Als Wissen an Wert verlor und Bildung hässlich wurde
In diesen Tagen stieß ich auf eine sehr negative Einschätzung des französischen Schulsystems des „PISA-Papstes“ Andreas Schleicher. Hängen geblieben bin ich bei dem Satz: „Le monde moderne se moque bien de ce que cous savez. Il a besoin de gens créatifs, capables de croise les sujets quand l‘école française fait encore trop reciter des leçons.” Die Botschaft, die ich dieser Aussage Schleichers entnehme, läuft darauf hinaus, dass es in modernen Gesellschaften scheißegal wäre, was Menschen wissen, Hauptsache sie sind kreativ.
Weil ich diese Abwertung schulischen Wissenserwerbs durch einen führenden Bildungsforscher nicht glauben konnte, habe ich weiter gesucht und bin auf ein deutschsprachiges Interview mit ihm in der deutschen Tageszeitung „Die Welt“ gestoßen. Unter dem Titel „Nur Strebsamkeit reicht nicht für Spitzenleistungen“ fand ich ein durchaus ähnliches Zitat: „Ja. Die Welt bezahlt Sie heute nicht mehr dafür, was sie wissen. Google weiß alles. Sie werden dafür bezahlt, was sie mit ihrem Wissen tun können.“
Wissen ist kein Arsenal sondern ein Horizont
Hätte es also noch eines Beleges bedurft, dass Schule eine Spiegelung der jeweiligen gesellschaftlichen Verfasstheit darstellt, Schleicher hat uns deutlich gemacht, dass das universelle Nutzen-Paradigma nunmehr auch im Denken über Schule angekommen ist. Auch wenn Schleicher in seinem Verdikt nochmals den Begriff der Kreativität strapaziert, seine Idee von Schule hat nichts mehr mit einem Ort der Selbstvergewisserung zu tun, in dem Wissen um seiner Selbst willen erworben wird, dessen Qualität darin liegt, dass man zumindest vordergründig gar nichts damit anfangen kann. Die Aussage des Philosophen Hans Blumenberg Bildung wäre kein Arsenal sondern ein Horizont, ist da nur mehr eine nostalgische Erinnerung.
Weil Bildung schon einmal als ein kontinuierlicher Prozess des Näherkommens an das Maßgebliche und Wesentliche menschlicher Existenz – durchaus auch in seinen negativen Auswirkungen – definiert worden ist, muss Schleichers Zurichtungsphantasie – die mittlerweile zum Maßstab der Bewertung der nationalen Bildungssysteme geworden ist – als zentraler Angriff auf ein aufklärerisches Bildungsverständnis, das Europa seit nunmehr 200 Jahren auszeichnet verstanden und auch ein solcher bezeichnet werden.
Besonders infam wird diese Rede dort, wo immer mehr junge Menschen in Europa in immer längeren Ausbildungsverfahren vermeintlich Nutzen bringendes Anwendungswissen erwerben und dennoch nicht gebraucht werden. Bei all ihrer Anwendungsbereitschaft ist da weit und breit kein Schleicher, der ihre brachliegenden Fähigkeiten nachfragen würde. Stattdessen werden sie auf immer neue Weise darauf gestoßen, dass sie im Rahmen des aktuellen Produktionsregimes nutzlos sind. Ungeachtet dessen sollen sie weiter in ihrer persönliche Zukunft „investieren“, von der zugleich gesagt wird, man wüsste nicht wie sie aussehen werde. Darin fortzufahren, macht für immer mehr Menschen einfach keinen Sinn.
Die Antworten sind notwendig irrational
Eigentlich wenig verwunderlich, wenn Europa angesichts eines solchen angestauten Anwendungswillens von einer neuen Welle von Irrationalismen in religiösem, kulturellem oder sonstigem Gewand überzogen wird. Immerhin sind es ja gerade diejenigen, die am sinnfreien Markt universeller Vernutzung nicht zu reussieren vermögen, die sich nur zu gerne religiösen oder nationalistischen Heilserwartungen hingeben (ohne dass sie über deren Hintergründe noch etwas wissen müssten, z.B. um sie als gegen sich gerichtete Kräfte kritisieren zu können).
