Am Beispiel Venezuela – Über den politischen und über den musikalischen Blick
Den meisten Medien war der Umstand, dass die USA in diesen Tagen dem venezolanischen Präsidenten Nicolas Maduro für seine Reise nach China die Überflugrechte verwehrt haben und ihm darüber hinaus die Teilnahme an der diesjährigen UN-Vollversammlung in New York verunmöglichen wollen, nur eine kleine Randnotiz wert. Der Grund für die Verweigerung liegt möglicherweise im anhaltenden Ärger der Amerikaner über Edward Snowdons Versuch, ausgerechnet beim Klassenfeind Venezuela politisches Asyl zu beantragen (ein Umstand, der bereits im Juli diesen Jahres dazu geführt hat, dass dem bolivianischen Präsident Evo Morales auf Drängen der USA in Europa Überflugrechte verweigert wurden und er so zu einer unfreiwilligen Zwischenlandung in Wien gezwungen war).
Vielleicht aber liegt der Grund in den traditionell schlechten Beziehungen zwischen den USA und Venezuela, die sich mit dem Tod von Hugo Chávez und der darauffolgenden Wahl von Nicolas Maduro nicht verbessert haben. Immerhin repräsentiert der „bolivarische Prozess“, der mit der Wahl des Nachfolgers des charismatischen Führers prolongiert erscheint, den Anspruch auf eine nicht von den USA dominierte Entwicklung, die vor allem die subalterne, zumeist nicht-weiße Mehrheit zur Selbstorganisation ermutigt und gegenüber den traditionellen Eliten (die in den letzten Jahren immer wieder gewaltsame Umsturzversuche unternommen haben) zu stärken sucht. Dieses linke Projekt genießt (bei allen kruden Nebenerscheinungen wie den demonstrativen Freundschaftsbezeugungen Hugo Chávez mit der iranischen oder weißrussischen Regierung) in Lateinamerika ungebrochen eine hohe Attraktivität, die etwas über die Hoffnungen auf Alternativen zum alles beherrschenden Dogma des Neoliberalismus erzählt, in denen die Märkte nicht die ganze Wahrheit sprechen und eine andere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums möglich ist.
Das darauf bezogene politische Geschehen verläuft alles andere als widerspruchsfrei, wobei auffällt, dass die europäische Presse die Entwicklung überwiegend kritisch kommentiert und dabei auch nicht zurückschreckt, das Ergebnis der demokratisch zustande gekommenen Wahlen in Frage zu stellen. Besonders hervor tut sich dabei die deutsche Zeitung „Die Welt“, die Venezuela bereits „im Chaos versinken sieht“. Unübersehbar sind die zum Teil auf die Obstruktionspolitik der rechten Wirtschaftsfraktion zurückführbaren wirtschaftlichen Probleme, denen die Regierung mit zum Teil drastischen Mitteln zu begegnen trachtet.
Beim Überblättern der Medienberichte zur aktuellen Lage kommt man nicht umhin, so etwas wie eine gezielte Aktion zu vermuten, wenn es ausgerechnet dem „Spiegel“ einen eigenen Bericht wert ist, dass in Venezuela sogar der Messwein knapp würde.
Diese Überzeichnungen können aber über den Umstand nicht hinwegtäuschen, dass Venezuela – Chávismus hin oder her – nach wie vor von gravierenden sozialen Problemen betroffen ist, etwa wenn offizielle Stellen Reisende darauf hinweisen, dass „Venezuela eine der höchsten Mordraten der Welt hat und Caracas als eine der gefährlichsten Hauptstädte weltweit gilt“.
