„Achtung Demokratie!“
Über „Kultur und Demokratie“ zu sprechen bedeutet zu allererst die Bereitschaft, sich auf unwegsames, möglicher Weise vermintes Gelände zu begeben. Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann hat in dem Zusammenhang gesagt, bei „Kultur“ handle es sich um einen der schrecklichsten Begriffe, die jemals geschaffen wurden, weil er sich jeglicher näheren Bestimmung entziehen würde. Und auch mit dem Begriff der „Demokratie“ ist schon viel Schindluder getrieben worden, sodass Colin Crouch und andere bereits das Zeitalter der „Postdemokratie“ ausgerufen haben (und wenn in diesen Tagen die Vorratsspeicherung in Kraft getreten ist, so kann das auch nicht als ein Sieg demokratischer Errungenschaften gewertet werden.
Dass aber beide Begriffe etwas miteinander zu tun haben, wird mit einem Blick auf andere politische Verfasstheiten deutlich. Dazu muss man nicht in die eigene diktatorische Vergangenheit oder bis nach China schauen; es genügt, die dramatischen Veränderungen des Kulturbetriebs im zunehmend autoritär regierten Nachbarland Ungarn aufmerksam zu beobachten.
Jedem/jeder seine/ihre eigene Kulturpolitik
Wenn „Kulturpolitik“ eine Art Transmissionsriemen zwischen den beiden Begriffen „Kultur“ und „Demokratie“ ist, dann machen die definitorischen Schlampigkeiten eine halbwegs eindeutige, darüber hinaus gemeinsame Verbindlichkeit herstellende Begriffsbestimmung nicht eben leichter. Meine Vermutung ist, dass wir es mit einer Vielzahl unterschiedlicher Vorstellungen zu tun haben, die viel mit individuellen Erfahrungen, Einschätzungen und Erwartungen zu tun haben. Dazu kommt, dass der Begriff im Lauf der Zeit ganz unterschiedlich verwendet worden ist, sodass sich die Frage stellt, ob es so etwas wie eine genuine Kulturpolitik überhaupt gibt.
Nach meinen Einschätzungen zeichnet die Verwendung des Begriffs „Kulturpolitik“ eine gewisse manisch-depressive Grundhaltung aus. Seine inhaltliche Bestimmung reicht von der öffentlichen Finanzierung einiger weniger Kunst- und Kultureinrichtungen für eine Elite vom 3 – 5% über Kulturwirtschaftsförderung bis hin zum Anspruch einer Gesellschaftspolitik als Überbau für alle übrigen Politiken.
Diese tendenzielle Unbestimmtheit findet ihre Entsprechung in einer nur sehr schwachen institutionellen Verfasstheit ihrer Beforschung. Bis heute gibt es kein einziges Universitätsinstitut in Österreich, das sich mit Fragen der Kulturpolitik beschäftigt. Die Mitglieder der universitären und außeruniversitären Forschungsgemeinschaft lassen sich an zwei Händen abzählen; entsprechend fragmentarisch ausgeprägt ist der begleitende Fachdiskurs bei der Entwicklung und Umsetzung kulturpolitischer Maßnahmen.
Diese scheinbare Beliebigkeit ist gefährlich und die negativen Wirkungen zeigen sich unmittelbar, wenn die Strategien zur Lösung der aktuellen Krisen der nationalen Haushalte „Kultur“ einmal mehr als Luxusgut deklarieren, das man sich in guten Zeiten leisten konnte, auf das man aber nunmehr wird verzichten müssen: Konkret hat jüngst Spanien seinen Kulturetat um 25% gekürzt und die Steuern auf Eintrittskarten in Kultureinrichtungen signifikant erhöht. Ähnliches hören wir von Italien und Griechenland, aber auch vom ehemaligen kulturpolitischen Vorzeigeland Niederlande, dessen liberal-konservative Regierung alle bisherigen Mühen einer strukturellen Befestigung des Politikfeldes von einem zum anderen Tag entsorgt hat.
Die österreichische Bundesregierung hat es – zumindest vorerst – bei einer Stagnation der Kunst- und Kulturbudgets bewenden lassen (nicht so in einzelnen Bundesländern wie der Steiermark, wo es zu massiven Kürzungen querbeet gekommen ist), was von der amtierenden Bundesministerium Claudia Schmied als Sieg verkauft wird und doch dazu führt, dass aufgrund der anhaltend hohen Betriebskosten der wenigen großen Kulturunternehmen der Manövrierspielraum für kulturpolitische Entscheidungen weiter eingeschränkt wird.
