Audience Development in einer ungleichen Welt
Die heutige Tageszeitung „Der Standard“ titelt: „Mehrheit überzeugt: Österreich mangelt es an Gerechtigkeit“. Er beruft sich dabei auf eine telefonische Umfrage, die ergeben hat, dass ausgerechnet diejenige Gruppe, die sich besonders ungerecht behandelt fühlt, bereit ist, dem Oligarchen Frank Stronach ihre Stimme zu geben.
Fast ein Wunder: „The Economist“ fordert eine Verringerung von Ungleichheit
Es muss etwas grundsätzlich falsch laufen, wenn selbst im Referenzmedium der globalen Marktwirtschaft „The Economist“ in diesen Tagen ein Leitartikel erscheint, der die Forderung nach einer „radical centrist politics“ zur Bekämpfung der wachsenden Ungleichheit fordert. Unter dem Titel „True Progressivism“ werden Parallelen zur Situation zum Ende des 19. Jahrhunderts gezogen, in der „America’s robber barons and Europe‘s ‚Downtown Abbey‘ classes“ einer Masse von Besitzlosen gegenüber gestanden haben. Diese Aufspaltung in Arm und Reich habe die Vorzüge der Marktwirtschaft in ihr Gegenteil verzerrt, denn statt Prosperität habe sie auf dem Rücken einiger weniger massenhafte Verelendung erzeugt. Um dem zu begegnen sei es vor dem Hintergrund wachsender Ängste vor sozialistischen (und damit die Marktwirtschaft außer Kraft setzender) Revolutionen vor allem in Europa zur Ausformung wohlfahrtsstaatlicher Programme gekommen, die darauf abzustellen versuchten, den sozialen Ausgleich mit unternehmerischen Anreizen zu versöhnen.
Ohne die neoliberale Politik der letzten Jahre als Ursache der wachsenden Verungleichung zu benennen, sieht „The Economist“ mit seinem Hinweis auf die erste Phase der Globalisierung vor hundert Jahren die westlichen Gesellschaften heute vor ähnlichen Problemen. Statt aber eine Politik auf der Höhe der Zeit zu entwickeln würden im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf die Kontrahenten ihre bewährten, aber zunehmend unproduktiven Rollen übernehmen: Mitt Romney als robber baron und Barak Obama als umverteilender Klassenkämpfer. Dem „Economist“ zufolge wäre eine Überwindung einer solchen Rollenzuweisung notwendig „to come up with ways of mitigating inequality without hurting economic growth“. Und verweist auf Erfolgsgeschichten aus Lateinamerika, dessen Länder verstärkt in Schulen investieren würden und auch „cash transfers for the very poor“ vornehmen, um ganz unmittelbar das Ausmaß on Ungleichheit zu senken.
Soziale Ungleichheit und der Hang zur diffusen Gewöhnung
Im Gegensatz zu den USA – so scheint es – ist die Reaktualisierung einer breiten Diskussion um „soziale Gerechtigkeit“ im 21. Jahrhundert noch sehr am Anfang. In ihrem Beitrag „Wir müssen über Arm und Reich reden“ in „Die Zeit“ (Ausgabe 44/2012, 25.10.2012) will Elisabeth Niejahr Mut dafür machen, wenn sie konstatiert, dass man sich – jedenfalls in Deutschland – noch mit einem „diffusen Unbehagen an einer zunehmenden sozialen Ungleichheit“ begnügen würde und die „Mittelschicht vor allem mit sich selbst beschäftigt sei, manchmal selbstgefällig, manchmal geplagt von Abstiegsängsten“. In ihrer Analyse verweist Niejahr auf den aktuellen Zustand der politischen Kultur, der die Solidarität weitgehend abhandengekommen sei. Die Deutschen hätten sich daran gewöhnt, „Interessensgegensätze zwischen oben und unten, Reich und Arm nicht als das zu erkennen und zu benennen, was sie sind: harte materielle Verteilungskonflikte“.
