Ach, Europa!
Letzten Sonntag demonstrierten in Paris mehrere zehntausend Menschen gegen die bevorstehende Beschlussfassung des Europäischen Fiskalpaktes, der massive Verschärfungen des Sparkurses in den Mitgliedsländern vorsieht. Aufgerufen dazu hatte der Linkspolitiker Jean-Luc Mélanchon, der auf wachsende Zustimmung der französischen Linken im Kampf gegen die Austeritätspolitik der sozialistischen Regierung zählen kann.
Was ist aus der erhofften Repolitisierung geworden?
Präsident Francois Hollande, der vor einem Jahr als Hoffnungskandidat einer Repolitisierung nicht nur Frankreichs sondern ganz Europas gefeiert wurde, sieht sich nach seinem ersten Regierungsjahr mit vielfältigem Misstrauen nicht nur der Opposition sondern auch aus den eigenen Reihen konfrontiert. Jetzt kommt er um überfällige Entscheidungen, die er bislang zu vermeiden versucht hat, nicht mehr herum, wenn es darum geht, die Position Frankreichs in Europa vor allem gegenüber einem wirtschaftlich dominant werdenden Deutschland neu zu bestimmen. Zu sehr scheint das Land mittlerweile von der Krise gezeichnet, die zu immer weiter steigender Arbeitslosigkeit und darüber hinaus Verelendung immer mehr Menschen führt.
Da mag sie noch so intensiv beschworen werden, die vermeintlich unverbrüchliche deutsch-französische Achse, um die sich der europäische Integrationsprozess in den letzten Jahren vollzogen hat. Auch wenn das europäische Projekt weit davon entfernt ist, mit dem griechischen Staatswesen verglichen zu werden, machen die politischen Realitäten dennoch, wenn schon nicht auf Auflösung so doch auf ein wachsendes Auseinanderdriften der Interessenslagen aufmerksam, wenn es darum geht, Auswege aus der Krise zu weisen. Da hat sich ganz offensichtlich nicht nur in Frankreich der Eindruck verfestigt, dass Deutschland spätestens mit der Reformpolitik Gerhard Schröders das prekäre Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen einseitig zugunsten des Kapitals verschoben habe. Und so wächst der Verdacht, dass die gegenwärtige Regierung kraft der erreichten wirtschaftlichen Dominanz ein strikt marktwirtschaftliches Regime auf den ganzen Kontinent auszudehnen beabsichtigt, ungeachtet einer nachhaltigen Verschlechterung des Lebensstandards von immer mehr Menschen.
Noch spricht Francois Hollande noch vorsichtig von einer „tension amicale“. Aber bereits der Präsident der Nationalversammlung Claude Bartolome verwendet das Wort „confrontation“, wenn es um die unterschiedliche Einschätzung des Austeritätskurses als Wachstumsvoraussetzung aus der Sicht der Deutschen einerseits und als Verschärfung der gegenwärtigen Rezessionstendenzen andererseits geht.
Der Riss, der durch Europa geht, oder: Das lateinische Reich ante portas?
Nun ist der öffentlich ausgetragene Streit ein Wesenselement des Politischen. In diesem Fall aber könnte es sich um ein grundsätzlicheres Problem handeln, das die Vorstellungen der europäischen Gesellschaften im aus dem Lot gekommenen Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen berührt. Und so tun sich in der ohnehin sehr fragilen europäischen Konstruktion plötzlich Risse auf, von denen mangels eines entsprechenden politischen Instrumentariums kaum jemand zu sagen vermag, wie sie noch einmal gekittet werden können.
