Alles nur Geschichten
Just zu Ostern erschien in der bunten Kronen-Zeitung ein ausführliches Interview, das der Kolumnist und Leider-Nicht-Höchstrichter Tassilo Wallentin mit dem Mediziner und Theologen Johannes Huber anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Buches „Baupläne der Schöpfung – Hat die Welt einen Architekten?“ geführt hat. Im imperialen Gepränge des Kunsthistorischen Museums posierend fanden die beiden Gesprächspartner Anleihe bei Johann Wolfgang von Goethe. Unter dem Titel „Wenn je das Göttliche auf Erden erschien, so war es in der Person Christi“ kamen sie rasch zum Schluss, dass das „Christentum die an Reflexion tiefste Religion“ sei. Zu diesem apodiktischen Befund gehört offenbar zwingend die apokalyptische Drohung angesichts wachsenden Unglaubens: „Sollte die ethische Strahlkraft des Christentums verblassen, dann werden die Katastrophen der Menschheit ärger als je zuvor. Gerade wir Europäer verdanken dem Christentum extrem viel. Es ist ein Jammer, dass die Regierenden der EU das nicht sehen, weil sie historisch nicht kompetent genug sind.“ Da ist es nur konsequent, wenn Huber die Inquisition im Vergleich zu den „menschenverachtenden und menschentötenden Systemen des 20. Jhdts“ zum Klacks verklärt, dessen Kollateralschaden im Kampf um die Durchsetzung christlicher Wertvorstellungen hinzunehmen sei.
Apropos christliche Werte: Just zum selben Zeitpunkt ist mir Stephen Greenblatts „Geschichte von Adam und Eva“ in die Hände geraten. Der namhafte Shakespeare-Biograph untersucht darin die Entstehung des „mächtigsten Mythos der Menschheit“. Ihm zufolge ist diese Erzählung vor allem Ausdruck einer ausufernden Illusionsbildung, die sich mit dem Anspruch einer unverfälschten Wahrheit nur sehr schwer in Einklang bringen lässt. Greenblatt weist nach, dass sich der Mythos aus einer Vielzahl vorchristlicher Erzählungen speist, die – wie im Gilgamesch-Epos – wesentlich komplexere Konstellationen zwischen Mensch und Gott verhandeln. Immerhin geht es um eine völlig unglaubwürdigen Geschichte über „eine geheimnisvolle Todesdrohung, die ein gerade geschaffenes Wesen vermutlich gar nicht verstehen konnte; um eine sprechende Schlange; einen Baum, der das Wissen von Gut und Böse zu bringen vermag; einen anderen, der ewiges Leben verleiht bzw., um einen übernatürlichen Wächter mit flammenden Schwertern.“ Alles Fiktion – so Greenblatt – sie könnte fiktiver nicht sein: „die Erzählung schwelgt in den Freuden der Illusion“.
Treten wir ein in eine neue Phase des gesellschaftlichen Wahns?
Es gibt es offenbar, das unstillbare anthropologische Bedürfnis, die „Freuden der Illusion“ zu bedienen, das nicht nur zur Osterzeit die Kronen-Zeitung mit Geschichtenerzählern wie Wallentin und Huber zu bedienen versucht. Darüber hinaus sind wir möglicherweise in eine Phase eingetreten, in der das Ausmaß der allgemeinen Verunsicherung so groß geworden ist, dass wir selbst auf Geschichten ansprechen, die, fast schon beliebig gegeneinander gestellt, keinerlei Anspruch auf Realitätshaltigkeit mehr stellen. Wir wollen/müssen glauben, sei es gegen jede Evidenz, und treten so – Wissensgesellschaft hin oder her – in ein neues Zeitalter der Illusionsbildung ein.
In einer Ö1-Sendung hat sich jüngst der Psychoanalytiker und Schlafforscher Walter Hoffmann unter dem Titel „Der Stoff, aus dem die Träume sind“ zum Verhältnis Realität und Illusionsbildung (im Rahmen von Geschichtenerzählen) Gedanken gemacht. Als der Aufklärung Verpflichteter wunderte er sich einmal mehr darüber, dass die Menschheit in den letzten hundert Jahren zwar mehr Wissen erworben hat als sämtliche Generationen zuvor. Und doch habe dieser Umstand nicht dazu geführt, dem Glauben an magische Weltbilder eine Absage zu erteilen. Ganz im Gegenteil. In verunsicherter Zeit fungierten sie mehr denn je als Ausdruck unerfüllter Wünsche, die an den jeweiligen Realitäten zerbrechen und dementsprechend Schmerzen verursachen. Dazu gehören alle Arten von Illusionsbildung wie ein rundum erfülltes Leben im Paradies, die Durchsetzung von Gerechtigkeit, Glückseligkeit, Verbundenheit mit Menschen, die wir lieben und Verdammnis für die, die wir hassen.
