30 Cent für kulturelle Bildung sind nicht genug!
Die Wut über den Zustand kultureller Bildung geht um. So meinte Nikolaus Harnoncourt in einem jüngst veröffentlichen Pamphlet: „Heutige Bildungspolitiker kennen nur ein Ziel: den funktionierenden Menschen. Es geht darum, Kinder zu besseren Ameisen heranzuziehen…Das halte ich für verbrecherisch“.
Aber von Anfang an: Noch vor ein paar Jahren herrschte in Sachen kulturelle Bildung Aufbruchstimmung. 2007 entschloss die Regierung anlässlich der Neuauflage der Großen Koalition, sich von der Idee der „Chefsache Kunst“ im Bundeskanzleramt zu verabschieden und eine gemeinsame Zuständigkeit für Unterricht, Kunst und Kultur zu installieren. In einem gemeinsamen Ministerium sollte es gelingen, bildungs- und kulturpolitische Ziele miteinander zu verknüpfen. Sowohl der Bildungs- als auch der Kulturbereich sollte dadurch einen Nutzen bei der Entwicklung eines zeitgemäßen kulturellen Bildungsangebotes ziehen und so wurde die amtierende Bundesministerin Claudia Schmied Chefpropagandistin von Kunst- und Kulturvermittlung. Spätestens bis 2013 sollte jede österreichische Schule eine Kooperation mit einer Kultureinrichtung eingegangen sein (hat eigentlich je jemand nachgeprüft, ob bzw. inwieweit dieses Ziel erreicht wurde und was diesbezügliche Versuche allenfalls bewirkt haben? Und wenn nein, warum wurde nicht nachgeprüft?).
Schwerpunkt kulturelle Bildung – Abstimmung, Steuerung und Evidence Based Policy
Auch EDUCULT wurde eingeladen, sich an der konzeptionellen Ausgestaltung eines solchen Schwerpunktes zu beteiligen. Mit „Vielfalt und Kooperationen“ versuchten wir erstmals, eine Bestandsaufnahme kultureller Bildung in Österreich vorzunehmen und entlang der Rückmeldungen aus dem Feld, Empfehlungen zur Implementierung dieses Schwerpunktes zu formulieren. Eine bezog sich auf den Umstand, dass selbst innerhalb der Zentralverwaltung traditionell gewachsene Maßnahmen ganz unterschiedlicher Zielsetzung, Umfang und Reichweite weitgehend unvermittelt nebeneinander administriert werden, ohne auf diese Weise eine systemische Wirkung zu erzielen. Und eine andere befragte die sehr österreichische Form, der vor allem im Bereich der Kulturpolitik grassierenden Entscheidungsfindung, die vermeint, ohne Daten auskommen zu können und stattdessen auf die Befindlichkeit informeller Netzwerke setzen zu sollen.
Zu einer künftigen strategischen Ausrichtung sollte nach dem Wunsch der amtierenden Ministerin eine Stabsstelle samt regelmäßiger Arbeitsgruppe aus VertreterInnen verschiedener Stakeholder-Gruppen eingerichtet werden; dazu kam der Ruf nach „Evidence Based Policy“, in der Hoffnung, damit transparente und objektivierbare Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Spätestens mit der Erarbeitung von Forschungsergebnissen, die dazu angetan waren, einen nicht nur advokativen sondern auch kritischen öffentlichen Diskurs über die bestehenden Strukturen kultureller Bildung zu eröffnen, war der „kurze Sommer der kulturellen Bildungsforschung“ rasch wieder vorbei. Stattdessen hatten die zuständigen Beamten im Unterrichtsressort zu vermelden, die Frau Bundesministerin wünsche keine Forschung. Stabsstelle und Arbeitsgruppe hingegen tagten weiter, freilich ohne dass noch einmal signifikante Ergebnisse ihrer Beratungen in breitere Öffentlichkeiten gedrungen wären.
Woher also die öffentlich geäußerten Wutanfälle?