Nachgerade als Verdeutlicher der Bruchlinien vor allem zwischen dem reichen Norden Europas und dem zunehmend ins politische Abseits beförderten Süden beschäftigen sich führende Philosophen wie Giorgio Agamben. Er schlägt die Restauration eines „lateinischen Reiches“ unter der Führung Frankreichs vor, das die drei großen lateinischen Nationen Frankreich, Spanien und Italien politisch und auch wirtschaftlich vereinigen sollte, um deren kulturelle Verwandtschaften wieder zu beleben und als politischen Faktor auszuspielen. Agamben bezieht sich dabei auf den französischen Philosophen Alexandre Kojève, der bereits unmittelbar nach dem Krieg davor gewarnt hatte, Deutschland würde es gelingen, sich in kurzer Zeit als reichste und mächtigste Nation Europas zu etablieren. Auf dieser Grundlage würde es sich von marktliberalen anglo-sächsischen wirtschaftsliberalen Wertvorstellungen derart angezogen fühlen, dass es versuchen würde, diese in einer Weise durchzusetzen, sodass den lateinischen Nationen mit ihren unterschiedlichen kulturellen Wertvorstellungen bestenfalls eine Rolle als periphere Satelliten verbliebe (vor diesem Hintergrund ist es besonders faszinierend zu beobachten, mit welchem Furor die deutsche kulturelle Bildungsszene anglo-sächsische Modelle von creative education zur Förderung von entrepreneurship bzw. neuer Wirtschaftssektoren übernimmt).
Die Fundamentalkritik richtet sich vor allem gegen ein Konzept Europas auf streng wirtschaftlicher Basis, das alle reellen Verwandtschaften in Lebensform, Kultur und Religion als spezifische Wertvorstellungen aufgegeben habe, um auf diese Weise neue Formen der wachsenden Ungleichheit zu produzieren, deren Verringerung, wenn schon nicht Vermeidung, mit politischen Mitteln nicht mehr durchgesetzt werden kann. Und doch gäbe es keinen Sinn, „von einem Griechen oder einem Italiener verlangen zu wollen, dass er wie ein Deutscher lebt, doch selbst wenn das möglich wäre, würde es zum Verschwinden eines Kulturguts führen, das vor allem in einer Lebensform liegt“ (Agamben).
Die wirtschaftliche Hegemonie ist kulturell noch nicht durchgesetzt
Ähnliche Analysen kommen aber auch aus den deutschen Reihen selbst. So beschreibt der Zeit-Journalist Thomas E. Schmied in seinem Beitrag „Der Hegemon“ die Gefühlslage in Europa, insbesondere Frankreichs gegenüber Deutschland anhand des deutsch-französischen Ausstellungsprojektes „De l’Allemagne“ von einem Deutschland als „die verhasste Macht“. Und auch von seiner Seite kommt der Befund eines unbedingten Durchsetzungswillens einer unabweisbaren wirtschaftlichen, vermeintlich politisch alternativlosen Dominanz Deutschlands, denen eine zunehmende wirtschaftliche Depression ohne Chance auf akkordierte politische Gegenwehr vor allem seitens der südeuropäischen Länder gegenübersteht. Bislang sei es gelungen, ein gewisses „containment“ zur Einhegung deutscher Hegemonialität aufrecht zu erhalten. Jetzt aber sei man mit diesbezüglichem Latein am Ende.
Mit einer Ausnahme: Kultur und Öffentlichkeit. Dort – so Schmidt – sei die Partie noch offen, zumal „der Riese und seine Kanzlerin“ was seine kulturelle Zustimmung anlangt, nach wie vor schwächeln würde.
Und so entsteht unversehens das Bild eines Deutschland, das ohne jede kulturelle Ambition versuchen würde, Europa seine, aus dem Hajek’schen Chicago importierten marktliberalen Standards aufzuzwingen, ohne sich um die kulturellen Besonderheiten der anderen Partner noch zu kümmern. (Übrigens historisch eine irritierende Kehrwendung, wenn man berücksichtigt, dass Deutschland unter genau umgekehrten Vorzeichen in den Ersten Weltkrieg gegangen ist, wenn es aus deutscher Sicht darum ging, die kulturellen Suprematieansprüche gegenüber einer, auf wirtschaftsliberalen Grundsätzen beruhenden Modernisierung in den Ländern der Gegner aufrecht zu erhalten. Wolf Lepenies hat im Band „Kultur und Politik“ den Charakter des Ersten Weltkriegs als eines „Kulturkampfes“ in Detail hingewiesen.)