El Sistema bei den Salzburger Festspielen
Ich erzähle diese Geschichte als eine Hintergrundfolie für den Umstand, dass die Salzburger Festspiele mit der Einladung des El Sistema-Projektes einen Schwerpunkt ihres diesjährigen Programms gesetzt haben. Die Programmverantwortlichen trugen damit dem weltweiten Erfolg dieser 1975 in den Vororten von Caracas gegründeten Initiative Rechnung, die versucht, mithilfe von klassischer Musik die sozialen Verhältnisse verarmter Kinder und Jugendlicher zu verbessern. Also konzertierten mehrere Chöre und Orchester junger venezolanischer SängerInnen und MusikerInnen bei den Festspielen und fungierten als lebendige Zeugen dafür, dass gemeinsames Musizieren Freude und Hoffnung geben kann. Den Höhepunkt des Besuches stellte die Eröffnungsrede des legendären Gründers José Antonio Abreu dar, der ein eindrucksvolles Plädoyer zugunsten von El Sistema als zukunftsträchtiges Modell einer künstlerisch geförderten gesellschaftlichen Integration von Kindern und Jugendlichen formulierte.
Er offerierte mit den eigeladenen Orchestern und Chören ein „ideales Instrument, um Kinder und Jugendliche in ein gemeinschaftliches und solidarisches Leben einzuführen, das ihre Persönlichkeit ausbildet“. Sein Ziel sei die Erschaffung eines „Neuen Menschen für eine Neue Welt, der sowohl humanistisch gebildet als auch in der Technik bewandert sein (soll), ein leidenschaftlicher, selbstloser Kämpfer voller kreativer Ideen“. Da mochte auch Ministerin Schmied nicht nachstehen, wenn sie in ihrer Eröffnungsrede die Initiative El Sistema „als einen Kontrapunkt zum Mangel an Perspektiven, an dem so viele Jugendliche auch in Europa leiden“ lobte.
Die materielle Armut und der geistige Reichtum
Und dann bin ich über einen Satz Abreus gestolpert, der mich nachdenklich gestimmt hat: „Wenn die künstlerische Erziehung nicht mehr peripher bleibt, sondern ins Zentrum des Erziehungswesens rückt, wird die materielle Armut durch die Kunst in geistigen Reichtum verwandelt“. Und ich habe mir die auf der Butterseite der Welt geborenen ZuhörerInnen dieser Festrede vorgestellt, wie sie in wohliger Rührseligkeit ihrer Zustimmung Ausdruck gegeben haben und sich darüber in der Freude ergangen sind, wie schön doch arme und ausgegrenzte junge Menschen singen und musizieren können. Erhebliche Zweifel habe ich jedoch bei der Vorstellung, das auch nur eine kleine Minderheit einen Gedanken an die bestehende Reichtumsverteilung verschwendet hat, umso weniger wenn sie mit Abreu eines Sinns sein konnten, dass den jungen Venezolanern der „geistige Reichtum“ Lohn genug sein würde. Für psychische Entlastung war also gesorgt.
El Sistema fand eine breite Medienberichterstattung, die zumeist darauf hinauslief, es gälte, „eine Botschaft (zu) senden, die darin bestehe, mit Musik die Welt zu verändern“. Besonders eindrucksvoll fand ich den Vergleich der Nachrichten im Boulevard-Blatt Kronen-Zeitung, die in derselben Ausgabe über die, von El Sistema realisierte „Macht der Musik“ berichtete und wenige Seiten danach über den Tagesablauf einer „durchschnittlichen Besucherin der Salzburger Festspiele“, für den sie rund 4 000.– ausgeben würde.
Wenn ich nun versuche, den politischen Kontext mit dem konkreten Projekt El Sistema mit seinem (gesellschafts-)politischen Anspruch zu verbinden, dann überrascht mich, wie unvermittelt die beiden voneinander zu existieren scheinen. Es ist, als wäre die Rede von zwei ganz unterschiedlichen Dingen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Jedenfalls ist mir anlässlich der El Sistema Aktivitäten in Salzburger ein breiterer Diskurs um die politische Zukunft des Landes entgangen.
