ACHTUNG: Kunst kann gefährlich sein!
Das Ian Potter Centre im Herzen Melbournes zeigt australische Kunst vorwiegend der Einwanderergesellschaft des 19. und des 20. Jahrhunderts. Zur Zeit zu sehen ist auch eine Schau mit dem Titel „Tjukurrtjanu – Origins of Western Desert Art“. Diese beschäftigt sich entlang einer Vielzahl von Bildern, aber auch Objekten und Filmen mit dem Übergang von kultischer Zeremonien zu zeitgenössischer Kunstproduktion seit den 1970er Jahren.
Sowohl auf der Website als auch am Eingang der Sammlungsräume ist eine Warnung angebracht, die den sensiblen Charakter der gezeigten Arbeiten deutlich macht: „This website contains the names, images and works of Indigenous people who have passed away, which may cause distress to some Indigenous people. Indigenous people from Central Australia and the Western Desert are advised that this exhibition contains culturally sensitive works that may be considered harmful or inappropriate for viewing by women or uninitiated members of their communities”.
Was hier stattfindet kann durchaus kritisch als Prozess der Enteignung interpetiert warden, wenn Objekte, die ursprünglich unmittelbar an die Vorstellungen und den Alltag von Menschen gebunden sind (und dabei ganz konkrete Wirkungen zeigen) in Kunstobjekte überführt werden, um durch die Brille reflektierter KunstbeobachterInnen mit völlig neuen, in der Regel nicht mehr unmittelbar lebensrelevanten Bedeutungen aufgeladen zu werden.
Die Doppelbotschaft, die diese Ausstellungsobjekte im Übergang zwischen Kult und Kunst aussenden, scheint mir sehr charakteristisch für die Art und Weise, wie in Australien zur Zeit Kulturpolitik verhandelt wird. Dies umso mehr als sich in den letzten Jahren – zumindest programmatisch – das Verhältnis zwischen der Kolonialbevölkerung und den Resten der indigenen Bevölkerung nachhaltig geändert hat. Zuvor hat die eingewanderte Herrschaftselite tiefe Wunden in das soziale Gefüge der australischen Gesellschaft eingegraben. So wurden der indigenen Bevölkerung bis in jüngste Zeit die vollen staatsbürgerlichen Rechte verweigert und im Rahmen massiver Assimilierungsversuche Kinder und Jugendliche gewaltsam von ihren Familien getrennt.
Die kulturelle Leistung von Politikern, sich zu entschuldigen
Die immer wieder aufbrandenden heftigen Kontroversen mündeten 1997 in die Einführung eines „National Sorry Days“, der als nicht offizieller Feiertag jedes Jahr am 24. Mai abgehalten wird. 2007 wurde die Bereitschaft zur Entschuldigung an die Ureinwohnern Australiens und die „Stolen Generations“ zu einem der zentralen Themen der Wahlkampagne zur Wahl des Bundes-Parlaments. In ihrer Kampagne versprach die Australian Labor Party und ihr Kandidat Kevin Rudd eine nationale Entschuldigung; die Liberal Party of Australia des damaligen Premierministers John Howard setzte sich hingegen dagegen ein.
Nach dem Sieg der Labour Party hielt der neugewählte Premierminister Kevin Rudd eine Entschuldigungsrede, in der es u. a. hieß: „Today we honour the Indigenous peoples of this land, the oldest continuing cultures in human history. We reflect on their past mistreatment. We reflect in particular on the mistreatment of those who were stolen generations — this blemished chapter in our nation’s history. The time has now come for the nation to turn a new page in Australia’s history by righting the wrongs of the past and so moving forward with confidence to the future. We apologise for the laws and policies of successive parliaments and governments that have inflicted profound grief, suffering and loss on these, our fellow Australians. We apologise especially for the removal of Aboriginal and Torres Strait Islander children from their families, their communities and their country. For the pain, suffering and hurt of these stolen generations, their descendants and for their families left behind, we say sorry. To the mothers and the fathers, the brothers and the sisters, for the breaking up of families and communities, we say sorry. And for the indignity and degradation thus inflicted on a proud people and a proud culture, we say sorry. We the Parliament of Australia respectfully request that this apology be received in the spirit in which it is offered as part of the healing of the nation. For the future we take heart, resolving that this new page in the history of our great continent can now be written. We today take this first step by acknowledging the past and laying claim to a future that embraces all Australians. A future where this parliament resolves that the injustices of the past must never, never happen again. A future where we harness the determination of all Australians, indigenous and non-indigenous, to close the gap that lies between us in life expectancy, educational achievement and economic opportunity. A future where we embrace the possibility of new solutions to enduring problems where old approaches have failed. A future based on mutual respect, mutual resolve and mutual responsibility. A future where all Australians, whatever their origins, are truly equal partners, with equal opportunities and with an equal stake in shaping the next chapter in the history of this great country, Australia.“
World Summit on Arts and Culture in Melbourne
Dieser zentrale Bezugspunkt in der Zeitgeschichte Australiens hat mir geholfen, die Erfahrungen, die ich bei meinem Besuch beim jüngsten World Summit on Arts and Culture mit dem Titel „Creative Intersections“ sammeln konnte, besser verstehen zu lernen. Immerhin war ich sehr überrascht, als eine Vertreterin der indigenen Bevölkerung von den Veranstaltern des Summit wortreich eingeladen wurde, den Summit mit einem Feuerritual zu beginnen. In ihrer Rede wies sie immer wieder darauf hin, dass die Konferenz auf dem Boden der indigenen Bevölkerung stattfände und der Gott ihrer Ahnen sie beauftragt habe, ihr Land und ihre Kinder zu beschützen.