Auch wenn die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg trotz seines Anspruchs auf kulturelle Hegemonie den Befund relativiert: Vieles spricht dafür, dass der derzeitige Alternativlosigkeitsmythos Deutschlands so lange auf tönernen Füßen steht, so lange er sich nicht kulturell untermauern lässt. Und darin liegt möglicher Weise die Chance des europäischen Südens, wenn er sich aufmacht, die alternativlose ökonomische Vernunft zu bestreiten. Denn – so Schmidt – was die kulturelle Semantik betrifft, ist Deutschland matt. Und die Köpfe und die Herzen derer, die den aktuell bestimmenden wirtschaftlichen Kurs nolens volens mittragen, kulturell noch nicht vollends überformt.
Und so können die Manifestationen in Frankreich (und auch in Spanien, Portugal oder Griechenland) – so sehr sie Francois Hollande bei seinem Spagat zwischen wirtschaftlicher und politischer Vernunft weiter in die Bredouille bringen – auch kulturell gedeutet werden, wenn sie sichtbar machen, dass Alternativen immer möglich sind, mehr noch, die Erinnerung wiederbeleben, dass sie die Grundlage der europäischen Demokratie bilden, die in diesen Tagen zur Disposition steht.
Zerstört die ökonomische Vernunft die demokratischen Grundlagen Europas?
Der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck hat vor kurzem den Band „Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ herausgebracht. Darin analysiert er die aktuellen Krisenerscheinungen auf dem Geist einer neuen Brutalität der Kapitalverwertung und kommt zum Schluss, dass die politisch zunehmend ungelenkten Kräfte des Marktes drauf und dran sind, den historischen Interessensausgleich zwischen Kapital und Politik außer Kraft zu setzen und damit demokratischen Errungenschaften (und somit verbundenen Gerechtigkeitsvorstellungen) auf diesem kriegsgebeutelten Kontinent einmal mehr für obsolet zu erklären. Als Ausgleich für den Verlust des Politischen würde dem Wahlpublikum ein umfassendes Programm der Kulturindustrie geboten, das ihnen das politische Geschehen als trashiges Unterhaltsangebot zu verkaufen sucht.
Erster Hauptsatz des Kulturellen: Es gibt immer eine Alternative
Für das, was nach dem demokratischen Kapitalismus käme, dafür hat die Geschichte eine Reihe von Belege. Die Variante „divide et impera“ als neue Herrschaftsform ist wahrscheinlich wichtigste, weil gefährlichste. Was u.a. das bisherige zögerliche Verhalten Francois Hollandes erklärt, wenn er um die Gefahr einer unkontrollierten Entfremdung zwischen Frankreich und Deutschland weiß, der es gilt, sich zu widersetzen. Bleibt die Hoffnung, dass das, was sich in diesen Tagen in Frankreichs Strassen zeigt, a la longue zu einem Wiedererstarken eines kollektiven politischen Bewusstseins führt, das alternative Wege aus der Krise weist, denen sich selbst die Politiker, die sich weitgehend in Geiselhaft derer begeben haben, die zur eigenen Nutzenmaximierung das Ende des demokratischen Kapitalismus in Kauf nehmen, nicht werden entziehen können.
Es wäre dies ein nachhaltiger kultureller Paradigmenwechsel, der in der Lage ist, die Werte formaler Freiheiten des „Marktbürgers“ mit denen der politischen Gerechtigkeit des Bürgers als Träger des demokratischen Gemeinwesens miteinander zu versöhnen. Immerhin – so Sören Kierkegaard – ist nicht Gewinnmaximierung, sondern das, was der Einzelne in seinen ganz konkreten kulturellen Umständen braucht, das letzte Ziel von Politik.
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