Das werden junge Arbeitslose in Griechenland oder Spanien, die nicht wissen, wie sie über den Tag kommen sollen, anders sehen. Aber auch hier zeichnen sich die neuen politischen Bewegungen, die in der Lage wären, die bestehenden Logiken zur Erzeugung von Ungleichheit in Frage zu stellen oder gar zu überwinden, (noch) nicht ab.
Ein Plädoyer für die Rückkehr der Politik
Armin Thurnher, diesjähriger Eröffnungsredner des Bruckner-Festes in Linz hat sich dazu unter dem Titel „Die Katastrophen der Öffentlichkeit – Warum wir einen geistigen New Deal brauchen“ sehr grundsätzlich geäußert. Sein Ausgangspunkt ist der krisenhafte Zustand der Europäischen Union, die ihn zwar politisch motiviert, aber wirtschaftlich orientiert erscheint. Auf dem mühsamen Weg zu einer politischen Union liege ihr erster Existenzgrund nach wie vor in der Stärkung ihrer ökonomischen Kräfte.
Aber selbst in Bezug auf diese Kernkompetenz ist es im Augenblick nicht zum Besten bestellt. Der Grund liege – da stimmen „The Economist und Thurnher“ überein – nicht in einem zu wenig an Politik sondern in ihrer systematischen Unterminierung, die es ihr zunehmend unmöglich mache, die wild gewordenen Marktaksteure im Zaum zu halten. Für Thurnher kommt dieser Verlust des politischen Steuerungsanspruches einer Selbstaufgabe gleich:
„Die Wirtschaft ist ein Regelsystem, das kein Interesse daran hat, die Vorteile der einen zu begrenzen, um die Nachteile der anderen auszugleichen; sie tendiert vielmehr dazu, Unterschiede zu verschärfen. In der Antike, im alten Athen ist Politik als Reaktion auf diese Verschärfung entstanden: Die Athener verspürten die Notwendigkeit, den Markt zu beschränken. Denn auf dem unbeschränkten Markt hätte der Gläubiger den zahlungsunfähigen Schuldner in letzter Konsequenz zum Sklaven gemacht und schließlich die Polis vieler freier Männer beraubt und damit ihrer Wehrhaftigkeit und Existenzfähigkeit. Diese Selbstbeschränkung des Marktes bildete die Grundlage der demokratischen Freiheit“.
Mit dieser Analyse erinnert Thurnher an einen politischen Anspruch, der in einer auf die Durchsetzung privater Interessen gerichteten Marktwirtschaftlichkeit darauf gerichtet ist, die praktische Durchsetzbarkeit eines kollektiven Wertekanons von Gleichheit, Freiheit und Solidarität beruhenden Gemeinwesens zu gewährleisten. Dies – und nicht die Raffgier einer neoliberalen Elite – erscheint ihm die Grundbedingung eines auf demokratischen Grundlagen beruhenden Zusammenlebens. Daraus aber folgt, dass die wachsende Ungleichheit, der die europäischen Gesellschaften ausgesetzt sind, sich nicht auf eine Finanz- und Wirtschaftskrise beschränken, sondern zuallererst als eine politische und kulturelle Krise verstanden werden müssen.
Audience Development und gesellschaftliche Ungleichheit
Diese Gedanken zum prekären Verhältnis von Wirtschaft und Politik in Europa vor dem Hintergrund wachsender Gegensätze bildeten den Vorspann für meinen Besuch einer Veranstaltung der Europäischen Kommission zum Thema „Audiences 2020 and beyond“ Mitte Oktober in Brüssel. Im Zentrum stand die Präsentation einer Reihe von good practice Beispielen, die vom aktuellen Verhältnis von Kulturproduktion und ihrer Rezeption berichten. Dabei zeigte sich, dass mittlerweile fast alle Kultureinrichtungen, Initiativen und KünstlerInnen vielfältige Aktionsformen in Gang gesetzt haben, um ihre kulturellen Angebote an neue Zielgruppen zu richten und dabei zum Teil ganz neue, originelle Wege zu gehen.
