kann dir die Offenheit an Information genau das Gleiche anbieten, wenn du Interesse hast.
Aber es ist wahrscheinlich auch umso mehr Arbeit, oder?
Ja, auf jeden Fall. Und du bist natürlich sehr begrenzt auf das, was du denkst, was dir an Wissen fehlt. Und man spürt dann, dass man da eine Schwäche hat. Man bleibt bei der Entstehung von Dingen sich selbst überlassen. Da fühlt man sich öfters schon sehr alleine. Und das ist natürlich sehr unangenehm. Mit einer akademischen Ausbildung hast du einen „Stempel“, egal ob du es kannst oder nicht. Du kannst sagen: „Ich kann das, der hat das gesagt.“ So sagst du: „Ich kann das, weil ich das sage“. Und erst die Erfahrung mit anderen Leuten bestätigt das, oder sie sagen: „Nein sie hat doch nicht Mozart gespielt, wie man es spielen sollte“ und dann bekommst du nichts anderes mehr, aber somit spielst du dich „hinein“. Und das ist nicht leicht, weil eben sehr viele Unsicherheiten entstehen und du zweifelst total an dir und denkst dir: „Warum mache ich das so auf eigene Faust? Es ist so viel schwieriger.“ Aber das ist der Weg, den ich gewählt habe. Auch weil die Musik irgendwie immer an meiner Seite geblieben ist. Mit 18 dachte ich, ich werde Architektin. Ich hätte nicht gedacht, dass ich später nur mit Musik beschäftigt sein möchte.
Gerade durch so ein Studium lernt man ja auch viele Leute kennen und baut sich ein Netzwerk auf. War es für dich dadurch auch schwieriger, in diese Kreise zu kommen?
Ja, total. Die Offenheit muss auf jeden Fall da sein, dass man sagt, ich gehe jetzt zu diesem Konzert, um Leute kennenzulernen, weil ich sie nicht im Studium kennengelernt habe oder so. Ab und zu denke ich mir schon, es wäre so viel einfacher gewesen. Ich hätte schon eine Professorin gehabt, die gesagt hat, sie nimmt mich. Aber ich war einfach rebellisch unterwegs und habe gesagt, ich will diese klassische konservative Welt nicht. Jazz ist für mich damals gar nicht in Frage gekommen, weil ich damals noch nicht so ernst beim Singen war und mich Jazz-Geige nicht wirklich interessiert. Ich war damals auch zu jung, um die Vielfältigkeit dieses Studiums zu verstehen. Mich hat Architektur damals viel mehr fasziniert.
Weil wir vorhin über Costa Rica gesprochen haben: Bist du noch regelmäßig dort?
Immer weniger. Das letzte Mal war vor fünf Jahren. Früher war ich jedes Jahr. Aber mittlerweile habe ich auch hier eine Familie, meine eigenen Kinder. Die Reise ist viel zu lang und viel zu teuer und daher möchte ich warten bis sie größer sind. Da kann man viel mehr mit ihnen unternehmen.
Aber hast du noch Familie dort?
Ja, ja. Oma, Onkel, Freund*innen, … Ich weiß, wen ich anrufen kann, wenn ich dort bin.
Wir bei EDUCULT beschäftigen uns ja sehr viel mit Kultureller Bildung und Kulturpolitik. Und dem politischen Aspekt vom kulturellen Leben, was ja in Wien ein großes Thema ist. Kannst du uns einen Einblick geben, wie Kulturpolitik in Costa Rica funktioniert? Funktioniert es ähnlich wie in Österreich, bzw. anders? Besser? …
Musik in Costa Rica ist ganz anders entwickelt worden als in Österreich. Die klassische Szene ist vielleicht 30, 40 Jahre alt. Lateinamerikanische Musik ist natürlich viel älter aber trotzdem ist es ein junger Kontinent nach wie vor – ich meine, wir reden von 500 Jahren. Von dem her weiß ich, dass alle, die jetzt klassische Musik spielen in einem Orchester in Costa Rica, mit uns aufgewachsen sind. Und die, die jetzt in Pension gehen, waren die Gründer*innen der musikalischen Erziehung. Die Bewegung, dass die Jugend mit Musik etwas zu tun hat, ist sehr stark, auch politisch gesehen. Alle meine Freunde, mit denen ich gelernt habe, sind gerade dabei, Orchester zu gründen in verschiedenen Provinzen. Es gibt viele Initiativen und Bewegungen, wo das stattfindet. Es gibt aber natürlich kein Geld. Wenn du Mitglied des nationalen Orchesters bist, musst du trotzdem unterrichten, damit du zu einem halbwegs normalen Einkommen kommst. Als Freiberufler*in musst du Vollgas arbeiten und definitiv auch dazu unterrichten; das ist nicht anders als in Österreich. Sozial gesehen ist man als Musiker*in hier schon besser aufgehoben als in Costa Rica. Aber ich finde politisch gesehen ist es genau das Gleiche. Also Geld gibt es keines, wenn du etwas spielst. Du wirst fast angebettelt dafür, dass du nichts oder sehr wenig verlangst. Das passiert ständig. Nur wenn du einen gewissen Namen hast, bekommst du gute Gagen. Das Problem generell der Akzeptanz von Künstler*innen in der Gesellschaft ist meiner Meinung nach, dass man das Grundgefühl besitzt, Genuss muss umsonst sein. Wenn sich etwas gut anfühlt, wenn du etwas Schönes siehst, hörst; das muss frei sein. Dem stimme ich vollkommen zu. Man zahlt aber nicht den Genuss; man zahlt die Zeit und Arbeit eines Menschen, den Prozess der Kreation, die tägliche Auseinandersetzung mit der gewählten Kunst. Die Verbindung zwischen Künstler*in und Endprodukt, bzw. der Prozess der Entstehung eines Werkes bleibt der Menschheit meistens verborgen. Dadurch gibt es kein Verständnis für die Intensität dieser Arbeit, wenn man selber kein*e Künstler*in ist.