In seinem Resümee relativiert er noch einmal unsere Hoffnungen auf die Wahrnehmung einer Realität, die ihm vor allem als ein Puzzle erscheint, bei dem die Steine der inneren Wunschwelt mit denen aus der beobachteten Außenwelt so optimal aufeinander abgestimmt werden, dass die Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit weitgehend verschwimmen: „Unser Bezug zur Realität ist daher in vieler Hinsicht ein wahnhafter, eine Legierung von Wirklichkeit und Illusion eben – magisches Denken, Glaube, Aberglaube, Vorurteil und wahnhafte Störung, alles zugleich“.
In der Politik zählen nicht die Ergebnisse sondern überzeugende Erzählungen, wie es sein soll – noch besser: wie es sein wird
Diesem prekären Verhältnis von Realität und Illusionsbildung ist auch Politik auf immer wieder neue Weise ausgesetzt. Besonders aufgefallen ist mir das u.a. beim Lesen eines Doppelinterviews mit den beiden Parteiführer*innen Christian Kern und Andrea Nahles in der Presse: „Utopien haben heute nur noch Gurus und das Silicon Valley“ lautete die Überschrift über ein sozialdemokratisches Schuldeingeständnis. Demzufolge hätten es die beiden Schwesterparteien über lange Zeit vermieden, über die „wirklichen“ Probleme der Menschen zu sprechen und stattdessen eine „falsche“ Geschichte erzählt. Diese wäre ebenso wenig in der Lage gewesen, wunschgetriebene Illusionsbildung zu befördern wie die Realitäten der Menschen auf einfache Weise auf den Punkt zu bringen. Dazu Andrea Nahles: „Ich glaube, hinter dem ganzen Migrationsthema verbirgt sich die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplizierte Herausforderungen. Die Welt fühlt sich, seit ich lebe, nie so unsicher wie jetzt. Dazu komme noch Globalisierung, Finanzkrise und die Digitalisierung der Arbeitswelt. Das summiert sich zu einer Komplexität, bei der sich die Menschen ausklinken, aber trotzdem eine Antwort suchen. Wer ethnisiert, vereinfacht: Es ist der Islam. Den Muslimen kann man direkt begegnen, dem Finanzsektor nicht“.
Mit diesen Bemerkungen schlägt Nahles den Bogen zu Johannes Hubers Erzählung der Apotheose des Christentums. Nein, als langjähriger Vorsitzender der Bioethik-Kommission liegt es ihm wohl fern, Plattheiten wie „Der Islam gehört nicht zu Österreich!“ von sich zu geben. Sein Beitrag zur wachsenden Polarisierung der Gesellschaft konzentriert sich auf die Verklärung einer, sei es noch so illusionären „christlich-abendländischen“ Interpretation von Gesellschaft. Darin sollen/können noch einmal alle Gläubigen Platz finden. Allen anderen hingegen soll deutlich gemacht werden, dass sie nicht dazugehören, weil sie sich nicht zur christlichen Tradition bekennen.
Neben dieser bildhaften Neuaufladung von Gegensätzen durch eine vom Boulevard aufbereitete reaktionäre Elite berichtet Nahles über ein weiteres Problem, dem sich eine „liberal-pragmatische Politik“ (Richard Rorty) zur Zeit gegenüber gestellt sieht: „Wir hatten schon 2013 ein schlechtes Wahlergebnis und wollten danach den Deutschen zeigen, dass wir unser Versprechen halten. Ich habe als Ministerin gearbeitet wie ein Hirsch und habe 40 Gesetze auf den Weg gebracht: vom Mindestlohn bis zur Rente mit 63. Doch es ist klar geworden: Man wird nicht für eine Bilanz gewählt. Im Grunde wollen die Leute vertrauen, dass du die richten Antworten auf die Zukunft hast.“
Wenn diese Einschätzung stimmt, dann sind wir mit einer Stimmungslage konfrontiert, die wenig Wert drauf legt, herauszufinden, was „ist“. Viel wichtiger ist es, eine gute Geschichte auf Lager zu haben, die es darauf anlegt zu erzählen, wie es sein soll. bzw. – und sei es gegen jede Evidenz – sein müsste. Darauf bauen ganz offensichtlich auch Sebastian Kurz und seine „Regierung der Veränderung“, die eine Erzählung angeboten hat, die die Menschen vergessen hat lassen, was gesellschaftspolitisch der Fall ist und was dies Veränderungen ganz konkret für sie bedeuten.
