EDUCULT im Gespräch mit Sakîna Teyna
Sakîna Teyna ist eine kurdische Sängerin und setzt sich in ihren künstlerischen und auch politischen Aktivitäten wesentlich für Frauen- und Menschenrechte ein. In der Türkei war sie Mitglied des Mesopotamien Culture Centre, einer Vereinigung kurdischer Künstler in Istanbul, deren Mitglieder zu einer Zeit als die kurdische Sprache noch verboten war, aufgrund ihrer kurdischen Texte verfolgt wurden. Sie organisierte einige – damals in der Türkei illegale – Konzerte und berichtete als Journalistin über den kurdischen Befreiungskampf, bis sie aufgrund ihrer künstlerischen und politischen Aktivitäten aus dem Land flüchten musste.
Derzeit lebt sie in Wien und arbeitet neben ihrer künstlerischen Tätigkeiten für die Caritas im Bereich der Flüchtlingshilfe. In ihren vielseitigen musikalischen Projekten (u.a. Trio Mara, Sakina & Friends, Sakina & Anadolu Quartet) verbindet sie gerne Orient und Okzident mit traditionellem Gesang und zeitgenössischen Arrangements.
EDUCULT: Was hat Sie nach Österreich geführt?
Sakîna Teyna: Ich war politisch und künstlerisch sehr aktiv im Bereich der Frauen- und Menschenrechte und habe mich immer gegen die Unterdrückung der KurdInnen ausgesprochen. Ich bin selbst Kurdin. Anfang der 90er Jahre war die Situation für die KurdInnen in der Türkei politisch noch schlechter als heute. Man durfte nicht offiziell sagen, dass man Kurde oder Kurdin ist, und Kurdisch war als Mutter- und Bildungssprache nicht anerkannt. Unsere Identität war im Grunde verboten und es gab eine sehr starke Assimilationspolitik. Die Situation für KurdInnen in der Türkei hat sich im Laufe der Zeit nicht wesentlich verbessert. Wegen meiner Aktivitäten wurde ich verfolgt und konnte dann nicht mehr länger in der Türkei bleiben und meine Kunst ausüben.
EDUCULT: Wie sind Sie konkret verfolgt worden?
Sakîna Teyna: Ich bin als Journalistin dreimal bei PKK Camps gewesen, was die türkische Regierung natürlich wahrgenommen hat. Selbst wenn du regimenahe bist und über die PKK Lager berichtest, bekommst du Probleme. Es ist verboten mit jemandem von der PKK zusammen zu sitzen und ein Interview zu führen. Du wirst dann selbst gleich als TerroristIn bezeichnet. Ich hatte Sympathie für den kurdischen Befreiungskampf und die türkische Regierung hat behauptet, dass ich ein PKK-Mitglied sei. Ich musste flüchten.
EDUCULT: Warum sind sie ausgerechnet nach Österreich gekommen?
Sakîna Teyna: Das war ein Zufall. Die Schlepper haben mich in der Umgebung von Wien rausgeschmissen und gesagt, bis hierher und nicht weiter. Ich wollte eigentlich nach Deutschland, weil meine drei Brüder dort leben, aber ich kannte auch in Österreich JournalistInnen und hatte einige Freundinnen hier. Ich habe sie angerufen und bin mit dem Taxi zu ihnen. Nach drei Tagen habe ich einen Asylantrag gestellt und musste dann insgesamt vier Jahre lang warten, bis ich Asyl gewährt bekommen habe.
EDUCULT: Wie geht es Ihnen heute, wenn Sie in den Nachrichten hören, dass es Schnellverfahren an der Grenze geben soll, wo in einer halben Stunde bis Stunde über den Asylantrag entschieden wird?
Sakîna Teyna: In einer halben Stunde kann man nicht die Gründe für einen Asylantrag erklären. Das ist eine Abschiebungspolitik. Aber natürlich sollten die Asylverfahren generell beschleunigt werden. Ganze vier Jahre warten zu müssen, war für mich die Hölle. Ich bin ein aktiver Mensch. Zum Glück gibt es hier in Österreich viele kurdische Vereine und ich war schnell wieder mit politischen Themen beschäftigt, aber ich durfte Österreich nicht verlassen. Ein paar Mal hatte ich versucht, offiziell für 10 Tage oder so eine Reiseerlaubnis zu bekommen, aber das war unmöglich. In diesen vier Jahren war ich auch nicht versichert und meine Familie hat mich finanziell unterstützt, und ohne positiven Asylbescheid konnte ich keinen Deutschkurs besuchen.