Bei der „Hochkultur“ ist ja schon ein wenig Geld vorhanden, gerade in der klassischen Musik. Aber in der freien Szene ist das schon schwieriger und hängt wahrscheinlich sehr von Faktoren wie dem Bekanntheitsgrad usw. ab.
Ja. Musiker*in sein, heißt Businessfrau*mann sein. Künstler*in auch. Du schaffst es nicht nur, wenn du gut bist. Du musst dich zu verkaufen wissen. Und niemand kauft dich, bevor du nicht eine gewisse Anzahl von Menschen hast. Das heißt, die ganze Vorarbeit musst du leisten, damit überhaupt jemand zu deinem Konzert kommt. Also als Musiker*in, als Künstler*in musst du ungefähr sechs verschiedene Jobs ausüben, damit du das, was du liebst präsentieren kannst. Und das ist eigentlich überall auf der Welt so, meiner Erfahrung nach.
Gibt es in Costa Rica eine ähnlich geartete Förderlandschaft, wenn man das so nennen kann? Also so schwer es in Österreich auch ist, gibt es ja doch eine Förder- und Subventionslandschaft. Gibt es in Costa Rica etwas Vergleichbares?
Es gibt Stipendien für Familien, die finanziell begrenzt sind. Es wird gefördert, dass Kinder, egal aus welchem ökonomischen Hintergrund, alle die Gleichen musikalischen Möglichkeiten bekommen; das finde ich fantastisch! Es gibt im Konservatorium immer wieder Wettbewerbe, um Schüler*innen zu motivieren; Endpreise sind solistische Auftritte im Theater. Dies wird aber nicht mit finanziellen Mitteln unterstützt, sondern nur als persönlicher Sieg, sozusagen. Es gibt zwei Haupttheater in Costa Rica: Teatro Nacional und Melico Salazar. Teatro Nacional ist vergleichbar mit dem Musikverein, Melico Salazar ist eher wie das Konzerthaus, da machen sie viel mehr Crossover-Sachen, Tanzaufführungen und ähnliches. Das Teatro Nacional ist viel konservativer. Beide Theater sind vom Kulturministerium unterstützt und teilweise gefördert.
Wie sieht es generell politisch in Costa Rica aus?
Costa Rica ist – für lateinamerikanischen Standards – sehr ausgeglichen. Es ist eine Demokratie, der Trend der extremen Rechten hat bei den letzten Wahlen zum Glück nicht gewonnen. Und es ist im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern sehr friedlich, denn wir haben kein Militär. Es ist das einzige Land auf der Welt ohne Militär. Das bedeutet, so etwas wie eine Militärdiktatur kann sehr schwer stattfinden. Und die Costa Ricaner*innen sind sehr stolz darauf. Dass jede*r nach der Schule auf die Uni gehen kann. Das heißt nicht, dass es keine Kriminalität gibt. Es gibt Straßendiebe. Das ist trotzdem beunruhigend, aber das ist etwas Anderes. Es ist nicht diese politische Angst. Und das ist schon etwas, wo ich sehr stolz bin, aus Costa Rica zu kommen. Dass sie zeigen können, wie man ohne Militär auch auskommen kann.
Aber höre ich auch richtig heraus, dass die Politik einen nicht so starken Einfluss auf das Leben der Menschen hat – außer, dass der Beruf Künstler*in gesellschaftlich noch nicht ernst genug genommen wird?