In meinem jüngst erschienenen Buch „Kultur und Demokratie“ habe ich den Versuch unternommen, „Kulturpolitik“ einer Politikfeldanalyse zu unterziehen, um auf diese Weise seine Legitimationsgrundlagen zu verbessern. Es ist hier nicht der Platz für eine detaillierte Ergebnispräsentation. Stattdessen möchte ich mich auf einige wenige Thesen beschränken, die hoffentlich in der Lage sind, die Diskussion anzuregen.
Um mit einer Provokation in ahistorischer Zeit zu beginnen: Der aktuelle Zustand dessen, was wir unter Kulturpolitik verstehen, ergibt sich nicht zufällig sondern ist das Ergebnis eines sehr Österreich spezifischen historischen Verlaufs.
Am Anfang waren die spätfeudalen Kultureinrichtungen
Zuallererst fällt auf, dass es bis heute einige wenige repräsentative Kultureinrichtungen sind, die den institutionellen Kern kulturpolitischer Maßnahmen bilden und dabei den überwiegenden Anteil öffentlicher Mittel für Kunst und Kultur in Anspruch nehmen. Aus demokratiepolitischer Sicht scheint interessant, dass ihre architektonische Fassung mit der „autoritaristischen Endphase“ der Monarchie – wie das Ernst Hanisch genannt hat – zusammenfällt, in dem sich ein wirtschaftlich erfolgreiches aber politisch weitgehend einflussloses Bürgertum bemüht hat, zumindest in kulturellen Belangen der regierenden Aristokratie ebenbürtig zu sein.
Diese Einrichtungen definierten nicht nur ästhetische sondern auch am deutschen Idealismus geschulte moralische Hegemonieansprüche und damit Ein- und Ausschlusskriterien (Kultiviertheit versus Kulturlosigkeit), die weit über den Ausdruck individueller Geschmacksurteile hinausgereicht haben. Sie entpuppten sich bei genauerem Hinschauen als eine soziale Wertung, um die eigene „kulturelle Kapitalausstattung“ als sozialen Distinktionsgewinn zu nutzen. Damit aber erfüllten diese Einrichtungen eine wichtige gesellschaftliche Funktion von Kultur, die – so meine These – bis heute in Kraft ist und darin besteht, gesellschaftliche Trennungen aufrechtzuerhalten.
Diese Funktion wird freilich gerne unter dem Teppich gekehrt, etwa wenn die BesucherInnen am Ende des Neujahrskonzertes jeden Neujahrstag aufs Neue eingeladen sind, zu den Klängen des Radetzky-Marsches mitzuklatschen und damit vergessen zu machen, dass es eben dieser Graf Radetzky war, der 1848 mit gebührender Grausamkeit den Keim einer bürgerlichen Revolution zu ersticken vermochte. Zum Ausdruck gebracht wird hier die scheinbare Kontextlosigkeit einer „reinen Musik“, deren Zuhörer für sich in Anspruch nehmen, „ihre Geschichte“ hinter sich gelassen zu haben. Aber eben nur scheinbar.
Die Scheinbarkeit wird dort deutlich, wo sich die innere Organisationsform der großen Wiener Kultureinrichtungen über den gesamten Verlauf des 20. Jahrhunderts (und damit über alle fundamentalen politischen Wechsel) kaum geändert hat.
Nicht der Staat sagt den Kultureinrichtungen, was sie tun sollen, sondern diese sagen es ihm
Geändert hat sich 1918 die formale Trägerschaft, wenn dem nunmehrigen Kleinstaat Österreich eine kulturelle Infrastruktur eines mitteleuropäischen Reiches zugefallen ist und ihm die Aufgabe zukam, den Bestand und die Logik dieser Einrichtungen aufrechtzuerhalten. Die vorrangige Konsequenz besteht bis heute darin, dass die Einrichtungen früher da waren als der Staat und damit im Vorteil sind, wenn es darum geht zu bestimmen, was die Aufgabe dieser Einrichtungen ist. Tendenziell sagen diese das dem Staat und nicht umgekehrt. In diesem verkehrten Abhängigkeitsverhältnis wird ein Mythos des Unpolitischen künstlerischer Produktion aufrechterhalten, der es KünstlerInnen ungeachtet der jeweiligen politischen Konstellationen erlaubt, nur ihre Kunst zu leben.
