„Ach, die Werte“
„Ach, die Werte“, so lautet der Titel eines Buches des deutschen Erziehungswissenschafters Hartmut von Hentig, das er 2007 veröffentlichte. Er weist darin die Zuschreibung der Aufgabe von Schule zurück, Werte zu vermitteln, wenn diese nicht von der Gesellschaft getragen würden: „Die Verantwortung für das, was eine demokratische Regierung tut, trägt das Volk… Die Schule ist nicht dazu da, die Verhältnisse zu ändern und die Welt in Ordnung zu bringen.“
Außenminister Sebastian Kurz hat offensichtlich von Hentig nicht gelesen, wenn er in diesen Tagen „50 Maßnahmen zur Integration von Asylwerbern“ vorgestellt hat, zu denen auch der Besuch eines achtstündigen Kurses zur Vermittlung „heimischer Werte“ gehört. Mit der Realisierung dieser Ankündigung stellt sich sowohl ein methodisches als auch ein inhaltliches Problem. Ersteres verweist auf eine Pädagogik, die um die geringen Erfolgsaussichten abstrakter Belehrung weiß und stattdessen auf konkrete Erfahrung setzt. Zweitens kommt er um die Frage nicht herum, um welche spezifischen „heimischen Werte“ es da geht, die in einem solchen Schnellsiederkurs vermittelt werden können.
Immerhin spricht viel dafür, dass sich die zu vermittelnden „heimischen Werte“ nicht in einer ortsgebundenen Folklore erschöpfen, sondern – zumal in vielfältigen Gesellschaften – nur als universelle Werte, die eine prinzipielle Gleichwertigkeit aller Beteiligten bei Aufrechterhaltung jeweiliger kultureller/sprachlicher oder religiöser Besonderheiten garantieren, gedacht werden können.
In der Konsequenz fällt mir bereits der Versuch, das vermeintlich „Heimische“ auf einen europäischen Kontext zu beziehen schwer. Also habe ich mich auf die Suche gemacht und bin bei Johann Wolfgang von Goethe, dem niemand eine spezifische europäische Werthaltigkeit absprechen wird, hängen geblieben. Immerhin findet sich in seiner Faust-Interpretation die vorwegnehmende Beschreibung von kapitalistischen Wertvorstellungen angetriebene Existenz, die rastlos und glücklos unbefriedigt die in ihrem blinden Fortschrittsdrang ein sinnloses Expansionsbedürfnis auslebt.
Es war einmal: Okzident und Orient als Zwillinge
Es gibt aber noch eine andere – ebenfalls höchst aktuelle – Facette von Goethes Schaffen, die ihn in seinen letzten Lebensjahren den „West-östlichen Diwan“ in Form einer umfassenden Gedichtsammlung schreiben ließ. Er bezieht sich dabei auf den vom Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall 1812 ins Deutsche übersetzten Diwan des persischen Dichters Muhammad Schams ad-Din (Hafiz), dem er sowohl in der Anlage als auch in der inhaltlichen Ausrichtung zu folgen versucht. In der Sammlung finden sich u.a. folgende Zeilen.
Wer sich selbst und andere kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident, Sind nicht mehr zu trennen. Und mag die ganze Welt versinken, Hafis, mit dir, mit dir allein Will ich wetteifern! Lust und Pein Sei uns, den Zwillingen, gemein! Wie du zu lieben und zu trinken, Das soll mein Stolz, mein Leben sein.
Herrschende Realpolitik als Ideologie
Die Realitäten im Umgang des Okzidents mit dem Orient der letzten hundert Jahre lassen sich auf diese Form der literarischen Verbrüderung nicht beziehen. Sie sprechen eine ganz andere Sprache und so ist der alte Kontinent in diesen Tagen drauf und dran, den Preis für eine völlig verfehlte, die universellen Werte immer wieder verhöhnende Realpolitik zu zahlen. In einer brillanten Analyse kommt Bernd Ulrich in seinem Beitrag „Das Ende der Arroganz“ in Die Zeit (Nr. 47, S. 3-4) zum Schluss, dass die mannigfachen, auf schieren Machtinteressen basierenden Interventionen des Westens, mit dem Ziel, den Nahen und Mittleren Osten in seinem Sinn zu beeinflussen, als gescheitert angesehen werden müssen: „Geheimdienstaktionen, Drohnen, Invasionen, Stellvertreterkriege, Korruption, Waffenlieferungen, Bombardements, Sanktionen, Stabilisierungsversuche oder das Stürzen von Diktatoren“ – beschreiben nichts weniger als das Verhältnis von Zwillingen, die gemeinsam lieben und trinken. Aus all diesen Versuchen der Einflussnahme kann nur eines gelernt werden: einander zu hassen und zu vernichten.
