„Alphabet“ – Der Künstler als Rechthaber
Der österreichische Filmemacher Erwin Wagenhofer hat sich mit „We Feed the World“ und „Let’s Make Money“ einen Namen als einer der erfolgreichsten Dokumentarfilmer gemacht. Jetzt hat er sich in „Alphabet“ des Themas Bildung angenommen. Darin lässt er uns einen Blick in die schaurigen Abgründe der Bildungslandschaften der Welt werfen. Davon schwindlig geworden, kommen wir nicht herum zu erkennen, dass das System „Schule“ angesichts des Überhandnehmens kapitalistischer Verwertungsinteressen die Aufgabe übernommen hat, menschliche Potentiale, wo immer sie ihrer habhaft wird, zu vernichten. Und so liest sich auch die Ankündigung des Films: „98% der Kinder kommen hochbegabt auf die Welt. Nach der Schule sind es nur mehr 2%“.
Ohne den Film gesehen zu haben, bin ich das erste Mal stutzig geworden, als ich in der Kronen-Zeitung vom 13. Oktober den Artikel „Vor der Schule genial – danach ‚normal‘“ gelesen habe. Vor mir lag die Bestätigung, dass man mit starken Botschaften den Boulevard erreichen kann; doch was ist der Preis dafür?
Studierende, die in diesem Semester zusammen mit mir an der Angewandten zu Schultheorie und Schulpraxis arbeiten, fühlten sich nach dem Filmbesuch jedenfalls bestätigt. Noch einmal die eigenen Schulerfahrungen Revue passieren lassend waren sie sich rasch einig über den kategorial kreativitätshemmenden Charakter von Schule, der es verunmöglichen würde, die vielfältigen individuellen Begabungen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Und so machten noch einmal die Klischees die Runde, wonach Kinder vor dem Schulantritt gerne singen und tanzen würden und bei Schulaustritt nicht (mehr). Also sei erwiesen, dass Schule diesbezügliche Fähigkeiten austreibt.
Angesichts dieser Befunde der Studierenden fand ich mich in einem beträchtlichen Widerspruch, wenn ich sie auf der einen Seite zu Kritik gegenüber einem erstarrten Schulsystem weiter ermutigen wollte, um auf der anderen Seite ihre Existenzberechtigung nicht völlig in Frage zu stellen.
Death Valley Meets Children: Da ist es wieder das Bild von den Kindern, die es zu gießen gälte, auf dass sie erblühen
Also bin ich ins Kino gegangen und habe mir selbst ein Bild gemacht: Der Film beginnt mit eindrucksvollen Kamerafahrten durch das berüchtigte Death Valley in Kalifornien und Nevada, die uns die atemberaubende Lebensfeindlichkeit einer vertrockneten Ödnis erahnen lässt. Unmittelbar darauf erfährt der/die ZuschauerIn Einzelheiten über das chinesische Schulsystem, das auf weitgehende Uniformität, Leistungsbereitschaft und Selektivität zu beruhen scheint und damit – glaubt man den Augenzeugen – bei den jungen Menschen Angst und Schrecken erzeugt (in dem Zusammenhang ist es beschämend, wenn der deutsche Bildungsforscher Andreas Schleicher im Filminterview die konkreten Umstände zwar bedauert, darüber hinaus aber meint, die Aufrechterhaltung der gezeigten Lernzwänge seien eben notwendig, um als nationale Gesellschaft im internationalen Wettbewerb bestehen zu können).
Ihnen wird als positiver Held des Films der junge Franzose André Stern aus einem alternativen Künstler-Elternhaus gegenüber gestellt, der noch nie eine Schule besucht hat und doch – als hochsensibler Instrumentenbauer – ein rundum zufriedenes und glückliches Leben führt. Wozu also – so der gar nicht so unterschwellige Tenor – braucht es dann noch Schule außer zur Verbreitung von Angst und Schrecken zwecks Konditionierung und Disziplinierung?
Dazwischen belehren uns einerseits Ken Robinson, dass Kreativität aller die zentrale Ressource postindustrieller Gesellschaften darstellt und andererseits der Neurowissenschafter Gerald Hüther, dass alle Kinder hochbegabt seien. Sein Beleg: Kleine Kinder hätten noch keine vorgefassten Meinungen zu bestimmten Sachverhalten. Stattdessen ließen sie sich von ihrer Phantasie leiten, die sie zu ein und derselben Sache zu ganz unterschiedlichen Reaktionen bringe. Daraus lasse sich – folgt man Hüther – schließen, sie verfügten (noch) über ein eigenständiges unangepasstes Denken (ist gleich Hochbegabung), das ihnen erst die Schule zwecks Herstellung systemkonformer Angepasstheit austreiben würde.