Mit dieser Indienstnahme des Staates zur Aufrechterhaltung eines – einem imperialen Repräsentationsbedürfnis dienenden – Kulturbetriebs kam es zu einer Reihe informeller „Deals“, die u. a. darin bestanden, eine frühzeitige Amnesierung der Beteiligung am Naziterror und Identitätsbildung der jungen Zweiten Republik durch Kulturstaatsideologie zu tauschen gegen den Fortbestand einer betrieblichen Selbstläufigkeit. Diese Deals funktionieren bis heute, wenn mit den Entscheidungen des führenden Personals dieser Einrichtungen die kulturpolitischen Interventionsmöglichkeiten weitgehend erschöpft sind (woraus ich die Vermutung ableite, dass die eigentlichen kulturpolitischen Weichenstellungen nicht finanziell sondern personell erfolgen). Womit wir bei einem weiteren Charakteristikum österreichischer Kulturpolitik wären, die sich durch einen hohen Grad der Informalität („jeder kennt jeden“) auszeichnet und meint, auf transparente Verfahren der Entscheidungsfindung verzichten zu können.
Aufrechterhalten wird hier eine mehr oder weniger glanzvolle Repräsentationsform einer konservativen, demokratieskeptischen Verfasstheit Österreich, der jedenfalls bislang alle, auf demokratische Errungenschaften verweisende Konsequenzen auf das Abstellgleis einer idealistisch aufgeladenen Vermittlungspraxis verweist („Kultur für alle“ und jeden, Hauptsache irgendwie benachteiligt…).
Diese Form der ehernen institutionellen Kontinuität wurde erst in den 1990er Jahren erstmals signifikant in Frage gestellt, als Erhard Busek für die Bundesmuseen und Peter Wittmann für die Bundestheater (vorrangig in der Hoffnung auf Einsparungen bzw. vermehrter Drittmittelakquisition) die organisationelle Basis verändert haben.
Von oben und von unten: Die ewigen kulturpolitischen Gegensätze
In gewissem Sinn ging es während des gesamten 20. Jahrhunderts um den Widerspruch zwischen staatlich verordneter Affirmation und dem Anrennen von engagierten politisch/künstlerischen Minderheiten gegen dieses hermetische Bollwerk. Das betrifft die Entstehung der unterschiedlichen Avantgarden mit ihren Versuchen der Wiederannäherung von Kunst und Leben ebenso wie die politischen Versuche im Roten Wien gegen die dominanten katholisch-konservativen Kulturvorstellungen eine andere, sozialistische Kultur zu kreieren.
Manifest wurde die Auseinandersetzung noch einmal 1968 und im Gefolge, wenn Pierre Boulez den Kampfruf: „Schlachtet die heiligen Kühe“ ausgab und der Ministersekretär Fritz Hermann seine Gstanzln „Trara trara die Hochkultur“ sang.
Kreisky wusste um die konservative Gesamtverfassung der Gesellschaft: Er sprach sich dafür aus, das Alte weitgehend zu belassen, dafür aber Neues hinzuzufügen. Seine Kulturpolitik war geprägt durch die Vorstellung, auch die eigene Klientel nunmehr am Glück der Hochkultur teilhaben zu lassen. Der Kulturpolitische Maßnahmenkatalog und mit ihm der Kultur-Service, an dem ich selbst viele Jahre beteiligt war, sollten für die Umsetzung sorgen.
Für eine kulturelle Demokratie
Schon davor gab es Versuche, vor allem junge Menschen aus nicht bürgerlichen Milieus mit den Segnungen einer guten, staatlich approbierten Kultur vertraut zu machen. Institutionen wie „Buchclub der Jugend“, „Jeunesse musicale“, Aktion „Der gute Film“ oder der „Schallplattenclub“ zeugen davon. Jetzt aber kam eine erste breitere kulturelle Demokratisierungswelle über das Land: Im Sinne einer „Kultur für alle“ sollten auch die Arbeitermilieus nicht nur Zugang zur „Massenkultur“ sondern auch zur „Hochkultur“ haben. Im Nachhinein erweisen sich die damit verbundenen kulturpolitischen Intentionen als durchaus paternalistisch. Immerhin ist nicht davon auszugehen, dass in den 1970er Jahren Scharen von ArbeiterInnen an die Pforten der hoch subventionierten Kultureinrichtungen geklopft und Einlass begehrt haben. Sie wurden stattdessen mit sanften Mitteln zu ihrem kulturellen Glück gezwungen. Die Haltung des „Gewährens“, welche bis heute die Kunst- und Kulturförderung durchzieht, sollte sich nunmehr nicht nur auf die armen KünstlerInnen, die bislang vom offiziellen Kulturbetrieb ausgeschlossen waren, sondern auch auf die potentiellen NutzerInnen erstrecken.