Vervollständigt wurden diese Aussagen mit nahezu gleichlautenden Redewendungen aller Eröffnungsreden, die ihre Wertschätzung gegenüber der indigenen Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen versuchten und ihrerseits immer wieder den Anspruch der indigenen Bevölkerung auf ihr Land betonten, das es zu ehren und zu schützen gälte. In der Folge wurden alle speaker bei ihren Auftritten (insgesamt 83) eingeladen, diesem Ritual der political correctness zu folgen und sich dabei der vorgegebenen Rhetorik zu bedienen.
Damit war auch schon der Grundton dieser von IFACCA (International Federation of Arts Councils and Cultural Agencies) ausgerichteten Veranstaltung, an der rund 700 Delegierte teilnahmen angeschlagen und vor allem im Rahmen des kulturellen Begleitprogramms zelebriert und von den TeilnehmerInnen in zum Teil erstaunlich naiver Weise akklamiert. In nahezu allen Beiträgen wurde die besondere Bedeutung von „cultural diversity“ herausgestrichen, um auf diese Weise den unterschiedlichen Ansprüchen auf kulturelle Selbstdarstellung einzelner Bevölkerungsteile Rechnung zu tragen. Und so entstand nicht nur bei mir der Eindruck, die südliche Hemisphäre sei drauf und dran, einen Begriff von Kulturpolitik zu entwickeln, der sich mit seinem Anspruch auf weitgehende Verschränkung von Kultur- und Integrationspolitik zunehmend von der Logik eines auf Eigenständigkeit bedachten Kulturbetriebs in Europa unterscheidet.
Bezugspunkte finden sich auch im Grundlagentext zum Summit mit dem, aus England bekannten Titel „Creative Partnerships“, der detailliert in das Tagungsthema einführt.
Kulturpolitik und kulturelle Vielfalt
Die Bereitschaft, bei der Ausgestaltung einer zeitgemäßen Kulturpolitik sich in besonderer Weise auf indigene kulturelle Ausdrucksformen zu beziehen, scheint mir nicht nur Ausdruck von mehr oder weniger gut gemeinten politischen Absichten zur zumindest symbolischen Wiedergutmachung). In Ermangelung konkreter Resultate (immerhin rangieren weite Teile der indigenen Bevölkerung nach wie vor am untersten Ende der sozialen Stufenleiter, gerade wenn es um Landbesitz, Ausbildung, Arbeitsplätze oder ökonomischen Erfolg geht) erschien mir dieses rituelle mea culpa der WASP (White Anglo-Saxon Protestants) im Verlauf der Tagung zunehmend als eine gefinkelte Strategie, das kulturelle Image Australiens in der Welt zu verbessern. Gerade dort wo die australische Einwanderergesellschaft traditionell kulturell wenig zu bieten hat, kann mit diesen symbolischen Gesten ein noch weitgehend unbehobener Schatz an kulturellen Ressourcen gehoben werden, um sich damit international zu profilieren. (in dem Zusammenhang fällt mir ein, dass das Essl Museum in Klosterneuburg über eine namhafte Sammlung australischer idigener Kunst verfügt und dieser bereits 2001 eine Ausstellung mit dem Titel „Dreamtime“ gewidmet hat.