Mit der Neuaufteilung der Ressortzuständigkeiten (offiziell seit März 2014) gingen Unterricht, Kunst und Kultur wieder getrennte Wege; Unterricht wurde diesmal der Frauenministerin umgehängt, Kunst und Kultur (fast) wieder Chefsache im Bundeskanzleramt. Und siehe da: Niemand scheint den Zeiten der gemeinsamen Kultur- und Bildungskompetenz eine Träne nachzuweinen; mehr noch, weder die neue Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek, noch der für Kunst und Kultur zuständige Kanzleramtsminister Josef Ostermayer haben sich bislang zum Thema Kunst- und Kulturvermittlung öffentlich geäußert. Es ist, als wäre kulturelle Bildung als eine Querschnittsmaterie einfach von der Tagesordnung verschwunden. Bleiben die Neos als junge Oppositionspartei, die als bisher einzige versucht haben, das Thema zumindest auf parlamentarischer Ebene am Leben zu halten und konkret nachzufragen, welche Programme kultureller Bildung bislang dem aktuellen Sparkurs zum Opfer gefallen sind.
Über das Zermahlen von Widersprüchen als erste Kompetenz der Verwaltung
Aus dem Bildungsministerium wird berichtet, man sei gegenwärtig vor allem mit „Sparen“ bzw. mit der Suche nach Kürzungen und der Beendigung von Maßnahmen im Ermessensbereich beschäftigt. In dem Zusammenhang mutiert die Aufgabe der Beamtinnen immer mehr dahin, Kommunikation nach außen erst gar nicht aufkommen zu lassen und wenn das nicht möglich ist, Nachfragern wortreich zu erklären, was alles nicht (mehr) geht, wie sie sich ja ohnehin für dieses oder jenes einzusetzen versuchten, sie der aktuelle Sparkurs weitgehend aber zur Untätigkeit verurteilen würde. Der Gipfel: Nicht einmal mehr kurze Dienstreisen zu einzelnen Schauplätzen kultureller Bildung würden mehr genehmigt (in diesem Zusammenhang bedaure ich, nie die Stunden, die ich im Rahmen meiner einschlägigen Tätigkeit im Gespräch mit MinisterialbeamtInnen verbringen durfte, zusammengezählt zu haben, in denen man mich zu überzeugen versucht hat, dass etwas nicht geht. Allein die daraus entstandenen Personalkosten würden für die Durchführung mehrerer kultureller Bildungsprojekte reichen).
Es zeigt sich, dass die besondere Qualität der Ministerialbürokratie in Zeiten staatlichen Rückzugs darin besteht, sicher zu stellen, dass nichts passiert bzw. Widersprüche zwischen Anforderung und Ermöglichung so lange zu zerreiben, bis sich deren Behandlung mittels Vergessen, Ermüdung oder Resignation als obsolet erwiesen hat. Just diese Strategie scheint nunmehr an eine Grenze gestoßen zu sein. Ganz offensichtlich meinte die politische Führung des Unterrichtsressorts, mit dem Ende des Schwerpunktes Kunst- und Kulturvermittlung auch die Kommunikation mit den Szene-VertreterInnen beenden zu sollen. Die Koinzidenz von Konzeptlosigkeit und oktroyierter Sparwut liefert keinen ausreichenden Gesprächsstoff mehr.
Das Musikestablishment ist sich einig: Skandal in der Kulturnation
Zumindest ein Teil der bisherigen Kommunikationspartner fühlt sich zurückgesetzt und schlägt zurück. Allen voran die von allen am besten organisierte klassische Musikszene, die sich in Form eines bösen Artikels mit dem Titel „Bildungspleite – Das Ende des Musikunterrichts“ ausgerechnet in der Zeitschrift NEWS zu Wort meldet. Dort wird – wie es für den Boulevard gehört – ganz dick aufgetragen: Die Rede ist von Schande, Verwüstung und Skandal; die Republik würde ihr kulturelles Erbe mit Füßen treten, Einsparungen bedrohten die Kulturnation Österreich und spätestens in dreißig Jahren hätten sich die letzten Reste eines musikkundigen Publikums verlaufen.
Mit starken Sprüchen vor allem zur LehrerInnenausbildung gelingt es dem Blatt, eine Reihe namhafter VertreterInnen des musikalischen, selbst höchst privilegierten Establishments wie Rudolf Buchbinder, Franz Welser-Möst, Nikolaus Harnoncourt, Daniela Fally, Dominique Mayer oder Markus Hinterhäuser dafür zu gewinnen, als Lobbyisten musikalischer Bildung aufzutreten und dabei der Politik eins auszuwischen. Deren Sprache erinnert freilich mehr an Losungen der rechtskonservativen AfD (Alternative für Deutschland) (deren Führungspersonal u.a. behauptet, mit etwas mehr Singen und Geigenspiel ließe sich eine neue Geborgenheit von Kultur, Familie, Heimat und Geschichte in einer ansonsten sinnentleerten Welt schaffen), als an ein fortschrittliches Projekt, das der Ausdifferenzierung der zunehmend multimedial vermittelten kulturellen Lebenswelten junger Menschen auch nur halbwegs gerecht zu werden möchte.