Unwillkürlich tut sich hier ein Bruch im Denken über Bildung auf, die sich – geht es nach Schleicher – nicht mehr an der Idee der Freiheit, sondern zur unbedingten Aufrechterhaltung des Paradigmas der Alternativlosigkeit kapitalistischer Produktionsweisen an einer universellen Verfügbarkeit nicht nur der jungen Menschen orientieren soll. Dieses Spannungsverhältnis ist nicht neu, sondern auf immer neue Weise Ausdruck gesellschaftlicher Interessen, wenn schon der Philosoph Friedrich Nietzsche vor mehr als hundert Jahren in seinen Überlegungen zur Zukunft der Bildungsanstalten zu folgendem Schluss gekommen ist: „Ich glaube, bemerkt zu haben, von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. Diese Erweiterung gehört unter die beliebten national-ökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Produktion und Bedürfnis – daher möglichst viel Glück – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichsten Geldgewinn.“
Das Schöne als das Gegenteil des Nützlichen
In Schleichers Ausführungen gibt es eine tröstende Bemerkung. Trotz seiner Beschwörung von Kreativität als einer zentralen Anwendungsressource konzediert er, dass „musische und künstlerische Fähigkeiten in unsere Tests noch nicht einfließen“ würden. Die Gründe mögen darin liegen, dass diese bislang noch nicht hinlänglich auf ihre Vernutzbarkeit geprüft worden sind (immerhin erscheinen diesbezügliche Studien wie „Arts for Art‘s Sake?“ der OECD noch wenig aussagekräftig). Es könnte aber auch sein, dass nicht nur Schleicher an die Grenzen seiner Möglichkeiten gelangt, wenn sich Kunst (jedenfalls soweit sie sich als eine zentrale Figur sinnlicher Erkenntnismittel im Rahmen der europäischen Aufklärung begreift) immer wieder erfolgreich dem herrschenden ideologischen Primat der Nutzenorientierung zu entziehen weiß.
Diesbezügliche Verweigerungen können bis an den Beginn ästhetischer Theoriebildung zurück verfolgt werden, wenn Karl Philipp Moritz bereits 1788 eine kategoriale Abgrenzung vom Nützlichkeitsgedanken gefordert hat, um dem Schönen auf den Grund gehen zu können: „Wir können also das Schöne im Allgemeinen auf keine andere Weise erkennen als insofern wir es dem Nützlichen entgegenstellen und es davon so scharf wie möglich unterscheiden.“ (aus seiner Schrift: Über die bildende Nachahmung des Schönen). Darin schließt auch der Philosoph Konrad Paul Liessmann an, der sich in seiner jüngsten Veröffentlichung „Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung“ noch einmal in seinem ganzen kulturkonservativen Furor abarbeitet, wenn er der Beschäftigung mit Kunst die Qualität zuweist, einen über den Marktwert hinausweisenden „Wert der Dinge sinnfällig zur Erscheinung zu bringen“. Dieser Tradition folgend kann die Beschäftigung mit der Kunst als letztes Refugium begriffen werden, um sich den totalitären Übergriffen Schleicherscher Prägung zu entziehen. Der Kunst (auch und gerade in der Schule), käme damit eine durchaus radikale Aufgabe zu, bei allen Ausbildungserfordernissen in gleichwertiger Weise die Idee eines Eigensinns des Lebens aufrecht zu erhalten und mit Sinn zu erfüllen.
Poesie repräsentiert eine komplexere Wahrheit als die Wissenschaft
Den zentralen Grund, warum Schleichers Versuche, Bildung um das zu berauben, was ihren eigentlichen Wert ausmacht – wenn es darum geht, Einsicht in die Welt zu gewähren – so erfolgreich sind, orte ich in einer zunehmenden inhaltlichen Entleerung des aktuellen bildungspolitischen Diskurses, der sich seit vielen Jahren in einer Pattstellung um organisatorische Fragen erschöpft. Immerhin besteht Grund zur Annahme, dass BildungspolitikerInnen früherer Generationen noch die Bedeutung der Kunst als einer wichtigen Erkenntnisform der Welt bewusst waren. Heute bleibt dieses Wissen ausgewählten AutorInnen wie Marlene Streeruwitz überlassen, die in ihrem letzten Roman „Nachkommen“ davon spricht, dass Poesie eine komplexere Wahrheit repräsentiert als Wissenschaft. Vor allem eine solche, die vermeint, sich auf einige wenige Zahlenvergleiche im Rahmen von PISA-Rankings beschränken zu können (umso zu einem Ergebnis zu kommen, dass das Bildungssystem in Singapur besser funktionieren würde als in Österreich – und weit und breit niemand, dem zumindest die politische Dummheit einer solchen Aussage noch einmal auffallen würde). Immerhin hat Streeruwitz eine gute Interpretation dieser Form der Zurichtung gefunden, wenn Sie in diesem Zusammenhang von „Fluchthilfe des Mittelstandes in die Unwissenheit“ spricht.
Über das Ende der Bildungspolitik
Gab es in den 1970er Jahren immerhin noch explizite bildungspolitische Ziele (siehe dazu etwa: Karl Blecha: Sozialistische Bildungsarbeit: Motor der Demokratisierung) so scheint heute der Weg in die „Unwissenheit für alle“ weitgehend geebnet. Statt inhaltlicher Überlegungen reichen offenbar die Vorgaben des Deus-ex-machina aus Paris. Sie bilden einen willkommenen Haltegriff in stürmischer Zeit, ohne noch einmal darüber nachdenken zu müssen, welche Gesellschaftsbilder da mittransportiert werden.