Die besondere Berücksichtigung der indigenen Kultureln findet sich auch in den abschließenden Empfehlungen, die Professor Brad Haseman from the Queensland University of Technology aus den Ergebnissen von insgesamt 18 Roundtable-Diskussionen zusammen gestellt hat. Sie beginnen mit der Forderung „to activate the UNESCO convention on the protection and promotion of the diversity of cultural expression 2005 and deliver on its goals by making it central to national, state and local cultural policies“.
Das schiere Faktum, dass Australien nicht nur über einen nennenswerten Anteil an indigener Bevölkerung mit ihren besonderen, historisch ebenso gewachsenen wie vielfältig unterdrückten Ansprüchen verfügt (rund 520 000 von mittlerweile insgesamt 22 Mio, Tendenz weiter wachsend) sondern darüber hinaus als klassisches Einwandungsland (in Australien leben allein rund 400 000 Griechen, daneben vielfältige asiatische und afrianische communities) den Zusammenhalt von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft gewährleisten muss, bildet auch eine wesentlich Grundlage bei der aktuell stattfindenden Neuformulierung der nationalen Kulturpolitik. So verweist bereits Goal 1 auf den Bedarf „to ensure that what Government supports – and how this support is provided – reflects the diversity of a 21st century Australia, and protects and supports indigenous culture“
Europe was absent
Europa, das sich gerne mit seinen kulturellen Schätzen brüstet, könnte von diesen Entwicklungen eine Menge lernen. Bei allen anerkennenswerten Bemühungen der europäischen Kommission, den interkulturellen Dialog zu fördern, bleibt die Vorstellung bleibt illusionär, die europäischen Organe könnten gegenüber benachteiligten ethnischen Gruppen, z.B. gegenüber den Sinti und Roma in Europa zu ähnlichen Formulierungen zu finden wie Premier Kevin Rudd gegenüber der indigenen Bevölkerung. Und auch die Qualitäten eines Einwanderungslandes, die man an allen Ecken Melbournes spüren kann, stranden zur Zeit in Europa gewaltsam an den Gestaden von Lampedusa.
So ist es vielleicht kein Zufall, dass seitens der Europäischen Kommission überhaupt niemand bei diesem Summit vertreten war. Statt dessen beschränkte sich der Dialog auf eine Reihe von Einzelkontakten, die jedenfalls mir deutlich machten, wie sehr das Image Europas im Moment leidet. Dort, wo Europa noch vor wenigen Jahren mit der Lissabon-Strategie aufgebrochen ist, im globalen Wettbewerb zu bestehen und sich dort als führender Akteur zu etablieren, schallte mir angesichts der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise wiederholt der Befund entgegen, der sich zur Zeit entlang einer Reihe von konservativen Kampfkommentaren zu einem Stereotyp zu verdichten droht: „Europe is dead“. Und ich hatte wenig Argumente parat, diese Einschätzungen zu entkräften.
Europa ist möglicher Weise nicht tot. Aber der Kontinent schwächelt nachhaltig und ist als solcher hin und her gerissen zwischen den rechtsradikalen Verführern, die eine nationalstaatliche und damit auch gleich ethnisch-kulturelle Abschottung anstreben und dem politischen Anspruch, gerade jetzt die europäische Integration weiter voran zu treiben, um so die ruinöse Kleinstaatlichkeit zu überwinden.
Australien ist ein wunderbares Beispiel, dass die europäischen Gesellschaften Diversität pe se nicht fürchten müssen. Gerade in seiner demographischen Mannigfaltigkeit erlebt der Kontinent zur Zeit einen beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwung. Und auch die Entschuldigung eines Premiers gegenüber der autochthonen Bevölkerung hat nicht zum Niedergang des politischen Lebens – wie wir es mit zunehmendem Erschrecken in weiten Teilen Europas erleben – geführt, eher zu einem politischen Frühling.
Um nach Australien und zurück zu kommen nutzte ich Emirates Airline. Der head of crew formulierte seine Ansagen in arabischer und in englischer Sprache. Hängen geblieben dabei ist mir die Aufzählung von jeweils mehr als 20 Sprachen, in der die FlugbegleiterInnen bereit seien, mit den Passagieren zu kommunizieren.
Spätestens bei der Zwischenlandung in Dubai wurde mir deutlich, dass Emirates Airline mittlerweile zu den großen Playern im internationalen Flugverkehr gehört. Ethnische und sprachliche Vielfalt haben ihr dabei ganz offensichtlich nicht geschadet, wohl eher das Gegenteil. Der Umstand, dass der Ursprung dieser Vielfalt einem arabischen Unternehmen entspringt, hat mir dabei besonders zu denken gegeben.
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