Um den Unterschied zwischen dem unbeschulten Genie in der Gestalt des jungen Stern und den abschreckenden Ergebnissen von Schule im ganzen Ausmaß sichtbar zu machen, machen die FilmbesucherInnen sodann Bekanntschaft mit TeilnehmerInnen des Wettbewerbs „CEO of the Future“, die in ihrer eindimensionalen Engstirnigkeit vorgeführt werden. Der Film schließt mit ähnlichen Bildern wie zu Beginn, diesmal aber begleitet von Ken Robinsons Bericht, dass es selbst am unwirtlichsten Ort der Erde einmal geregnet hätte, worauf sich im kommenden Jahr das tote Gestein in einen blühenden Garten verwandelt hätte.
Hurra, wir sitzen auf der richtigen Seite!
Spätestens mit dem Abspann stellte sich bei den KinobesucherInnen das wohlige Gefühl ein, auf der richtigen Seite zu sitzen. Da hat einer alle unsere Annahmen voll und ganz bestätigt und uns gezeigt, wie die Aufrechterhaltung liebgewordener Stereotypen mit künstlerischen Mitteln funktioniert: Nur keine Widersprüche, keine Neugierde; stattdessen Behauptung pur. In dieser falschen Gemeinsamkeit ließ es sich im Zuschauerraum wunderbar kuscheln und mit leicht tränenumflorten Augen – wie Anja Ritter in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gemeint hat – „gemeinsam den Kopf über die Widrigkeiten der Welt zu schütteln“. Zumindest sofern das mentale Völlegefühl noch eine diesbezügliche Bewegung erlaubt hat. Bis in die letzten Gehirnwindungen träge geworden, schien alle Lust auf weitere Fragen geschwunden (und damit das Gegenteil von dem erreicht, was ansonsten Kunst vorgibt zu erreichen: Irritation auszulösen, mit dem (eigenen) Fremden zu konfrontieren, sich dem Unerwarteten auszusetzen). Für mich höchste Zeit – schon aus Selbstschutz – aus dem Saal zu flüchten.
Ich gebe zu, dass ich selten so heimtückisch mit Affirmation, die sich freilich hinter einer kritischen Maske verbirgt und sich dabei auch noch künstlerisch geriert, konfrontiert war. Das Ergebnis konnte ich an den ersten Reaktionen der Studierenden ersehen, die sich im Prinzip bereit erklärt haben, sich mit dem komplexen System Schule auseinander zu setzen, um sich jetzt mit Wagenhofer und der ganzen Gewalt seiner visuellen Mittel fragen müssen, wozu, wenn Schule doch schlicht „Scheiße“ ist.
Nichts leichter als einer alle Einwände wegwischenden Aussage zu folgen, die selbst die Kronenzeitung so gut versteht, dass sie bereit ist, sie auf dem Klavier ihres manipulativen Geschäftes weiter zu spielen. Wer wollte dagegen glaubhaft etwa mit entwicklungspsychologischen Erkenntnissen anrennen, wonach das Denken eines Zweijährigen anders strukturiert ist als das eines Vierzehnjährigen. Oder dass eigenständiges und unangepasstes Verhalten sich nicht unbedingt der Nichtexistenz schulischer bzw. gesellschaftlicher Zwänge sondern sich nur allzu oft aus einer Abgrenzung gegenüber diesen bzw. damit verbundener Gegenwehr verdankt. Oder dass Schule für viele junge Menschen, deren Familienleben zusammen gebrochen ist, der einzig verbliebene Ort ist, an dem sozialer Zusammenhalt, Sicherheit und Vertrauen ermöglicht werden. Oder dass das Wahrnehmen der eigenen Körperlichkeit und das damit verbundene Aufkommen eines pubertären Schamgefühls das Ausdrucksrepertoire – übrigens ganz ohne Schule – nachhaltig beeinflusst und daher Singen und Tanzen ganz anders in die heranwachsende Persönlichkeit integriert werden will als das unreflektierte Tun eines Kleinkindes. Oder, oder,….