Die Betrachtungen eines Unpolitischen 1915 und heute
Bei der Lektüre von Rüdiger Safranskis „Romantik – eine deutsche Affäre“ – übrigens ein Buch, das ich allen dringend ans Herz lege, die den ideologischen Grundlagen des aktuellen kulturellen Bildungsbooms auf die Spur kommen wollen – bin ich u. a. auf Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ gestoßen, verfasst während des Ersten Weltkriegs zwischen 1915 und 1918. Darin charakterisierte er die Spezifik der deutschen Kultur als eine „dionysische Elementarkraft“, die in ihrer Tiefe den oberflächlichen zivilisatorischen Errungenschaften einer „besserischen Aufklärung und revolutionären Philanthropie“ überlegen sei.
Als „Dionysiker mit Bügelfalte und gestärkten Kräften“ (Safranski) identifizierte Thomas Mann Musik mit den romantischen Versatzstücken, Gefühl, Unmittelbarkeit, Tragik, Rausch aber auch Lust an der Auflösung, Eros und Tod. Als solche sieht er sie im Stande der politischen Unschuld und Ruchlosigkeit, „die mit den realen politischen Verhältnissen so wenig wie möglich zu tun haben möchte; mehr: sie verdiene es, vor Politik geschützt zu werden im doppelten Sinn: Weder soll daraus Politik werden, noch soll die Politik darauf zugreifen dürfen“ (Safranski).
Bei oberflächlicher Beobachtung könnte man vermuten, dass diese romantische Figur bis heute nicht an ihr Ende gekommen ist. Zwar verschweigt Abreu nicht, dass sich das Entstehen von El Sistema einer Förderung des venezolanischen Gesundheitsministeriums verdankt. Darüber hinaus aber lässt seine idealistische Rhetorik jede Bezugnahme auf die konkreten politischen Verhältnisse in seinem Land vermissen. Er begnügt sich mit einem Appell an „Erzieher mit leidenschaftlicher Überzeugung an die immensen Möglichkeiten einer Kunst zu glauben, die nicht mehr ein anachronistisches Bollwerk von Pseudoeliten ist, sondern Schwelle hin zu einer neuen Welt, Tor zu einem Neuen Himmel, um auf diese Weise endlich den Teufelskreis der Armut durchbrechen zu können“.
Spätestens hier gilt es, in aller Form anzuerkennen, dass El Sistema für viele tausend junge Menschen neue Perspektiven eröffnet hat, die ihnen ohne das große Engagement der MusiklehrerInnen an den Rändern der Barrios verschlossen bleiben würden. Dies ist ein ganz großes Verdienst von José Antonio Abreu und seinen MitstreiterInnen.
Und viele Fragen offen….
Dies außer Streit gestellt, bleiben angesichts der beeindruckenden Diskrepanz dieser unterschiedlichen Erzählungen aus Venezuela offene Fragen, deren Beantwortung mithelfen könnte, nicht nur die positiven Effekte für ausgewählte junger VenezolanerInnen, sondern die Wirkungen nachhaltiger kultureller Bildung für eine gesamtgesellschaftliche Weiterentwicklung besser einschätzen zu lernen.
Da ist zum einen die Frage, warum ein so traditionelles Zentrum der Kunst- und Kulturvermittlung wie die Salzburger Festspiele ausgerechnet Anleihe bei einer Initiative aus Übersee nimmt, dessen sozialer Kontext sich (gottseidank) mit dem österreichischen (noch) nicht vergleichen lässt. Oder anders herum gefragt: Warum ist den Salzburger Festspielen in ihrer annähernd hundertjährigen Geschichte als Inkarnation der „Kulturgroßmacht Österreich“ bislang kein vergleichbarer Vermittlungswurf aus eigenem kulturpolitischen Antrieb gelungen, der in der Lage wäre, nicht nur ein auf Distinktionsgewinn ausgerichtete reiches Publikum anzusprechen, sondern breite Teile der Bevölkerung?