Ja, in Costa Rica ist nicht Politik das größte Problem. Sondern eher soziopolitische Dinge. Der riesige Unterschied zwischen reich und arm, der kapitalistische Input von den USA, das macht sehr viel kaputt. Ich glaube, das beschäftigt die Leute viel mehr, als wer gerade Präsident ist. Costa Rica ist eine Goldmine – erstens von der Vegetation her, zweitens ist es ein Urlaubsparadies. Es ist alles drinnen. Dadurch, dass es relativ sicher ist und vieles mit nicht aktuellen Regulierungen geregelt ist, kommen sehr viele Leute aus dem Ausland, meistens USA, und machen sehr viel kaputt. Dadurch, dass ich so selten in Costa Rica bin, ist es jedes Mal schockierend zu sehen, wie viele neue, riesige Firmen eine ganze Landschaft verändert haben. Die gebildeten Leute werden von außen geholt, die Leute aus Costa Rica, die Zugang zu einer erhöhten akademischen Ausbildung haben, wandern aus. Sie wollen woanders sein, weil in Costa Rica die Möglichkeiten eher begrenzt sind. Wenn sie dann das Wissen schon haben, bleiben sie auch im Ausland. Die kommen dann nicht mehr zurück. In Costa Rica gibt es schon eine starke Affinität zur Bildung: im Vergleich zu diesen „Third World Countries“ ist 96% der Bevölkerung gebildet. Dafür gibt der Staat Geld aus. Es ist hygienemäßig sehr gut, es gibt keine Seuchen. Es wird langsam öfter gefordert, dass Leute aus Costa Rica eingestellt werden, dass kleine Firmen ein bisschen weiterkommen, man schaut, dass diese Wirtschaftsregulierungen geändert werden, damit Förderungen auch an kleine Firmen, die wachsen wollen, gezahlt werden. Aber es ist natürlich ein langsamer Prozess. Costa Rica will sich ein bisschen internationaler machen – nicht dadurch, dass die USA hineinkommen, sondern dass Costa Rica hinausgeht. Ich freue mich immer, wenn ich solche Nachrichten lese, dass in diese Richtung etwas passiert. Es macht mir Freude zu sehen, dass sie Fortschritt fördern wollen.
Zum Abschluss noch einmal zurück zu deinem Leben hier: Was sind deine Pläne für die nächste Zeit? Was machst du momentan, bzw. worauf arbeitest du gerade hin?
Weiter Musik zu schreiben, mehr auszuprobieren, mehrere künstlerische Richtungen zusammen zu bringen. Mein Hauptziel auf lange Sicht wäre, von meiner eigenen Musik leben zu können. Das ist ein langer Prozess, ich muss hartnäckig dahinter bleiben. Und ich würde sehr gerne mehr Verbindung zu Lateinamerika haben mit meiner Musik. Ich schreibe meine Lyrics immer sehr bewusst und sie sind immer auf Spanisch. Und ich merke immer, wenn spanischsprachige Leute in meinen Konzerten sind, dass das, was ich tue, bei ihnen ganz anders ankommt. Ich versuche thematisch immer, ein verändertes Bild der Gesellschaft darzustellen. Ich schreibe gerade zum Beispiel ein neues Repertoire, nur Liebeslieder, wo ich die Frau nicht als co-dependent darstellen möchte. Ich möchte dieses Bild einer Beziehung, wo die Frau dem Mann gehört, oder überhaupt eine*r ohne der*dem anderen nicht leben kann, weglassen und trotzdem eine Zerbrechlichkeit darstellen können. Das ist immer schwierig, aber ich finde, Musik kann in einer Gesellschaft so viel bewirken. Wenn du Leute hast, die Lyrics nachsingen, bewusst oder unbewusst, dann ist da eine Message, die im Kopf bleibt, das macht etwas mit dir. Und ich bin sehr bewusst mit dem, was ich schreibe und was ich sagen will, weil ich will, dass Leute vielleicht Inspiration daraus holen, Dinge anders zu machen, anders zu betrachten.
Das heißt, du bist dadurch auch literarisch tätig, gleichzeitig zu deiner musikalischen Arbeit.
Ja – aber ich finde, das ist auch die Aufgabe, von jedem der Liedtexte schreibt, dass man sich mit der Thematik auseinandersetzt: „Was sage ich gerade?“ Ich habe das früher nicht so ernst genommen, ich habe eher nach dem Rhythmus und dem Klang in den Worten gesucht. Aber jetzt will ich eine Message, ich will etwas sagen.
Das ist ja zum Beispiel in der Pop- oder Popularmusik im weitesten Sinne nicht immer unbedingt der Fall.
Ja, das stimmt. Aber für mich mittlerweile unglaublich wichtig. Ich sehe für mich sonst keinen Sinn, Lieder zu schreiben, wenn ich nichts zu sagen habe. Ich arbeite sehr gerne mit einem Gesamtkonzept, ganzheitlich. Ich glaube, das kommt bei mir auch von der Architektur, dass man immer schaut, dass der Entwurf außen und innen einen Zusammenhang hat. Man betritt ein Gebäude und spürt – bei schön konzeptionierten Häusern – den Zusammenhang des Ganzen. Musikalisch arbeite ich genauso. Mein Ziel ist es, der*dem Zuhörer*in eine Gesamtidee zu vermitteln, wo die musikalische Seite den Text unterstützt und umgekehrt. Sogar wenn der*die Zuhörer*in meine Sprache nicht versteht, möchte ich, dass die Emotionen des Liedes durch die Musik für alle verständlich sind. In meinen Texten bin ich sehr gesellschaftskritisch, oder sehr kritisch über die Liebe, oder sehr verträumt in der Herangehensweise, wie ich mit meinem Leben weiterkommen will. Ich liebe diese Gesamtheit in einem Projekt, wo die*der Zuhörer*in in eine Welt eintauchen kann, die ganz bewusst von jemandem definiert wird. Das ist mein Ziel mit allem, was ich tue.
Vielen Dank für das Gespräch!
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