Mit dieser bunten Palette wollte die Generaldirektion „Bildung und Kultur“ ihre kulturpolitische Schwerpunktverlagerung zugunsten der Entwicklung einer neuen Maßnahmengeneration nicht nur auf Kulturproduzenten, sondern auch auf Rezipientenseite deutlich machen. Dies – folgt man den Erklärungen von Anne Branch, Head of Unit Culture Programs and Actions – soll sich auch in der nächsten Generation der EU-Kulturförderprogramme „A Creative Culture“ niederschlagen, wenn „audience development“ zugunsten eines kulturellen Schaffens, das sich kulturell freilich nur sehr als spezifisch europäisch fassen lässt, zu einem neuen Aktionsfeld erklärt werden soll.
Nach Jahren der fast systematischen Verweigerung, sich kulturpolitisch stärker mit denen, an die sich das kulturelle Angebot richtet auseinanderzusetzen, empfinde ich dieses neue Interesse persönlich als einen großen Erfolg. Der Bericht „Audience Building and the Future of Creative Europe Program“, den ich im Rahmen des European Expert Network on Culture (EECN) zusammen mit Anne Bamford für die Europäische Kommission verfasst habe, hat versucht, diesen Richtungswechsel zu fundieren. Wichtige Vorbereitungsarbeit hat in diesem Zusammenhang auch die Plattform „Access to Culture“, die im Rahmen der Open Method of Coordination ins Leben gerufen wurde, geleistet.
Wenn im Rahmen einer solchen Veranstaltung sichtbar wird, dass sich immer mehr Kunst- und Kultureinrichtungen mit neuen, originellen Ideen um ihr Publikum bemühen, so hat das zuallererst pragmatische Gründe. Immerhin sind diese Einrichtungen auf ihre Publika angewiesen und ohne sie nicht vorstellbar. Sie brauchen sie unmittelbar als Käufer von Tickets und mittelbar als Legitimationsgrundlage, um auch in Zukunft Anspruch auf öffentliche Mittel erheben zu können.
Es war einmal Kulturpolitik als „wertorientierte Marktkorrektur“
Man muss nicht hundert Jahre zurückgehen, um darauf hinzuweisen, dass das Bemühen um Publika kein neues Phänomen ist, (auch wenn das im Rahmen der Präsentationen manchmal so den Anschein hatte). Immerhin haben politische Großversuche mit zum Teil beträchtlichem (propagandistischen) Aufwand versucht, das kulturelle Verhalten ihrer Anhänger nachhaltig (und manchmal auch gegen ihren Willen) zu beeinflussen. Die kulturpolitische Ausrichtung der 1970er Jahre zugunsten einer „Kultur für alle“ vor allem in Deutschland und Österreich oder der „action culturelle“ in Frankreich sind noch in guter Erinnerung. Beide waren – im Rahmen der demokratischen Verfasstheit der beteiligten Länder – stark von Verteilungsfragen geprägt (so hieß es in Österreich: „Kulturpolitik ist die Fortsetzung von Sozialpolitik“).
Neu hingegen ist die – der Europäischen Union eigene – Argumentationsgrundlage, die darauf hinausläuft, dem Markt die Emanzipationskraft zuzuweisen, die der Politik abhanden gekommen scheint. Auf diese Weise wäre es möglich, auch Kultureinrichtungen zugunsten neuer Zielgruppen so zu instrumentalisieren, dass diese zu Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und damit Prosperität beitragen können.