An dieser Stelle setzt die Kritik der Autoren von „Kulturinfarkt“, das zumindest in Deutschland zurzeit die kulturpolitische Diskussion anfacht, an. Sie sprechen vom „großen Generalverdacht“ gegen über denjenigen, die es mittels „Kultur für alle“ zu erreichen gilt. Sie setzen stattdessen auf eine emanzipatorische Grundhaltung, die jeden Einzelnen über seine eigene Kultur verfügen lässt: „Der Mensch ist mündig und keine reparaturbedürftige Existenz, der man Kultur teilhaftig werden lassen muss.“ Entsprechend müsse er nicht „von oben“ veranlasst werden, sich kulturell zu betätigen.
Diese Auseinandersetzung gab es schon damals. Spätestens Mitte der 1970er manifestierte sich der Widerstand gegen eine verordnete Kultur in Form einer Reihe neuer – in der Regel „selbstverwalteter“ – Kulturinitiativen. In ihrem Gefolge kann die Gründung der grün-alternativen Bewegung durchaus als ein kulturpolitisches Ereignis angesehen werden. Aber auch hier sollte es dem Staat wenige Jahre danach gelingen, das Netz der regionalen Kulturinitiativen mit einer eigenen Förderstelle des Ministeriums zu adeln und damit institutionell einzufangen.
Allen diesen Versuchen ist die Hoffnung gemeinsam, mit Kulturpolitik ließe sich die Gesellschaft zum Positiven verändern (wobei sich die Rhetorik nur zu schnell auf die Vorstellung reduziert, alle Angesprochenen sollen/können so werden wie der jeweilige Sprecher/die jeweilige Sprecherin). Und es wäre die Aufgabe eines „guten Vater Staat“ dazu etwas beizutragen.
Es ist anders gekommen: Ja, es gab Versuche Gegenwartskunst stärker zu fördern. Auch der Marsch in die Institutionen wurde angetreten, um mit neuem Personal wie Klaus Peymann oder Gerard Mortier den Betrieb aufzumischen. Geblieben aber ist das ebenso selbst produzierte wie nunmehr unauslöschliche Image, beim österreichischen Kulturbetrieb handle es sich um die „repräsentation of a former civilisation“ (so eine Antwort im Rahmen einer Befragung US-amerikanischer Kulturwissenschafter 2008).
Kulturmarkt schlägt Kulturpolitik
Mit der Ent-Ideologisierung der Parteienlandschaft verlagerten sich die kulturpolitischen Kräfteverhältnisse. Es ist zunehmend der Markt, der das kulturelle Geschehen bestimmt und der Politik die kulturelle Definitionsmacht aus der Hand genommen hat. Die Auswirkungen bestehen in einer bisher ungekannten kulturellen Diversifizierung; jeder ist frei, über seine Kultur zu verfügen, sofern er über die entsprechenden Mittel verfügt. Zu besichtigen ist das emanzipatorische Potential des Kapitalismus, der mittlerweile auch im Kulturbereich seine Kraft entfaltet hat (Hausse im Bereich der Cultural Industries, Kulturmanagement, Kulturbranding,…). Diese Form des kulturellen Neoliberalismus hat freilich auch die Schere zwischen wenigen reichen und höchst privilegierten und den vielen armen und in prekären Verhältnissen agieren Kulturschaffenden noch einmal exemplarisch hat aufgehen lassen.
Dieser umfassende gesellschaftliche Transformationsprozess hat auch vor großen Kultureinrichtungen nicht Halt gemacht. Auch sie müssen sich zunehmend den Markterfordernissen unterwerfen. Die Zeiten der Feudalreiche einzelner Patriarchen (dessen „Schicksal“ anhand von Peter Noever oder Gerald Matt zurzeit als einzig signifikantes kulturpolitisches Thema die Öffentlichkeit interessiert) sind vorbei.