Ulrich sieht in dieser Form einer, bestehende Ungleichheiten verfestigender Realpolitik in einer Ideologie des „too big to learn“ begründet. Darauf basierende strategische Fehler des Westens wurden nie richtig bestraft: „Sie konnten stets durch neue, noch größere Fehler, durch Ins-gegenteilige-Extrem-Umschlagen, durch noch imposantere Interventionen zum Verschwinden gebracht werden.“ Der Westen habe sich durch seine Weigerung – etwa am Beispiel von Hammer- Purgstall – akribisch und geduldig die jeweiligen Gegebenheiten eines Landes und seiner Menschen studiert zu haben und (durchaus interessensgeleitet) zu handeln, immer mehr von seinen eigenen Werten und Regeln entfernt – und dazu den Sinn für Wirklichkeit und Verhältnismäßigkeit.
Was wissen wir vom Bild Europas in seinen Nachbarländern?
Als durchschnittliche westliche MedienkonsumentInnen – Social Media hin oder her – haben wir wahrscheinlich keine Vorstellung, wie verlogen und zynisch der Anspruch des Westens, Werte zu vertreten, im Nahen und Mittleren Osten mittlerweile interpretiert wird. Da geht es nicht vorrangig um das Infragestellen liberaler Errungenschaften durch fundamentalistische ScharfmacherInnen. Herumgesprochen hat sich vielmehr, dass es den westlichen EntscheidungsträgerInnen um nichts weniger als um die möglichst globale Umsetzung universeller Werte geht, sondern um die Durchsetzung eines Machtanspruchs zur Fortsetzung einer auf struktureller Ungleichheit basierenden Wirtschaftsform, koste es was es wolle.
Und doch kommen sie zurzeit in Scharen als Flüchtlinge und tragen damit den Konflikt, den westliche Realpolitik bislang erfolgreich auf ihre Heimatländer hat begrenzen können, ins Herz des alten Kontinents. Und das macht uns Angst, die täglich größer wird. Die bestmögliche Arbeitsgrundlage für radikale Islamisten, die – vor kurzem vom Westen noch mit Waffen im Kampf gegen eine andere lokale Kriegspartei gehätschelt – nunmehr hoffen können, mit Anschlägen den Krieg jeder gegen jeden nunmehr auch nach Europa tragen zu können.
Der überwiegende Teil hingegen hat wohl endgültig den Glauben daran verloren, der Westen als herrschende politische Macht wäre noch einmal in der Lage, das Ruder herumzureißen und sei es auch noch so prekäre Lebensperspektiven vor Ort zu eröffnen. Sie verlassen ihre völlig devastierten Länder, für die weit und breit kein politischer Plan zur nachhaltigen Erholung existiert – der massenhafte Exodus erscheint ihnen als die einzige Chance zu überleben.
Europa erweist sich gegenüber diesem Ansturm bis heute weitgehend unvorbereitet. Zulange haben wir es bei der schaurigen Zurkenntnisnahme von ertrunkenen Bootsflüchtlingen bewenden lassen, um danach unser Leben wieder aufzunehmen, als sei nichts geschehen.
Ja, da geht es um ganz pragmatische Dinge wie Registrierung, Asylansuchen, Aufenthalt, Transport, Ernährung, Spracherwerb oder Zutritt zum Arbeitsmarkt derer, die sich auf den Weg nach Europa machen. Es geht aber darüber hinaus – so meine Vermutung – um eine grundsätzliche Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen Okzident und Orient. Der Dominanz des westlichen Wirtschaftsmodells und seinen mentalen Implikationen folgend ist es in den letzten Jahren zu einer nachhaltigen Ausdünnung des Wissens darüber gekommen, was für Goethe und seine Zeitgenossen noch den vielfältigen Reichtum des Orients ausgemacht hat.