EDUCULT: Sie erzählen, dass Sie sich relativ schnell in kurdische Verbände und Organisationen eingefunden haben. Wie war Ihr Verhältnis zur österreichischen Bevölkerung?
Sakîna Teyna: Über das Projekttheater Fleischerei hatte ich auch einige Kontakte zu ÖsterreicherInnen. Ich habe mit ihnen über drei Jahre einige Projekte gemacht und habe dort ganz viele Freunde gefunden. Sie haben für mich auch ein Solidaritätskonzert veranstaltet, damit ich privat einen Deutschkurs besuchen konnte.
EDUCULT: Fühlten Sie sich willkommen hier in Österreich?
Sakîna Teyna: Die Zivilgesellschaft war immer ganz nett. Der erste Tag im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen war aber sehr schlimm für mich. Es gab dort z.B. einen Automaten mit Informationen in unterschiedlichen Sprachen. Da las ich auch Kurdisch und freute mich sehr, dann sah ich aber, dass daneben eine türkische Fahne war. Ich denke mir, wenn KurdInnen wegen der türkischen Regierung flüchten müssen und das dann sehen, kann das schon Angst machen. Heute arbeite ich selbst bei der Caritas in Traiskirchen.
EDUCULT: Wie erleben Sie die Flüchtlinge, die in den letzten Monaten nach Österreich gekommen sind? Wie sind hier Ihre Erfahrungen vor Ort in Traiskirchen?
Sakîna Teyna: Für junge Menschen ist es wirklich schlimmer. Sie haben sehr viel Energie, aber sie können nichts tun. Sie hatten ganz viele Hoffnungen hinsichtlich Bildung und Arbeit hier in Österreich, aber die Realität ist dann anders. Sie möchten frei sein und nun sind sie in einem Lager. Sie dürfen nicht arbeiten oder nur ganz wenige andere Aktivitäten machen. Die unbegleiteten Minderjährigen dürfen ohne Begleitpersonen nicht allein hinausgehen und einige erzählen mir, dass es für sie wie ein Gefängnis sei.
EDUCULT: Was würde es in Traiskirchen Ihrer Meinung nach brauchen?
Sakîna Teyna: Natürlich mehr als Kleidung. Man muss mehr kulturelle, soziale und sportliche Aktivitäten für die Menschen anbieten und sie brauchen auch professionelle psychologische Hilfe.
EDUCULT: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn sie die derzeitige Flüchtlingspolitik in Europa beobachten?
Sakîna Teyna: Ich bin sehr wütend und traurig. Das kann man alles so nicht akzeptieren, besonders die Abkommen mit der Türkei. Die europäischen Länder bezahlen der türkischen Regierung viel Geld, aber interessieren sich überhaupt nicht dafür, was die Flüchtlinge in der Türkei erleben. Sie wollen nur, dass die Grenzen dicht gemacht werden. Es macht mich wütend, dass dieses Geld nicht für die Flüchtlinge benutzt wird, sondern immer wieder für Krieg, Erdogan selbst und seine Familie oder Menschen, die dem Regime nahe stehen.
Ich finde, die europäischen Regierungen tragen Mitschuld daran, dass es so weit gekommen ist. Die NATO-Länder und auch die USA schaffen durch Waffenexporte und politische wie auch ökonomische Abkommen im Mittleren Osten eine Hölle für die Menschen, aber selbst möchten sie in Ruhe leben. Die Menschen sind die Opfer.
EDUCULT: In den vergangenen Monaten ist ein seltsamer Umschwung von einer Welle der Solidarität hin zu einer weitaus negativeren Stimmung gegenüber Flüchtlingen in Österreich zu beobachten. Wie schätzen Sie die Solidargemeinschaft ein und wie konnte es zu dieser Veränderung kommen?
