„Und meine Erkenntnis: die Welt in ihrer Gesamtheit nicht so ernst zu nehmen, aber dafür im Detail umso mehr“ (Klaus Maria Brandauer)
Es ist schon eine ganze Weile her, als meine Mutter eine Reise nach Südafrika unternommen hat. Zusammen mit anderen GastwirtInnen verbrachte sie im Land des Apartheid-Regimes nach eigener Erzählung eine wunderbare Zeit. Sie war begeistert vom Essen, vom Service und von der Landschaft. Sie wurde nicht müde, davon zu berichten, wie gut es den Leuten, mit denen sie in Kontakt kam, dort ging. Als ich sie auf ihre Beobachtungen zur systematischen Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung ansprach, wollte sie davon nichts gemerkt haben und vermutete dahinter den Versuch einer einseitigen Berichterstattung mit der Absicht, das Land schlecht zu machen.
An diese Geschichte musste ich denken, als ich zuletzt ein paar Tage in Barcelona zum Start-up Meeting unseres EU-Projektes „Access to Culture“ verbracht habe. Ein Spaziergang in den Strassen der Stadt schien jede Berichterstattung, die von einem tiefgreifenden wirtschaftlichem Niedergang und damit verbundenen Auswirkungen auf die Bevölkerungen wie Massenarbeitslosigkeit, vor allem von Jugendlichen, die mittlerweile bei mehr als 56 % liegt erzählt, zu falsifizieren. Stattdessen pulsierendes Treiben wie eh, geöffnete Geschäfte, tosender Verkehr, unzählige TouristInnen. Als naivem Beobachter bot sich mir der Eindruck, hier herrsche business as usual.
Gefährdete Hochzeitsvorbereitungen und die Krise
Ganz anders hingegen die Erzählungen von einzelnen VetreterInnen von Kultureinrichtungen, die davon berichteten, wie sehr sich ihre Arbeitsbedingungen verschlechtert hätten, wie sehr sie darunter leiden würden, dass ihnen sowohl öffentliche als auch private AnsprechpartnerInnen für überlebensnotwendige Projekte abhanden kommen, und wie erschöpft und müde sie mittlerweile seien beim Versuch, ihren Betrieb aufrechtzuerhalten.
Besonders berührt aber hat mich eine persönliche Geschichte, die die Hochzeitsvorbereitungen eines Kollegen betraf. Wie es sich für so ein Fest gehört, habe er eine Reihe von FreundInnen und KollegInnen eingeladen, die sich jetzt nacheinander entschuldigen würden, weil sie nicht teilnehmen könnten. Die Gründe lägen nicht im Nicht-Wollen sondern im Nicht-Können: Einer habe schlicht nicht mehr die Mittel, sich die Reise zu leisten, einer habe gerade seinen Job verloren, ein anderer seine Wohnung und wieder ein anderer wüsste einfach nicht mehr weiter, wenn es unter immer schwierigeren Bedingungen darum geht, mit seiner Familie über die Runden zu kommen.
Diese Rückmeldungen sind ganz offensichtlich nicht Ausdruck von business as usual, sondern Blitzlichter eines Zustands, bei dem sich die Auswirkungen der Krise (noch) nicht an der Oberfläche zeigen, sich aber darunter in das Leben der Menschen fressen und ihnen – ganz unmittelbar – Sinn und Perspektive nehmen. Während der naive Beobachter noch einen weitgehend intakten Betrieb wahrnimmt, zeigt sich die Krise in den konkreten Details, die die Lebensgrundlagen von immer mehr Menschen existentiell erschüttern.
Der Teich und die Fische
Von Barcelona bin ich nach Hannover weiter gefahren, um als Referent am Kongress „Kinder zum Olymp!“ teilzunehmen. Auch hier bin ich in den Straßen spaziert. Und auch hier keine oberflächlichen Anzeichen von aktuellen Krisenerscheinungen. Statt dessen kommt es sogar (noch) zu Neugestaltungen der kulturellen Infrastruktur, etwa in Form einer Erweiterung des Historischen Museums, auf dessen Hinterwand ich im Vorbeigehen einen Text von Johann Wolfgang von Goethe gefunden habe, der mein Problem auf den Punkt bringt:
„Es gibt nichts Ödes, nichts Unfruchtbares, nichts Totes in der Welt; kein Chaos, keine Verwirrung außer einer scheinbaren; ungefähr wie sie in einem Teich zu herrschen schiene, wenn man aus einiger Entfernung eine verworrene Bewegung und sozusagen ein Gewirre von Fischen sähe, ohne die Fische selbst zu unterscheiden.“
Das Spannungsverhältnis zwischen der oberflächlichen Einschätzung des großen Ganzen und des kleinen Einzelnen gab es also schon zu Goethes Lebzeiten. Was aber haben wir im Umgang damit gelernt? Diese Frage beschäftigte mich vor allem in einem der Foren der 6. Neuauflage dieses Kongresses zu aktuellen Problemen der kulturellen Bildung, der sich diesmal vor allem mit dem Thema „Qualität kultureller Bildung“ beschäftigte.