Offenbar gibt es noch Reste von Mentalreservationen, sich dem ökonomischen Diktat auch im Bildungsbereich bedingungslos zu unterwerfen. Während aber das magere Ergebnis des Parteivorsitzenden Werner Faymann beim jüngsten Parteitag medial breit diskutiert wurde, blieb die Abstrafung der für Bildung zuständigen Ministerin mit 87,1 % der Delegiertenstimmen in einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unkommentiert.
Immerhin 13% der Delegierten ist noch einmal aufgefallen, dass „ihre“ Bildungsministerin den in ExpertInnen wie Andreas Schleicher inkorporierten Marktkräften im Bildungsbereich kein zukunftsfähiges Konzept entgegenzuhalten vermag, das über defensive Bestandsinteressen der im System Tätigen hinausweisen würde. Die Ergebnisse finden sich in verheerenden Kommentaren zum Zustand des österreichischen Bildungswesens: Von „Kapitulation total“ spricht der Österreich Korrespondent der deutschen Wochenzeitschrift „Die Zeit“. Ihm zufolge hätte die Österreichische Bundesregierung Reformen im Bildungsbereich weitgehend aufgegeben. Bestätigt sieht er sich in seinem Befund, wenn ein Sechs-Punkte-Programm im Bildungsbereich, das vor wenigen Monaten als Minimalkonsens der amtierenden Regierungsparteien weitgehend konsequenzlos verabschiedet worden ist.
Angesichts eines solchen katastrophischen Befundes können einem Zweifel kommen, warum sich Parteien überhaupt noch die Mühe machen, Bildungskonzepte zu erarbeiten, wenn sie weder die den Willen noch die Kraft aufbringen, deren Inhalte auch zu implementieren: SPÖ, ÖVP, FPÖ, Grüne oder Neos. Mehr Wirkung verspreche ich mir im Moment von zivilgesellschaftlichen Bemühungen, von denen ich an dieser Stelle die Initiative der Journalistin Sybille Hamann „Reden wir über Bildung“ erwähnen möchte.
Die Industriellenvereinigung als Retterin eines humanistischen Bildungsanspruchs?
Im Zusammenhang mit dem angesprochenen Dominantwerden einer ökonomistischen Sicht auf Bildung fällt auf, dass die Industriellen-Vereinigung zuletzt mit dem Anspruch nach einer Bildungsrevolution an die Öffentlichkeit getreten ist. Im Rahmen ihres Konzepts „Beste Bildung“ bleibt es ausgerechnet der Interessenvertretung der großen österreichischen Unternehmen vorbehalten, noch einmal den Anspruch von Schule als einer Bildungseinrichtung, die über eine unmittelbare Nutzenorientierung hinausweist, aufrecht zu erhalten. Als solche plädiert sie für eine umfassende Persönlichkeitsbildung möglichst aller jungen Menschen als beste Voraussetzung für ihre Zukunftstauglichkeit und schafft so neuen Raum für einen spielerischen Umgang mit Kunst und Kultur auch und gerade in der Schule als einem existentiellen Bedürfnis. Auch die Industriellenvereinigung hat eine zivilgesellschaftliche Initiative „Neustart Schule“ ins Leben gerufen: „Wir brauchen eine Bildungsrevolution“
Ein Beispiel zum Nutzen des Nutzlosen
Dass die Beschäftigung mit Kunst und Kultur etwas kann, ohne gleich einen nachweisbaren Nutzen zum Maß aller Dinge zu erklären, dafür haben zuletzt US-amerikanische „Turnaround Schools“ den Beweis erbracht. Diese Schulen schnitten bei den Lernergebnissen ihrer SchülerInnen ursprünglich besonders schlecht ab. Dergestalt zu drastischen Reformen gezwungen, entschied sich eine Reihe von ihnen, sich zu „Turnaround Arts Schools“ weiterzuentwickeln. Sie erhielten spezielle Beratung, LehrerInnenfortbildung, künstlerische Materialen, Musikinstrumente und hatten Zugang zu KünstlerInnen und Kultureinrichtungen. Die Ergebnisse erstaunten sogar die größten Skeptiker: „These schools are being transformed into purposeful, engaging places with students who exude the self-confidence that comes with a high-quality integrated arts programme […] In just two years, all these schools showed visible improvements in culture and climate. Two schools exited “turnaround” status, due to their exceptional programmes. All schools saw falls in discipline related incidents and a rise in attendance. Collaboration between teachers – a strong early indicator of successful reform – rose apparently.”
Mein Rat: Werfen Sie Ihr Wissen nicht einfach über Bord, auch wenn Sie heute damit kein Geld verdienen können. Es könnte Sie trotzdem schon bei der nächsten Gelegenheit reicher machen, einfach so.
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