Sakîna Teyna: Ich denke, dass es in der Zivilgesellschaft sehr viele Menschen gibt, die die Ereignisse vor allem emotional wahrnehmen. Nicht alle sind politische Menschen und verstehen nicht immer die Hintergründe. Sie wollten den Flüchtlingen einfach nur helfen. Aber wenn man die Dinge bloß emotional betrachtet und es z.B. dann zu solchen Ereignissen wie jenen in der Silvesternacht in Köln kommt, dann sagt man schnell: „Aha ich habe so viel geholfen und jetzt werden diese Flüchtlinge unsere Frauen vergewaltigen?“ Die Meinungen können sich schnell ändern.
Wenn du aber ein politischer Mensch bist, dann kannst du die Dinge hinterfragen und weißt, dass Gewalt an Frauen überall ein Thema ist, wo patriarchale Strukturen vorherrschen, z.B. ist das Oktoberfest auch für solche Männer ein Paradies, die Frauen vergewaltigen möchten, so wie es auch bei Fußballgroßereignissen ähnliche Vorfälle gibt. Auch die Medienpolitik hat hier eine sehr negative Rolle gespielt. Letzten Sommer hatten wir immer ganz positive, emotionale Nachrichten, aber dann auf einmal hat sich das Bild geändert und man liest täglich von Übergriffen von Flüchtlingen, die zum Teil gar nicht wahr sind.
EDUCULT: In Österreich spricht man viel über Wertevermittlung mit dem Unterton, dass die Menschen, die nun zu uns kommen, ein anderes patriarchales Verständnis der Geschlechterrollen sowie ein anderes Verständnis von Staat und Religion, Mitbestimmung und Demokratie haben. Sind wir so unterschiedlich? Halten Sie diese Vermittlung europäischer Werte für notwendig?
Sakîna Teyna: Es gibt natürlich bei genauerem Hinschauen Unterschiede, aber die sind formaler Natur. Die Mentalität der Männer ist für mich immer ähnlich. Überall in der Welt töten Männer Frauen, das kann auch in Amerika, in Deutschland und Österreich passieren. Die Frage ist, wie mit diesen Themen in einem Staat umgegangen wird. In der Türkei war vor ein paar Wochen sexuelle Übergriffe an Kindern und Frauen ein wichtiges Thema. In der regimenahen ENSAR-Stiftung wurden 45 Kinder vergewaltigt. Die Frauenministerin hat vor einigen Tagen dazu die Stiftung in Schutz genommen und gesagt, dass sei ein Einzelfall gewesen. In Europa könnte eine Ministerin so etwas nicht sagen.
Gewalt im Namen der Ehre, so wie sie in Kurdistan, im Irak oder in vielen Ländern passiert oder Steinigungen im Iran, Pakistan oder in nordafrikanischen Ländern sind auch ganz extreme Formen und Beispiele, aber die Hintergründe sind überall, auch in Amerika und Europa, die gleichen, und zwar eine gewisse Männermentalität und fehlende Frauenrechte. Meine Ansicht ist vielleicht etwas extrem, aber in Europa töten die Männer zwar nicht im Namen der Ehre, aber sie akzeptieren z.B. nicht, wenn ihre Frauen einen anderen Freund haben oder handeln aus Eifersucht.
EDUCULT: Warum erfahren wir so wenig über Frauenrechtsbewegungen in den von Ihnen angesprochenen Ländern, sondern ergehen uns in Stereotypen über patriarchale Strukturen und Unterdrückung in z.B. der arabischen Welt, die sich die Frauen gefallen lassen würden?
Sakîna Teyna: Das verstehe ich auch nicht. Feministische Bewegungen sowie der Frauenbefreiungskampf sind in der Türkei und in Kurdistan ganz stark. Tausende Frauen demonstrierten am 8. März in Istanbul, weil sie die herrschenden Zustände nicht akzeptieren. Immer wieder gehen Frauen gegen die antidemokratische Politik auf die Straße.
EDUCULT: Viele dieser Frauen kommen, provokant formuliert, wahrscheinlich aus einem urbanen, gebildeten Milieu. Gibt es auch in Anatolien und ländlichen Gebieten der Türkei ähnliche feministische Bewegungen?