In der Konsequenz beschränkt sich die westliche mediale Berichterstattung über die arabische Welt im Wesentlichen auf die wenigen aufmerksamkeitsheischenden Fakten, die möglichst 1:1 in unser westliches Weltbild integriert werden können. Das Resultat ist die weitgehende Unkenntnis darüber, was die Menschen, die jetzt nach Europa drängen ausmacht, was sie antreibt und sie bewegt. Diese Engführung schließt auch mit ein, dass mit Kürzel wie „Muslime“ undefinierte Ängste auf alles Andersartige projiziert werden, die jedes gegenseitige Interesse lähmen und zunichte machen.
Die Fließrichtung der Geschichte zwischen EuropäerInnen und AraberInnen kehrt sich um
Ja, es stimmt, Religionen haben immer wieder neu den Beweis erbracht, dass sie mit Hass aufladbar sind. Dass das aber nicht passiert, hängt in der aktuellen Situation nicht nur von den zuwandernden MuslimInnen ab. Es sind die jeweiligen Umstände, die darüber entscheiden und diese werden nach wie vor weit eher von den autochthonen EuropäerInnen bestimmt als von den muslimischen ZuwandererInnen – zumal diese ganz unterschiedlichen religiösen und damit demokratie- und rechtsstaataffinen Strömungen anhängen, von denen wir in aller Regel keine Ahnung haben.
Was wissen wir von all den AraberInnen, die sich vehement für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte engagieren?
In diesem Zusammenhang konstatiert nicht nur Bernd Ulrich, dass dem Westen bislang die Würde, die Sicherheit und die Menschlichkeit der MuslimInnen in der arabischen Welt nicht wirklich interessiert hätten, wenn sie sich nur genügend weit weg von uns die Schädel eingeschlagen haben. Aber jetzt sind sie da, mitten unter uns, und so liegt es auch bei uns, an der Verbesserung ihrer (und unserer) Lebensverhältnisse mitzuwirken, ansonsten befördern wir einen Nährboden für eine Spirale der Grausamkeiten, der sie bereits seit vielen Jahren ausgesetzt sind.
In einem EDUCULT-Projekt zur Ausbildung junger KulturmanagerInnen aus dem arabischen Raum konnten wir die Erfahrung machen, dass sich diese wesentlich engagierter (und noch dazu unter wesentlich schwierigeren, oft existenzgefährdeten Bedingungen) für die Verwirklichung universeller Werte einsetzen als viele von uns als BewohnerInnen eines ermüdeten Kontinents. Sie sind in ihren ausgesetzten Positionen mehr denn ja auch die Kooperation mit Gleichgesinnten aus dem Westen angewiesen. Ihnen den Besuch eines achtstündigen Wertekurses zu verordnen, würde bestenfalls ihr Klischeebild eines den Menschen entfremdeten Politikverständnisses eines aus den Fugen geratenen Europa verstärken.
Im Sinne von Hentig wird wohl viel entscheidender sein, welche ganz konkreten Erfahrungen er oder sie mit seinen neuen Mitmenschen macht. Die einen, ob sie glaubwürdige MitstreiterInnen bei der Verteidigung demokratischer Grundrechte wie freie Meinungsäußerung oder Mitsprache bei der politischen Entscheidungsfindung haben, die anderen, ob sie eine Urkunde ohne Bestechung erhalten, wie gut die ärztliche Versorgung funktioniert und die dritten, wie wenig die hier ansässigen Ungläubigen den Bildern entsprechen, die von ihnen in ihrer alten Heimat entworfen wurde. Dies sind nicht nur wichtige Erfahrungen für die ZuwanderInnen selbst, die so die Gelegenheit erhalten, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden. Diese sind auch wichtige Erfahrungen, die bei den Zurückgebliebenen darüber entscheiden, welches Bild von Europa jenseits seiner Außengrenzen in Zukunft entworfen wird.