Wir alle wissen, dass sich die Geschichte von Adam und Eva so nicht abgespielt hat bzw. nicht abgespielt haben kann. Und doch fallen ganz offensichtlich die Versuche selbst von intellektuellen Meinungsmachern wie Johannes Huber bis heute auf fruchtbaren Boden, wenn sie uns versprechen, die Pflege der christlichen Tradition ermögliche die Rettung Europas.
Diese Engstirnigkeit könnte sich – bei aller vordergründigen Rückbeziehung auf Goethe, der im Übrigen ein guter Kenner des Islam war – als ein verhängnisvoller Irrtum erweisen.
Ja, wir können uns weiterhin die Geschichte von Adam und Eva erzählen und denjenigen auf den Leim gehen, die uns – inmitten einer de facto längst vollzogenen Vielheitsgesellschaft – noch einmal von einer vermeintlich jüdisch-christlichen Grundlage der europäischen Gesellschaften (und damit verbundenen Ein- und Ausschließungskriterien) zu überzeugen suchen. Oder wir können uns auf den Weg machen, neue, interessante und für das Hier und Jetzt aussagekräftige Geschichten zu erfinden, die Realität und Illusion enger aufeinander beziehen und damit die Menschen in ihren ganz konkreten Befindlichkeiten treffen.
Lasst (endlich) Migrant*innen ihre Geschichten erzählen
In einem jüngst veröffentlichen Essay von Karin Janker mit dem Titel „Die Kraft des Erzählens“ hat die Autorin noch einmal auf die besondere Bedeutung des Erzählens für die Interpretation der neuen Verhältnisse in der Vielheitsgesellschaft hingewiesen. Als ein herausragendes Beispiel benennt sie den Roman des bosnischstämmigen Autors Saša Stanišić „Wie der Soldat das Grammophon repariert“, in dem dieser den Versuch unternimmt, nicht eine von anderen vorgegebene Heimat zu bewahren sondern im Verlust derselben eine solche neu zu erfinden: „In Bosnien hat es geschossen am 20. August 1992. In Heidelberg hat es geregnet. Es hätte auch Osloer Regen sein können; jede Heimat ist eine zufällige – dort wirst du halt geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Nieren an die Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will“.
Statt den rückwärtsgewandten Träumen eines alten Mannes über die unendliche Fortschreibung einer christlich-abendländischen Hegemonie spricht vieles für Stanišić‘ Angebot, das europäische Bewusstsein mit neuen Geschichten auszustatten, die dem Charakter der europäischen Gesellschaften besser entsprechen. In der Vielheitsgesellschaft von heute spricht vieles dafür, dass es ausgerechnet die Zuwander*innen sind, die Europa als einen Ort, in dem sie ihre Vorstellungen eines sinnstiftenden Zusammenlebens verwirklichen können, eine besondere Kraft zuschreiben, der sie im Letzten bereit sind, auch ihr Leben zu opfern.
Was also hätte dagegen gesprochen, wenn die Kronen-Zeitung auf der Suche nach einer Erneuerung und Vertiefung des europäischen Bewusstseins seiner Bürger*innen, zumal zu Ostern, statt Huber und Wallentin Geflüchteten publizistischen Raum geboten hätte; Geflüchteten, die davon erzählen können, wie sie sich Schleppern ausliefern, die gefährliche Reise über das Mittelmeer auf sich nehmen oder auf anderen Wegen trotz mannigfacher Barrieren in eine neue Heimat suchen, wo immer in Europa diese zu finden ist.