Sakîna Teyna: Natürlich. In Kurdistan ist der Frauenkampf sehr vielseitig. Es gibt 70-jährige Frauen, die nicht lesen oder schreiben können, aber manchmal weitaus aktiver sind als Akademikerinnen, die in Istanbul leben. Das ist wirklich eine sehr lebendige Bewegung von Frauen aus den Dörfern, Akademikerinnen, jungen Mädchen und älteren Frauen, und HDP-Mitglieder sind auch dabei. Jede Frau will frei sein und Rechte haben, egal ob sie ihre Probleme intelligent erklären kann oder nicht. In Kurdistan gibt es ganz viele Frauen, die starke Feministinnen sind, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es gibt auch in Europa viele intelligente Frauen, Akademikerinnen, die Gewalt von Männern erfahren und dagegen stumm bleiben. Ich finde so einen elitären Gedanken in der Politik nicht in Ordnung.
Ich habe gerade von kurdischen Frauen gelernt, dass Feminismus eine innere Einstellung ist und jede Frau dieses Gefühl in sich trägt. Ganz viele kurdische Frauen sind wirklich aktiv geworden, das ist eine Revolution für mich. Wir haben immer noch ganz viele Probleme in Kurdistan, wie z.B. Ehrenmorde, aber die Frauen sind sehr engagiert in der Politik und wollen diese patriarchale Mentalität ändern. Es gibt viele Frauenparlamentarierinnen und Bürgermeisterinnen in Kurdistan und es ist auch sehr wichtig, dass die Frauen in der Politik eine aktive Rolle spielen.
In den Städten, wo die HDP Bürgermeisterinnen stellt, haben sie z.B. ihre eigenen Regeln. Wenn dort ein Mann seiner Partnerin Gewalt zufügt, erhält automatisch die Frau seinen Lohn vom Bürgerzentrum und diese Männer dürfen in der Partei auch keine Funktion mehr einnehmen. Die kurdische Frauenbewegung hat intern in der kurdischen Bewegung viel erreicht und kämpft auch gegen die türkische Regierung.
EDUCULT: Wie ergeht es kurdischen Flüchtlingen, z.B. aus dem Irak, die jetzt in der Türkei untergebracht sind?
Sakîna Teyna: Ich denke, dass sie nicht so gut behandelt werden, aber das gilt für die KurdInnen allgemein. Wenn du öffentlich sagst, dass du Kurde oder Kurdin bist, hast du zusätzliche Probleme. Vor allem durch Medienberichte hat auch die Zivilgesellschaft insgesamt nicht so eine gute Meinung über KurdInnen. Seit den letzten Parlamentswahlen, die Erdogan nicht akzeptiert hat, sind über 1000 Menschen in Kurdistan getötet worden. Die kurdischen Städte sind wirklich kaputt. 80% von Sur (Diyarbak?r) sind zerstört. Die ganzen geschichtlichen Stadtteile, armenische Kirchen, ein alter Markt, alles ist zerstört. Das ist so traurig.
Nicht nur Menschen wurden getötet, sondern auch die Geschichte und Architektur und somit die Identität des Volkes wird zerstört. In vielen kurdischen Städten, z.B. in Cizre, Sur (Diyarbak?r), Nusaybin oder Idil gab es in den letzten Monaten Ausgangssperren. 300 Menschen sind alleine in Cizre in einem Keller getötet worden, darunter Kinder und Frauen, und für die westlichen Medien wird dann gesagt, dass es alles PKK-Leute waren. Aber es gibt Videoaufnahmen und Dokumentationen im Internet, niemand kann die Wahrheit verstecken. Es gibt Bilder von Frauen und Müttern, die die Leichen von den Straßen holen wollen und selbst dabei erschossen werden. Oder Kinder, die in den Kämpfen getötet werden. Es gibt keine medizinische Versorgung. Natürlich gibt es auch die KurdInnen, die sich mit Waffen verteidigen.