All diese Einwände würden freilich nicht hineinpassen in das große Bild eines apokalyptischen Kulturpessimisten, dessen Apodiktik jede weitere Diskussion verbietet.
Weil Einwände in dem Film nicht angesprochen werden, müssen wir notwendig zur Auffassung gelangen, dass Schule – jedenfalls in ihrer jetzigen Form – nicht (mehr) gebraucht wird. Originalton Wagenhofer im Interview: „Heute können Kinder auch von selbst lernen, wenn sie nicht verbogen und im spielerischen Lernen unterbrochen werden“. Natürlich können Kinder vieles „von selbst lernen“ und sie tun das auch bereits jetzt, ganz ohne Schule. Was sie aber nicht „von selbst lernen“ können, das ist die Vermittlung dessen, was eine Gesellschaft mit ihren Wertvorstellungen (samt der Kritik an ihnen) ausmacht und über die Summe selbstlernender Einzelner hinausweist.
Weil der Film die öffentlichen Aufgaben einer zeitgenössischen Schule nicht reflektiert, muss er zuallererst als eine Einladung zur Verdummung der Gesellschaft gelesen werden, wenn die ZuschauerInnen eingeladen werden, auf eine (wenn auch oft schlecht) funktionierende Bildungsinfrastruktur künftig zu verzichten. (Die dieser Einladung nicht folgen wollen, können sich ja auf dem privaten (Bildungs-)markt umschauen, den Wagenhofer nicht müde wird als Ursache allen Übels zu verteufeln).
Schule ist Krieg! – Muss Schule Krieg sein?
Wagenhofers Schulerinnerungen waren nach seinen eigenen Aussagen nicht nur negativ. Im Gespräch „Die Angst ist der Motor von dem ganzen System“ erzählt der heute 52jährige, dass er sich an seinen letzten Schultag noch gut erinnern könne: „Da habe ich geweint, dass es aus ist“. Jetzt aber – so seine Überzeugung – sei alles anders, so anders, dass man ihm nicht mehr folgen mag, wenn er u. a. Schule zum Kriegsgebiet des 21. Jhdt. erklärt: „Wir hatten lange keine Kriege mehr, und die derzeitige Schule ist ein Kriegssystem“.
Die Beschäftigung mit dem System Schule in diesen Tagen ist ein anspruchsvolles und ein mühsam detailreiches Geschäft, in ihm lauern vielfältige Widersprüche, historisch gewachsene Probleme und wohl auch beängstigende Fehlentwicklungen, die sich angesichts der zunehmenden Schwäche von BildungspolitikerInnen, perspektivische Entscheidungen zu treffen, zum Nachteil von immer mehr jungen Menschen auswachsen.
Bei einer handlungsorientieren Beschreibung der Schule von heute könnte man berücksichtigen, dass diese kein isoliertes System darstellt, das sich unabhängig von aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wähnt. Stattdessen ist sie ein Spiegel der Gesellschaft, der uns exakt die Problemlagen zeigt, denen wir insgesamt ausgesetzt sind. Was aber bleibt ist die begründete Vermutung, dass Schule als gemeinsamer Lernort, in dem kritisch reflektierende LehrerInnen tätig sind, gegen wachsende gesellschaftliche Unbillen einen größeren Schutz bietet als die Ausgesetzheit des einsamen Selbstlerners im Überlebenskampf der Konkurrenzgesellschaft.
Schule heute kann Sinn machen
Ich hätte mir gewünscht, wenn der Film „Alphabet“ auch dafür Beispiele bereitgehalten hätte. Das aber hätte die gewählte schwarz-weiß gezeichnete Tendenz geschwächt. Also empfehle ich das Schauen eines anderen Films: „Sein und Haben“ von Nicolas Philibert. Er erzählt von einer kleinen Schule in der Auvergne, in der sämtliche Kinder bis zum Ende der Grundschule in einer Klasse unterrichtet werden. Georges Lopez ist der einzige Lehrer einer Klasse, der auf die individuellen Entwicklungen seiner Kinder einzugehen hat und dem die Erziehung der Kinder beinahe allein obliegt. Zwischen Isolation und Weltoffenheit teilen die SchülerInnen den Alltag, im Guten und im Schlechten und belegen so auf eindrucksvolle Weise, dass Schule nach wie vor eine Daseinsberechtigung hat und für alle Beteiligten Sinn machen kann.
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