Europäisches Engagement neu denken
Bernd Ulrich wirbt angesichts des völligen Scheiterns der bisherigen Realpolitik gegenüber den östlichen und südlichen Nachbarländern Europas für ein generelles Umdenken, vor allem wenn es darum geht, nicht nur die Zuwanderung sondern vor allem die eigene (Aussen-)Politik wieder stärker auf ein europäisches Werteselbstverständnis zu beziehen. Die Gründe wiegen umso mehr, als diese Werte den europäischen BürgerInnen nicht in den Schoß gefallen sind sondern das Produkt jahrhundertelangen Kämpfens, Nachdenkens, Probierens und Verwerfens sind, ein Prozess, der selbst einen unerhörten Blutzoll gefordert hat und nicht einfach tagesaktuellen Opportunitäten geopfert werden sollte (daran seien in diesen Tagen vor allem diejenigen erinnert, die nach den Pariser Anschlägen pathetisch einen Krieg im Herzen Europas herbeireden , in den sie außerhalb längst verwickelt sind).
Zu dieser grundsätzlichen Neuausrichtung gehört aber nicht nur die Überwindung eines verlogenen Bildes, das Europa nach außen hin entwirft (und das es in der Absicht, mit dem zunehmend autoritären Regime in der Türkei einen faulen Deal einzugehen, bereits wieder nachhaltig beschädigt). Dazu gehört vor allem die Einsicht eines wachsenden Teils der europäischen Bevölkerung, dass die ideologischen Konzepte (national) homogener Gesellschaften falsifiziert sind. sind.
Real haben sie nie bestanden, sie politisch zu propagieren und durchzusetzen, wenn opportun erscheinend auch mit Gewalt, gehört zu den hässlichen Facetten nicht nur der europäischen Geschichte. Und in der Tat: Mit Blick auf die Flüchtlinge sind die Repolonisierer, Remadjarisierer und Reottomanierer wieder auf dem Vormarsch. Ihr wachsender Einfluss auf das politische Geschehen macht deutlich, dass das künftige Schicksal Europas nicht zwischen Autochthonen und Zuwanderern entschieden wird. Die Entscheidung fällt stattdessen zwischen denen, die sich für den Fortbestand liberaler, offener Gesellschaften im Sinne einer unhintergehbaren Willkommenskultur aussprechen und deren Politiken repräsentativ für ein gelebtes Werteselbstverständnisses sind. Und denen, die die aktuelle Zuwanderung dafür benutzen wollen, ihre Machtansprüche, und sei es um den Preis der weiteren Aushöhlung dessen, was den Kern eines wertebasierten Friedensprojektes Europa bislang ausmacht (und vom überwiegenden Teil der Flüchtlinge ersehnt und so mitgetragen wird), durchzusetzen. Wir sollten uns bewusst sein: Im Falle ihres nicht mehr ganz unwahrscheinlichen Sieges würde sich Geschichte wiederholen und Europa wieder in die Normalität globalen Geschehens zurückfallen.
Einmal mehr: Gute kulturelle Bildung ist politische Bildung
Von Hentig ist zuzustimmen, dass die Aufgabe, dies zu verhindern jede Schule als isoliertes System überfordern muss. Eine Schule hingegen, die sich eingebettet weiß in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem täglich aufs Neue gerungen wird um Formen des guten Zusammenlebens in einer konstitutiv auf Vielfalt gerichteten Welt kann wesentliche Vorleistungen erbringen, wenn es um die Einübung von Empathie und Gesprächsfähigkeit, Toleranz, Verständnis, Interesse und Rücksicht den anderen gegenüber sowie Haltung und Engagement geht. Eine solche Schule erschöpfte sich nicht auf die zunehmend vergebliche Zurichtung auf einen Arbeitsmarkt, von dem niemand sagen kann, wie er in ein paar Jahren aussehen wird sondern konzentrierte sich auf das, was über unsere Zukunft entscheiden wird: ein gutes Zusammenleben unterschiedlicher aber gleichwertiger Menschen im Geiste universeller Werte nach innen und nach außen.
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