Unter dem Titel „So viel wie nötig, so wenig wie möglich?“ sollten Fragen der Evaluation behandelt werden. Allein die Wahl des Titels macht deutlich, dass Evaluierung – jedenfalls bei den OrganisatorInnen – nach wie vor eher als ein notwendiges Übel denn als Bereicherung der Praxis verstanden wird. Da helfen auch Verweise auf begriffliche Grundlegungen, die mit dem lateinischen Verb valere vorrangig Ideen der Wertschätzung, des Wichtig-Nehmens, darüber hinaus des Vermögens und des Geeignet-Seins verbinden, nur wenig.
Grundlage jeglicher Evaluierung ist eine Praxis, die es entlang vereinbarter Zielvorgaben zu analysieren gilt. Die Sorge, die viele PraktikerInnen mit dieser Übung verbinden, besteht vor allem darin, dass damit nicht ins Geschehen involvierte ExpertInnen Aussagen über ihr Tun treffen, die sie nicht mitbestimmen und die sich daher gegen sie richten können.
Sie fürchten, sich als kleine Fische im Teich des großen Ganzen der Evaluierungsergebnisse mit ihren, im Einzelnen begründeten Besonderheiten nicht mehr wiederzufinden. Und so kann es zum Gefühl kommen, einem Prozess der „Enteignung“ ausgeliefert zu sein, den sie in der Regel nicht beeinflussen können.
Dabei fühlt sich nur mehr eine Minderheit der im Bereich kultureller Bildung Tätigen einem blinden Aktionismus verpflichtet, der jede Form der Reflexion zurückweist, weil sie der Idee kultureller Bildung als Ermöglichung unmittelbarer sinnlicher Erfahrung abträglich wäre. Stattdessen herrscht mittlerweile weitgehender Konsens darüber, dass jede Praxis, wenn sie denn den Anspruch in sich trägt, gut sein zu wollen (und damit bestimmten Qualitätsvorstellungen zu entsprechen), wert ist, bedacht zu werden. Entscheidend ist, ob und wenn ja in welcher Form sie an diesem Prozess des Bedenkens teilhaben können.
Nun sind mir als Auftragnehmer diverser Evaluierungsvorhaben die vorgefassten Erwartungshaltungen von Auftraggebern nicht entgangen. Als Interessenträger verbinden sie mit Auftragsvergaben in der Regel den Wunsch nach Legitimation der von ihnen getätigten Ausgaben, die es gilt, im eigenen Kontext zu begründen (gerade weil das so ist, scheint mir die Aufrechterhaltung einer nicht auftragsbasierten universitären Evaluierungspraxis, die sich diesbezüglichen Zwängen weit weniger stark ausgesetzt sieht, ein notwendiges Korrektiv). Auf der Grundlage eines solchen Bias gilt es, zwischen den möglichst unbeeinflussten Ergebnissen der Evaluierung und – allenfalls zusammen mit den Auftraggebern gemeinsam zu entwickelnden – Empfehlungen zu unterscheiden.
PraktikerInnen und EvaluatorInnen als PartnerInnen auf Augenhöhe
Noch weit wesentlicher aber erscheint mir die Art und Weise, wie EvaluatorInnen mit PraktikerInnen kommunizieren. In diesem Zusammenhang hat es sich – jedenfalls im Rahmen von EDUCULT-Projekten – als besonders ergiebig erwiesen, einander auf Augenhöhe zu begegnen. Erst mit der wechselseitigen Anerkennung von ExpertInnen der jeweiligen Tätigkeitsfelder wird es möglich, den Schatz der Expertise, über den die PraktikerInnen verfügen, in vollem Ausmaß zu nutzen und damit die Evaluierungsergebnisse inhaltlich anzureichern. Wer jemals mit den unmittelbar Beteiligten an Projekten kultureller Bildung gesprochen hat, weiß, zu welch klugen, aber auch kritischen Einschätzungen nicht nur die PädagogInnen und VermittlerInnen, sondern auch die beteiligten Kinder und Jugendlichen kommen können, wenn es gilt, die eigene Rolle und darüber hinaus den gesamten Verlauf zu bewerten.