Wir haben auch viele Friedensaktivistinnen und Widerstand gegen die aktuelle türkische Regierung, aber Erdogan schlägt jeden Protest als terroristischen Akt nieder und akzeptiert keine Kritik. Er ist wie ein Diktator. Er sagt etwas und alle müssen es akzeptieren. Wenn Angela Merkel im deutschen Fernsehen kritisiert wird, wird niemand bestraft. Aber in der Türkei ist sowas unmöglich. Jede Form der Kritik kannst du mit deinem Leben bezahlen. 2015 haben es die KurdInnen und ihre SympathisantInnen erstmals in der Geschichte der Republik geschafft, bei Wahlen die 10% Grenze zu überwinden. Die türkische Regierung will aber, dass die KurdInnen am Berg bleiben und nicht in die türkische Städte kommen. Deswegen wurden z.B. auch alle Demonstrationen von FriedensaktivistInnen in der Türkei brutal niedergeschlagen. Es war das erste Mal, dass die TürkInnen so vehement gegen Antidemokratismus im Zuge der Gezi-Proteste auftraten und Rechte für alle BürgerInnen, für KurdInnen, ArmenierInnen und viele andere unterdrückte Bevölkerungsgruppen einforderten. Aber nun sind sie aus Angst wieder verstummt.
EDUCULT: Als die Proteste im Gezi Park von der türkischen Regierung niedergeschlagen wurden, waren alle sehr erschüttert, dass sowas in der Türkei möglich ist. Mittlerweile ist ein Art Gewöhnungseffekt eingetreten, was vorher so unvorstellbar war, wird nun irgendwie hingenommen. Wie schätzen Sie diese Entwicklungen ein?
Sakîna Teyna: Vor einigen Wochen sollten sich wieder in Genf Vertreter der Nachbarländer und Gruppierungen, die in Syrien präsent sind, für Friedensgespräche an einen Tisch setzen. Die türkische Regierung hat gesagt, dass sie sich nicht mit den Kurden an einen Verhandlungstisch setzt und weil die Türkei ein NATO-Mitglied ist, wurden die Kurden auch nicht nach Genf eingeladen. Die türkische Regierung schöpft aus solchen Entscheidungen auch viel Kraft. Diese Haltung der europäischen Politik ist für mich in diesem Zusammenhang sehr fragwürdig.
EDUCULT: Wie geht es Ihnen persönlich angesichts der Entwicklungen für das kurdische Volk?
Sakîna Teyna: Als Kurdin kannst du nicht froh sein, dass du weiterlebst, während andere täglich sterben. Du kannst nicht glücklich sein. Ich sage immer, die Toten begleiten uns. Wir können kein normales Leben führen. Auch ich kann jetzt hier nicht in Österreich einfach sagen, super, dass ich hier bin. Ich kann nicht schlafen. Ich kann keinen Moment ohne den Gedanken leben, dass das Volk von 40 Mio. KurdInnen keinen Staat hat. Man will mit ihnen nicht an einem Tisch sitzen, aber ohne die KurdInnen kann man nicht über einen Friedensprozess in Syrien reden. Sie sind die einzigen Kräfte, die momentan gegen den IS kämpfen. Die kurdische Partei in Syrien besteht nicht nur aus KurdInnen, auch viele AraberInnen und ChristInnen sind Mitglieder. Aber für die türkische Regierung sind die PYD und IS beides Terroristen und die restliche Welt akzeptiert das auch noch.
EDUCULT: Dürfen wir Sie noch nach Ihren persönlichen Perspektiven fragen. Haben Sie hier in Österreich eine neue Heimat gefunden oder möchten Sie wieder nach Kurdistan zurückkehren?
Sakîna Teyna: Momentan darf ich nicht nach Kurdistan reisen, auch nicht in die Türkei. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich gerne die ganze Welt sehen und kennenlernen. Für mich ist Heimat nicht so wichtig. Ich möchte frei sein. Momentan kann ich sagen, dass ich es akzeptiert habe, dass ich nicht zurückgehen darf, aber wenn ich die Möglichkeit habe, würde ich es tun und möchte gerne ganz Kurdistan kennenlernen. Ich habe immer nur kurzfristige Pläne in meinem Leben gemacht. In Kurdistan macht man keine langfristigen Pläne. Der Krieg kann schnell alles kaputt machen. Wenn Sie mich fragen, was ich in drei Jahren machen werde – ich weiß es nicht. Das Wichtigste für mich ist, dass ich mit meiner Kunst weitermache.
EDUCULT: Fühlen Sie sich als ein Teil der österreichischen Künstlerszene?