„Kulturnation“ als Beleg für ein ungeklärtes Verhältnis zur Politik
Aber angesichts der bestehenden Konzeptlosigkeit staatlicher Politik ist es nur zu verständlich, wenn sich die traditionellen Verbändevertretungen in Gestalt des Musikrates auf einen brachialen „Alarmismus“ beschränken und dafür alle verfügbaren Klischees aus dem Fundus einer überkommenen Rhetorik benutzen (besonders fragwürdig scheint mir in diesem Zusammenhang der penetrante Rekurs auf den vermeintlichen Status Österreichs als einer „Kulturnation“, der historisch nur verstanden werden kann als ein Kompensat für ein politisch weitgehend einflussloses und entmündigtes Bürgertum, das sich in Ermangelung politischer Rechte eine symbolische Repräsentation in Form eines prestigeträchtigen Kulturbetriebs geschaffen hat. Entsprechend verweisen alle Bezugnahmen auf eine derart zustande gekommene „Kulturnation“ notwendig auf ein prekäres Verhältnis zu Politik, auch und gerade wenn sich diesbezügliche Forderungen an diese richten; damit verweist schon die Verwendung des Begriffs auf den Status der politischen Entmündigung der SprecherInnen, ohne dass dieser Umstand ihnen noch einmal bewusst würde).
Was wollt ihr, wir verteilen ja ohnehin noch ein paar Almosen!
Dem Artikel auf NEWS.at folgend, ließ das Bildungsministerium ausrichten, dass man ja ohnehin 370.000 Euro in diverse Schulprojekte investieren würde (das macht bei rund 1,2 Mio. SchülerInnen rund 30 Cent! pro SchülerIn). Darüber hinaus bin ich mir nicht sicher, ob es innerhalb der Regierungsparteien überhaupt noch eine Bereitschaft gibt, sich mit kulturpolitischen Forderungen substantiell auseinander zu setzen oder sich am diesbezüglichen Diskurs auch nur zu beteiligen. Den Grund orte ich vor allem im Nachlassen des Glaubens seitens von PolitikerInnen, zwischen dem Kulturbereich und (ihrer) Politik ließen sich noch einmal gemeinsame Schnittmengen ausmachen, bzw. dieser wäre zumindest partiell in der Lage, die Erreichung der je eigenen politischen Ziele zu fördern. Diese Skepsis wird verstärkt durch den Umstand, dass PolitikerInnen zunehmend ausschließlich mit dem eigenen Überleben bzw. Fortkommen beschäftigt sind und daher die Vermittlung politischer Inhalte weitgehend irrelevant geworden ist. Die zu erwartende politische Reaktion wird sich also darauf reduzieren, das Skandalgeschrei „nicht einmal zu ignorieren“, den Grad der Selbstrefentialität der Bürokratie weiter zu erhöhen und sich ansonsten auf die Suche nach weiteren Einsparungsmöglichkeiten zu machen. Die Gelegenheit, sich am Prestige prominenter KünstlerInnen aufzurichten, wird sich an anderer Stelle schon wieder einmal finden.
„Staatliches Handeln als Arbeit an der „Ermüdungsgesellschaft“ (Byung-Chul Han)
Die Gefahr, die ich darin sehe, weist weit über eine bessere oder schlechtere Zukunft der musikalischen Bildung hinaus. Sie verweist auf eine grundsätzliche Änderung des Verhältnisses nicht nur von Bildungs- und Kulturpolitik zur jungen Generation. War diese in den 1970er und 1980er Jahren angetreten, jungen Menschen zu vermitteln, dass sie im Bildungssystem willkommen sind, dass ihr Bildungs- und Kulturengagement gewollt und mit einer Vielfalt von Maßnahmen unterstützt wird, müssen diese heute den Eindruck gewinnen, dass sie möglichst draußen bleiben sollen, dass sie mit ihren Ansprüchen, in die Gesellschaft hineinzuwachsen und diese mitzugestalten, in erster Linie stören, zumal deren Einlösung mit höheren Kosten verbunden sein könnten. Auf diese Weise erleben wir in Österreich gerade die systematische Produktion von Frustration und Perspektivlosigkeit, die an allen Orten zu spüren ist.