Die positiven Erfahrungen im Umgang mit den PraktikerInnen können freilich nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass die Interpretation jeglicher Evaluierungsergebnisse abhängig ist von den Interessen derer, die den Anspruch stellen, diese (mit)zuinterpretieren. Im Kampf um die Interpretationshoheit gerät jeder Evaluierungsprozess unabwendbar in einen Machtzusammenhang, der in der Beurteilung der Resultate freilich gerne unter den Teppich gekehrt wird.
Um dieser Gefahr zu entgehen, erscheint mir eine besondere Ermutigung an die PraktikerInnen angebracht, sich an diesen Diskursen aktiv zu beteiligten, auch dort ihre Interessen einzubringen und sich nicht einseitig interpretierte Ergebnisse oktroyieren zu lassen (als eine Minimalerfordernis hieße das, provisorische Resultate noch einmal mit PraktikerInnen zu diskutieren und so Korrekturen bzw. Spezifikationen zu ermöglichen). Zu viel spricht dafür, dass Qualitätsvorstellungen nicht ein für alle Mal festgefügt werden können, sondern den jeweiligen Stand eines sich laufend weiterentwickelnden (vielstimmigen) Diskurses repräsentieren, für den EvaluatorInnen als Serviceleister verhandlungsfähiges Material zur Verfügung stellen.
Bei diesem Evaluierungsansatz sind es die Fische, die mehr über den Zustand des Teiches berichten können als der scheinbar unbeteiligte Beobachter an seinem Rand, der immer nur in der Lage ist, eine „verworrene Bewegung“ wahrzunehmen. Dafür sprechen auch meine Erfahrungen in Barcelona, wo mich mein Spaziergang als Unbeteiligter so lange nichts verstehen ließ, bis mir die konkreten Hochzeitsvorbereitungen einen Einblick in das, was wirklich der Fall ist, erlaubt haben.
Und so haben wir unversehens in der Beschäftigung mit Evaluierung kultureller Bildung einen möglichen Schlüssel dafür gefunden, die europäische Krise als eine kulturelle zu verstehen, wenn es um den Kampf um Mitsprache und damit um die Deutungshoheit über das geht, was die Krise mit jedem von uns und darüber hinaus mit uns als Ganzes macht.
„Kunst ist die Darstellung der Welt, Kultur ihre Verschönerung“
Der österreichische Autor Michael Scharang hat zuletzt in der Tageszeitung Die Presse unter dem Titel „Vergesst dieses Europa!“ eine harsche Kritik am Umgang der EU mit der Krise verfasst. Darin beobachtet er u.a., dass der deutsche Idealismus, in dem er einen Anwalt des großen Ganzen gegenüber dem kleinen Einzelnen sieht, zur Beschönigung dessen, was für immer mehr Menschen Alltag ausmacht, fröhliche Urstände feiern würde. Seine Diagnose: „Die gegenwärtige Propaganda in der EU verkürzt Philosophie zur Lüge. Um das Ganze zu schützen, muss das Einzelne schutzlos preisgegeben werden. Das ist das Ende des guten Lebens und des kritischen Denkens … Die EU will sich geistig und kulturell so abgebildet sehen, dass der Event noch öder ist als die Realität. Das, so die kulturpolitische Spekulation, lenkt von der Wirklichkeit ab.“
Dieser Befund scheint mir eine besondere Gefahr für den Sektor der kulturellen Bildung zu sein, der sich traditionell auf eine idealistische Tradition beruft und damit Gefahr läuft, den verschleiernden Beschönigungstendenzen der im Konkreten immer sichtbarer werdenden negativen Konsequenzen der Krise Vorschub zu leisten.
Folgt man Scharang, dann könnte eine Rückbesinnung des Kosmos der kulturellen Bildung auf die Kunst, die ursprünglich als eine besondere Errungenschaft europäischer Aufklärung angetreten ist (und doch als Referenzmedium – im Zuge der Verschärfung der Krise zufällig oder nicht – zunehmend an den Rand des Kosmos der kulturellen Bildung gerät) noch einmal den Blickwinkel ändern: „Die Kunst, alt, gerissen, desillusioniert, bleibt von diesem Spektakel unberührt. Kunst ist die Darstellung der Welt, Kultur deren Verschönerung. Im schönen Schein der Kultur leuchtet die graue Gegenwart als rosige Zukunft. Im Licht der Kunst sieht man durch die Risse in der Gegenwart die bedrohliche Vergangenheit emporsteigen. Ein neuer Faschismus versucht die alte Demokratie zu strangulieren. Europa ist für beides wie geschaffen.“
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