Gerade den Geschichten, schreibt Janker, die diese Neuankömmlinge von Europa erzählen, so utopisch sie auch klingen mögen, sollten wir zuhören, wenn es darum geht, die Idee einer gemeinsamen europäischen Bürgerschaftlichkeit „(European Citizenship“) nicht nur technisch zu verordnen sondern „mit Leib und Seele“ erfahrbar zu machen. Und selbst wenn Menschen außerhalb Europas das Territorium erst gar nicht betreten (wollen) spricht vieles dafür, bei der künftigen Ausgestaltung eines europäischen Bewusstseins auch die Außensichten stärker als bisher zu berücksichtigen. Immerhin könnte es sein, dass es gerade die Beziehungen zum östlichen und südlichen Mittelmeerraum und zu Afrika sein werden, deren Außensichten sich als entscheidende für die Zukunft des europäischen Projekts erweisen könnten.
Die ewige Mythos von der Kulturnation Österreich und mit welchen Geschichten wir dagegen halten können
Von wegen Illusionsbildung: In der jüngsten Regierungserklärung findet sich einmal mehr ein prominenter Hinweis auf den Charakter Österreichs als einer Kulturnation. Auf diese Form der Nationalgeschichte nimmt eine Erklärung des österreichischen Autors Peter Waterhouse Bezug. Er hat den Österreichischen Kunstsenat aus Protest gegen das, was die schwarz/türkis – blaue Bundesregierung nicht nur im Bereich der Illusionsbildung vorhat, verlassen:
„Österreich ist eine Kulturnation. Nein. Das Kulturelle ist nicht national. Eine Kulturnation gibt es ebenso wenig wie eine Naturnation. Kultur und Künste blühen überall. Kafka, welcher Nation angehörig? Horvath? Bachmann in Rom und Ägypten? Goethe ohne Shakespeare? Shakespeare ohne Goethe? Hölderlin ohne Griechenland hätte nicht sprechen können. Aristoteles, der erste Lehrer Athens oder der ganzen Welt? Ibn Sina (Avicena) ohne Aristoteles? Das europäische Mittelalter ohne Ibn Ruschd (Averoés) – der seine große Wirkung im europäisch-christlichen Denken ausübte, größer als im arabisch-islamischen Denken – der Kommentator des Aristoteles. Josef Conrad aus Berdischew und Bishopsbourne? Nabokov? Kultur ist Berührung, Übergang, Schwelle, Verfremdung, Übersetzung. Das Gute breitet sich nämlich in der ganzen Welt aus. Es wandert aus und ein. Das Gute migriert, manchmal muss es flüchten, oft ohne Fluchtgründe. Es gibt keine Heimatkunst – vielleicht sind die großen Kunstwerke und die kleinen die unbekannte Heimat. Das Sonett ohne Sizilien und ohne die arabische Rechenkunst? Die arabische Rechenkunst ohne die indische? Die Tragödie? Die Anfänge des Romans? Katharina von Georgien in Persien, geschrieben von Andreas Gryphius? Kleist ohne den Ovid lesenden Forstmeister La Fontaine? Der Venezianer Zanzotto, der Berliner Engländer ohne Hölderlin? Mandelstam ohne Dante? Nestroy ohne die englische Literatur? Jandl ohne die englische Sprache? „ich was not yet/in brasilien/nach brasilien/wulld ich laik to go“. Was das Regierungsprogramm nicht sichtbar zu machen vermag – es ist sein blinder Fleck – das ist, dass aus der Nation keine Kultur entsteht; dass aber aus der Migration immer Kultur entstehen wird. Der blinde Fleck ist entstanden, weil dieses Programm Migration in Verbindung bringt mit Illegalität und Kriminalität“.
Zum Abschluss eine dringende Leseempfehlung
Und noch eine Geschichte habe ich auf Lager. Sie stammt von Stephan Wackwitz, dem Leiter einer Reihe von Goethe-Instituten, der uns in seinem Beitrag „Rückkehr in ein Land der Hysterie“ noch einmal den Spiegel vorhält und uns doch eine faszinierende Geschichte von uns selbst erzählt; seine Erfahrungen in unterschiedlichen Weltgegenden reflektierend findet er zu einer Geschichte, die uns im Getöse der aktuellen Mythenbildungen (fast) schon verloren gegangen ist und die wir doch dringender denn je brauchen, wollen wir der grassierenden Hysterie eine positive Sicht auf eine bessere Welt von morgen entgegen setzen.
Bild: „Adam und Eva“ von Franz von Stuck, Wikimedia Commons, gemeinfrei / Public Domain Mark 1.0
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