Die zweite Frage bezieht sich auf europäische Traditionen, die immer schon versucht haben, zumindest selektiv die Entwicklungspotentiale von Mitgliedern armer Bevölkerungsschichten zu entwickeln und zu nutzen. Immerhin war es immer schon Anspruch von Kirchen, aber auch anderer karitativer Initiativen, etwa in Form von Stipendien musikalische Talente auch von solchen Jugendlichen zu fördern, die auf Grund ihrer familiären Herkunft dazu allein nicht in der Lage gewesen wären. Die Ironie dabei: diese Initiativen hatten nichts weniger im Sinn als die sozialen Ungleichheiten zu verändern, ganz im Gegenteil ging es darum, sie mithilfe der Rekrutierung ansonsten vernachlässigter Human Resources zu stabilisieren. Wenn ich nun im Rahmen von El Sistema lese, dass sich aus den Musikzentren „Hochschulen entwickeln würden, in denen hochbegabte Musiker studieren“ würden sehe ich durchaus Ähnlichkeiten mit den traditionellen Strategien der Begabungsrekrutierung in sozial benachteiligten Milieus in Europa zur Optimierung des musikalischen Nachwuchses.
Die heikelste Frage aber besteht wohl darin, ob es El Sistema gelingen kann, die venezolanische – bzw. darüber hinaus in einer faszinierend gewendeten Form des Kulturimperialismus alle –Gesellschaften ausgerechnet mit musikalischen Mitteln irgendwie zum Besseren zu wenden. Dies vor allem vor dem Hintergrund der Koinzidenz einer nachhaltigen Verschlechterung der Lebensverhältnisse von immer mehr jungen Menschen in Europa bei gleichzeitigem Hochschwappen einer Welle der Hoffnungsproduktion (die mit den Salzburger Festspielen nunmehr den Olymp des traditionellen Kulturgeschehens erreicht hat) durch kulturelle Bildung. Ein Schelm, der daraus den Schluss ziehen wollte, es könnte sich dabei auch um den (kultur-)politischen Versuch handeln, über die realen Verhältnisse, die jungen Menschen derzeit zugemutet werden, hinwegzutäuschen.
Über Lebensverhältnisse wird noch immer politisch und nicht musikalisch entschieden
Meine Vermutung, nein mehr, meine große Zuversicht: Über die konkreten Lebensverhältnisse jedenfalls großer Teile der Bevölkerung wird nach wie vor politisch und nicht musikalisch entschieden. Und das ist auch gut so.
Anderenfalls bekäme der Führer der Freiheitlichen Partei Österreichs Recht, der in seinem zum aktuellen Nationalratswahlkampf produzierten Rap „Steht auf, wenn ihr für HC sei!“ Musik sehr professionell für die Mobilisierung von Gefühlen einzusetzen weiß. Ob er damit Erfolg hat, werden wir in wenigen Tagen wissen.
Gerade für MusikvermittlerInnen bleibt in jedem Fall die provokante Frage, ob jede Form des gemeinschaftlichen Musizierens Positives bewirkt oder ob es nicht auch hier auf die zu vermittelnden Inhalte ankommt, die mehr oder weniger freudig und lustvoll musikalisch transportiert werden und doch die Vorstellung von Überlegenheit, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit zum politischen Ziel haben können. Die Stärke der politischen Inhalte wird es schließlich sein, die darüber entscheidet, ob es noch eine Chance für einen unabhängigen Weg des Antiimperialismus für Venezuela gibt, oder ob das aktuelle Flugverbot ein weiterer Vorbote für die Reintegration des Landes unter die Herrschaft des globalen Neoliberalismus darstellt. Das wird für die künftige Verteilung des materiellen und geistigen Reichtums der venezolanischen Bevölkerung ausschlaggebend sein. Aber das steht in keiner Partitur, sondern auf einem anderen Blatt.
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