Sakîna Teyna: Im Weltmusik-Bereich kann ich schon sagen, ja. Ich habe sehr viele österreichische KünstlerInnen kennengelernt, die sehr nett sind. Ich habe jetzt eine gemischte Band zusammen mit Kurden, Türken, Iranern und Österreichern. Ich bin noch nicht so ganz drinnen in der Szene, aber das letzte Jahr war super für mich.
EDUCULT: Möchten Sie uns noch mehr über Ihre musikalischen Projekte erzählen? Welche Art von Liedern singen Sie und in welchen Sprachen arbeiten Sie vor allem?
Sakîna Teyna: Ich singe natürlich mehr kurdische Lieder, aber ich möchte ganz bewusst auf der Bühne auch in Türkisch, Aserbaidschanisch, Armenisch, Farsi oder auch Arabisch singen. Ich spreche drei kurdische Dialekte und Türkisch. Sprachen wie Arabisch und Armenisch lerne ich durch meinen Freundeskreis kennen. Wenn ich ein Lied auswähle, muss ich es erstmal mögen. Dann setze ich mich mit dem Inhalt und dem Gefühl, das es vermittelt, auseinander. Es sind politische Lieder, aber auch Liebeslieder und traditionelle kurdische Lieder. Ich möchte mit meiner Musik Geschichten erzählen.
Ich wirke in sehr unterschiedlichen Projekten mit. In Deutschland bilde ich mit einer kurdischen Pianistin und Geigerin das „Trio Mara“. Wir spielen traditionelle Lieder, die von Frauen gesungen wurden. Unsere erste CD „Behind the doors – Derî“ haben wir 2013 veröffentlicht. Vor ca. 80 Jahren durften die Frauen in Kurdistan aus religiösen und traditionellen Gründen offiziell nicht singen. Aber von der Sprache her kann man erkennen, dass diese traditionellen Lieder ursprünglich Frauen gesungen haben. Sie erzählen z.B. von Konflikten zwischen kurdischen Clans oder verbotene Liebesgeschichten.
EDUCULT: Bringen Sie in Ihrer künstlerischen Arbeit auch politische Themen ein?
Sakîna Teyna: Ich bin keine Politikerin, aber ich bin ein politischer Mensch und ich möchte das bewusst einsetzen und meine Stimme nutzen. Musik ist ein sehr direkter Weg, um den Menschen Politik nahe zu bringen. Egal, ob du etwas hören willst oder nicht, der Musik kannst du dich nicht wirklich entziehen. Musik ist eine eigene Sprache für mich, die jeder verstehen kann. Ich kann z.B. selbst kein Armenisch, aber wenn ich ein armenisches Lied höre, dann kriege ich immer Gänsehaut.
EDUCULT: Haben Sie konkrete musikalische Pläne für die kommenden Jahre?
Sakîna Teyna: Ich möchte im Weltmusik-Bereich meinen Weg weitergehen und meine Arbeit mehr Menschen präsentieren. Nachdem ich meinen positiven Asylbescheid bekommen hatte und wieder reisen durfte, besuchte ich jedes Jahr die WOMEX – the World Music Expo (http://www.womex.com/), um MusikerInnen aus der ganzen Welt kennenzulernen und auch meine Musik zu präsentieren. Natürlich möchte ich weiter meine Konzerte spielen und auch neue CD-Projekte sind wichtig. Ich habe in der Türkei auch ein Projekt, ein String-Quartett, mit dem ich ein Album aufgenommen habe. Da ich aber nicht in die Türkei reisen darf, können wir nur hier Konzertreihen organisieren und das möchte ich bald wieder wiederholen. Hier in Wien habe ich auch das Projekt „Sakîna & Friends“ mit dem ich kleinere Konzerte spiele. Wir haben ganz viel positive Kritik bekommen und wollen nun auch in größeren Veranstaltungsräumen wie dem Porgy & Bess, der Sargfabrik, dem Theater Akzent, wo ich auch schon mit anderen Projekten aufgetreten bin, spielen.
EDUCULT: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Ihre Zukunft!
Auf ihrer Webseite www.sakinateyna.com erfahren Sie mehr über aktuelle Termine und Projekte von Sakîna Teyna.
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