Hier zeigen sich eklatante Unterscheide wenn gerade im Zusammenhang mit dem Anspruch, dass alle Menschen aktiv am kulturellen Leben teilnehmen sollen, eine diametrale Kehrtwendung stattfindet. Vergessen die Forderung, das kulturelle Angebot von seinen ökonomischen Zwängen zu befreien und ihm einen Platz jenseits marktwirtschaftlicher Erfordernisse zuzuweisen. Stattdessen springt just zu dem Zeitpunkt, wo die destruktiven Kräfte des Marktes, die in der aktuellen Krise auf die Politik wirken, sichtbar werden, der Kulturbereich auf und erhofft sich auf der Grundlage seiner wirtschaftlichen Indienstnahme eine Rettung aus zunehmend schwieriger Lage.
Wenn in den 1970er Jahren ein staatlicher monopolisierter Hochkulturbetrieb für eine kleine Elite einer kommerziellen Massenkultur gegenübergestanden ist, so waren es in erster Linie politische (und gerade nicht wirtschaftlich motivierte) Forderungen, die darauf abzielten, das kulturelle Angebot allen Menschen ungeachtet ihrer Stellung in der wirtschaftlichen Hierarchie zugänglich zu machen.
Gerade weil marktwirtschaftliche (in dem Fall kulturwirtschaftliche) Kräfte drauf und dran waren, das kulturelle Verhalten weiter Teile der Bevölkerung zu bestimmen, wurde es als die zentrale politische Aufgabe angesehen, eine „wertorientierte Marktkorrektur“ (so der Kultursoziologe Kurt Blaukopf) zu betreiben, um die Idee einer „kulturellen Öffentlichkeit“, die über den individuellen Kulturkonsum hinauszuweisen vermochte, wachzuhalten. „Soziokulturellen Zentren“ in Deutschland oder „regionalen Kulturinitiativen“ in Österreich kam in diesem Zusammenhang eine wichtige – gegen die Marktkräfte gerichtete – Aufgabe zu, wenn sie versuchten, neue Orte kultureller Öffentlichkeit zu organisieren und damit die traditionelle Trennung zwischen KulturproduzentInnen und KonsumentInnen aufzuheben.
Von alledem war während der Veranstaltung in Brüssel nicht die Rede. Und so gab es auch keine Gelegenheit zu lernen, warum die bisherigen (kultur-)politischen Bemühungen, „alle Menschen“ am kulturellen Leben teilhaben zu lassen, immer wieder an die Grenzen gelangt sind oder gar draufzukommen, ob es nicht – jedenfalls außerhalb der Tagungsräume – einflussreiche Kräfte gibt, die willens und in der Lage sind, diesbezügliche Absichten zunichtezumachen.
Meine Vermutung ist, dass diese Kräfte viel mit der Aufrechterhaltung der oben angesprochenen, ungleichen Verhältnisse zu tun haben. Immerhin ist nicht einzusehen, warum die Gesetze der Marktwirtschaft, die politisch unbesteuert zu einer sich permanent verschärfenden Ungleichheit führen, im Bereich eines marktwirtschaftlich überformten Kulturbetriebs zu anderen Ergebnissen führen sollen.
Stattdessen ist zu erwarten, dass der Kulturbetrieb aus seiner eigenen Logik heraus dazu tendieren wird, die gesellschaftlichen Trends wachsender Verungleichung abzubilden und damit kulturelle haves und have-nots zu produzieren.
Die Europäische Kommission als politischer Akteur wird alle Hände voll zu tun haben, diesem Trend wirksam entgegenzuwirken. Wenn ihr das nicht gelingt, wird es bei gut gemeinten Versuchen bleiben, die belegen sollen, dass Ungleichheit mit kulturbetrieblichen Mitteln verringert werden.
In der Wirkung werden sie zum Gegenteil dessen führen, wogegen sie antreten: zur Verschleierung grundsätzlicher gesellschaftlicher Widersprüche mit kulturellen Mitteln. Um herauszufinden, wozu das führen kann, verfügt der Kontinent über einen reichen Schatz an Erfahrungen. Und auch dazu, wohin es führen kann, wenn sich die Hoffungen von BürgerInnen hinsichtlich mehr Gerechtigkeit auf Figuren wie Stronach und Co. verengen.
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