Während sich alle diejenigen, die es – auf welche Weise immer – geschafft haben, „sich ins System“ zu retten und sich die Notwendigkeit ihrer privilegierten Existenz mit immer neuen Gutachten und Expertisen absichern lassen, bleiben alle anderen draußen, deren Lebensperspektiven sich zunehmend eintrüben. Aber selbst für diejenigen, die drinnen sind, stellt sich zunehmend die Frage, woher sie – eingeklemmt in eine Unzahl von Vorschriften und Rücksichten – noch die Lust und die Energie nehmen sollen, sich zu engagieren, sich für neue Entwicklungen einzusetzen und allenfalls auch den Kopf dafür hinzuhalten. Und so haben wir es mit einer fatalen Retrobewegung zu tun, die in dem Maße, in dem eine weitgehend konzeptlose Bildungs- und Kulturpolitik sich außerstande erweist, eine überfällige Durchlässigkeit zu gewährleisten auf den Status zurückfällt, den hinter sich zu lassen sie in den 1970er Jahren angetreten ist.
Kann der Markt die Lähmung des staatlichen Engagements überwinden?
Wie verfahren die Situation mittlerweile geworden ist, hat mir ein Vorschlag eines ansonsten überzeugten Etatisten in einem der jüngsten Roundtables mit namhaften VertreterInnen aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Bildung zur Förderung eines verstärkten privaten Engagements zugunsten kultureller Bildung gezeigt: Danach sollten künftig „Bildungsvoucher“ an alle SchülerInnen verteilt werden. Die damit Bedachten erhielten so die Wahlmöglichkeit, selbst zu entscheiden, welches (kulturelle) Bildungsangebot ihnen am ehesten entsprechen würde. Es wäre nicht mehr die Bildungspolitik sondern der Markt, der für die Qualität eines zeitgemäßen Bildungsangebotes sorgen würde.
Es gibt Alternativen – anderswo
Dass die österreichische Entwicklung mit seiner – nicht zuletzt wegen des hohen Steueraufkommens – besonders teuren Staatsverwaltung nicht naturgegeben ist, zeigt die Entwicklung in Deutschland. Dort hat das Bildungsministerium zuletzt ein Programm zu kultureller Bildung „Kultur macht stark“ für die „besondere Förderung von bildungsbenachteiligten Kinder und Jugendlichen“ (Bildungsministerin Anette Schavan) in der Höhe von 230 Mio. Euro aufgelegt. Dazu kommen große Einzelprojekte wie „jeki – Jedem Kind ein Instrument“ oder „Kulturagenten“, deren Übertragung auf Österreich nicht nur die Herzen von Rudolf Buchbinder und Co höher schlagen lassen würde. Zusätzlich sind 5 Mio. Euro für die Beforschung des Sektors Forschung kulturelle Bildung vorgesehen, um mit deren Ergebnissen die Wirkungen für eine umfassende Schulentwicklung zu erhöhen.
Ende einer Dienstfahrt oder Hoffnung auf „schöpferische Zerstörung“ (Joseph Schumpeter)
Heinrich Böll hat 1966 die Erzählung „Ende einer Dienstfahrt“ veröffentlicht. Er erzählt darin die Geschichte des Soldaten Georg Gruhl, der den Befehl erhält, durch ziellose Fahrten mit einem Jeep den für die routinemäßige Inspektion erforderlichen Kilometerstand zu erzeugen. Er weigert sich, diesem Befehl nachzukommen, und fährt stattdessen nach Hause. Gemeinsam mit seinem Vater verbrennt Gruhl den Jeep unter Absingen von Litaneien auf offener Straße. Die Pointe der Erzählung besteht darin, dass die anfänglich als politisch motiviert eingestufte Straftat im Laufe der Verhandlung und nach der Anhörung des Kunstprofessors Büren als eine Form der Anti-Kunst („Happening“) bewertet wird.
Auch wenn österreichische Armeeangehörige zurzeit jammern, ihnen ginge der Sprit aus, so wurden doch im Rahmen der Bildungsverwaltung zum Nachteil aller Beteiligten noch nie so viele leere Kilometer zurückgelegt. Höchste Zeit für einen neuen Georg Gruhl aus der Bildungsverwaltung, oder eine Person, die den Mut aufbringt, nach Hause zu fahren und das unnütz gewordene Gerät zu zerstören. Die Bereitschaft, seine/ihre Leistung als Kunst anzuerkennen, wäre groß.
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