Deutlich wird hier eine besondere Form der Ungleichzeitigkeit: Während staatliche Kulturpolitik (die gegenüber den anderen politischen Ebenen an Bedeutung verliert) weitgehend konturlos dahindümpelt, ersuchen sich Rechtspopulisten in einer Neuauflage von Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik: Und wieder geht es darum, das Trennende, Ausgrenzende von Kultur herauszustreichen, in der Absicht, damit soziale Differenzen nicht mehr als Ausdruck verschiedener Interessen sondern als quasi naturwüchsig erscheinen zu lassen.
Und wo bleibt die kulturelle Demokratie?
Die kulturpolitische Rhetorik beschränkt sich aktuell auf eine Befürwortung von Kulturvermittlung. Konkret wird Claudia Schmied nicht müde, ihrer Hoffnung, spätestens 2013 würde jede Schule mit einer Kultureinrichtung zusammenarbeiten, Ausdruck zu verleihen. Bei einiger konzeptiven Mühe könnte diesmal der Aspekt der Vermittlung in Richtung einer demokratischer Kultur weitergedacht werden, der sich nicht in der Affirmation des bestehenden Betriebes beschränkt sondern einen kulturpolitischen Anspruch verfolgt, demzufolge nicht mehr einzelne Kultureinrichtungen sondern die Vielfalt der unterschiedlichen kulturellen Zugänge aller BürgerInnen den Maßstab bildet.
Immerhin sind wir heute ausgestattet mir den Erfahrungen der ersten Welle demokratischer Kulturvorstellungen, die darin bestand, möglichst alle Menschen zur richtigen Kultur hin zu erziehen. Das hat nicht funktioniert und wird – mit wenigen individuellen Ausnahmefällen – heute auch gar nicht mehr als erstrebenswert empfunden. Also müssen wir uns auch aus kulturpolitischer Sicht nolens volens an so etwas wie kulturelle Vielfalt gewöhnen.
Jeder hat seine/ihre kulturellen Vorlieben und diese unterliegen immer weniger einer staatlich zu gewährleistenden Hierarchisierung (Dies schließt eine Hierarchisierung durch einzelne, finanzstarke und über die nationalen Grenzen hinaus agierende Marktakteure aus, gegen die (kultur-)politische Alternativen zu entwickeln, die heute mehr denn je opportun wäre).
In die richtige Richtung geht hier das neue rot-grüne Regierungsübereinkommen, welches Kulturpolitik in Zusammenhang mit der geänderten demographischen Bevölkerung (und damit verbundener Diversifizierung) bringt.
Die kulturellen Räume geraten in Bewegung
Zu erwarten ist, dass die laufende Sparpolitik des Staates ebenso wie das – weitgehend marktgesteuerte – Kulturverhalten der Menschen die großen – als Referenzmedien betriebsverwöhnte – Kulturtanker noch einmal gehörig unter Druck bringen wird. Mit der abnehmenden Fähigkeiten des Staates, ihr privilegiertes Existenzrecht zu begründet, sind sie gefordert, sich selbst zu legitimieren in einer Weise, die sich nicht in einem alibihaften Angebot von Kulturvermittlung bei ansonsten weitgehender Aufrechterhaltung des Regelbetriebs erschöpfen wird können
Als bislang privilegierte Kulturräume stehen ihnen ganz neue Räume gegenüber, in denen sich die NutzerInnen in ihrem kulturellen Sosein erkennen und entsprechend verhalten. Immerhin haben dort selektive Kleidervorschriften ausgedient und auch viele andere, dem traditionellen Kulturbetrieb eingeschriebene Disziplinierungsformen lassen sich nicht mehr aufrechterhalten
In diesen Räumen liegen beträchtliche Demokratiepotentiale in Sachen Interaktion und Mitwirkung; dass sich eine neue politische Gruppierung „Piratenpartei“ um Fragen des Urheberrechts (als Ausdruck des jeweiligen Verhältnisses zwischen Produktion und Nutzung) organisiert, ist sicher kein Zufall.
Staatliche Kulturpolitik – so meine Kritik – läuft Gefahr, den kapitalen Fehler zu wiederholen, den Film nicht als das wichtigste Kulturmedium des 20. Jahrhunderts als Ausdruck einer „Kultur der Vielen“ zu begreifen und ihre Maßnahmen danach auszurichten. Es ist höchste Zeit, diese Räume zu betreten, sie als Orte des Experiments und der Erprobung zu nutzen, mit dem Ziel, eine neue Generation an kulturpolitischen Instrumenten zu entwickeln, die von einem überzeugenden (demokratie-)politischen Wollen getragen sind.
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