Aufruf zur Gründung einer Gesellschaft der kulturlosen Gesellinnen und Gesellen
Bei der ersten offiziellen Begegnung zwischen der deutschen AfD-Vorsitzenden Frauke Petry und FPÖ-Chef HC Strache meinte dieser u.a.: „Der Islam war und ist nie Teil von Europa gewesen.“ Er, der aus Wien komme, wisse, wie sich Belagerung anfühle. Bei seinen Aussagen kennt er keine Hemmung, sich zu gewählten politischen VertreterInnen des Gastlandes zu äußern: „Schuld trage Angela Merkel mit ihrer dummen, gemeingefährlichen Einladungspolitik.“
Was sich da zeigt ist nur ein kleiner Ausschnitt einer „Konterrevolution“ europäischen Ausmaßes. Thomas Assheuer fragt dazu in der jüngsten Ausgabe der Zeit: „Warum ist das autoritäre Weltbild rechtspopulistischer Parteien so erfolgreich?“ Immerhin stellt dieses Weltbild entgegen den in Fachkreisen weithin unwidersprochenen Tatsachen wie dem nachhaltigen Einfluss islamischen Denkens auf die europäische Geschichte gar nicht mehr den Anspruch, das politische Geschehen mit den Mitteln rationaler politischer Entscheidungsfindung zu bestimmen. Der erstarkende Rechtspopulismus setzt stattdessen auf eine umfassende Kulturalisierung der politischen Verhältnisse, die es gilt, für den eigenen Machtanspruch zu nutzen.
Freilich ist damit nicht jede Kultur gemeint, vielmehr setzen seine IdeologInnen auf die Wiedererlangung einer nationalkulturellen Hegemonie, deren Hauptaufgabe darin besteht, alle anderen Vorstellungen eines offenen und dynamischen Kulturbegriffs zu bekämpfen. Ein solcher ist geprägt von einem hermetischen Denken, das – Assheuer folgend – Kultur als etwas Einheitliches und Zeitloses sieht, das darauf abzielt, in nationalen Mythen und Erzählungen den Volksgeist zu speichern und damit als die tiefste Quelle von kollektivem Sinn zu fungieren. Diese Kultur soll den europäischen „Völkern“, wie es neuerdings wieder gerne heißt, angesichts einer schwächelnden Europäischen Union, von herbeigeredetem Staatsverfall, Flüchtlingszuzug, Terror, Wachstumskrise und dem damit verbundenen Wachsen sozialer Ungleichheit neuen Stolz einhauchen. Und sie soll dem Liberalismus der europäischen Verfassung, der mit dem Versprechen von Multikulturalismus und Hyperindividualismus drauf und dran war, „alle natürlichen Werte“ zu zerstören, ein nachhaltiges Ende bereiten.
Entgegen den liberalen Vorstellungen eines vielfältigen, die nationalen Grenzen hinter sich lassenden Kulturgeschehens soll unter den neuen politischen Bedingungen Kultur wieder vorrangig dem Staat dienen, sie soll ihm eine metaphysische Aura verleihen und so das herrschende Regime legitimieren. Viktor Orban zeigte mit seiner Strategie, den ungarischen Kulturbetrieb von linksmoralischer Gesinnungsästhetik zu befreien, bereits exemplarisch vor, wie das geht: Polen übt noch. Orbans Instrumentalisierungsversuche laufen darauf hinaus, den Kulturbetrieb in eine patriotische Sinnstiftungsagentur zur geistigen Absicherung des Orban-Regimes umzuwandeln, dessen VertreterInnen nicht davor zurückschrecken, das Kulturangebot auf Konformität und sittliche Verträglichkeit überprüfen.
Der staatliche Anspruch auf Kultur kehrt zurück
Wir fühlen uns zurückversetzt in die dunklen 1950er und 60er Jahre, in denen der Staat noch weitgehend unwidersprochen für sich beanspruchen konnte, mit Mitteln der Zensur darüber zu verfügen, was Kultur ist und was nicht. Und wir erleben schmerzlich, dass die Emanzipationsversuche, die in der Zwischenzeit versucht haben, ein neues, liberales kulturelles Selbstverständnis in breiten Teilen der Bevölkerung zu verankern, offenbar nicht ausreichen, um den Angriffen der aktuellen Konterrevolution von rechts hinreichend Paroli zu bieten. Einer der Gründe liegt in einer mangelnden kulturpolitischen Konzeptionsarbeit, die es ermöglicht hätte, das Kulturgeschehen aus seinen jeweiligen lokalen, regionalen, vor allem aber nationalen Bezügen zu emanzipieren und zumindest so etwas wie eine über eine schmale Elite hinausreichende europäische Kulturgesellschaft zu konstituieren (was aus Gründen einer Nichtzuständigkeit auf europäischer Ebene für eine genuine Kulturpolitik bis dato zusätzlich erschwert wird).
Die wenigen Versuche, eine theoretische Fundierung eines liberalen, dynamischen, von staatlichen Kontexten befreiten Kulturbegriffs zu erarbeiten, haben sich rasch in einer Reihe von Widersprüchen festgefahren. An diesem Defizit konnten auch die Forderungen des deutschen Künstlers und Kunsttheoretikers Bazon Brock nur wenig ändern, der bereits lange vor dem Beginn eines rechten kulturellen Hegemonieanspruches gefordert hatte, den Begriff der „Säkularisierung“ nicht auf eine rigide Trennung von Kirche und Staat zu beschränken, sondern darüber hinaus auch eine Trennung der Nationalstaaten von ihrer kulturellen Legitimation zu erkämpfen.
Bereits in den frühen 2000er Jahren hat der US-Amerikanische Politikwissenschafter Samuel Huntington mit seinem Buch „Clash of Civilisations“ (das etwas irreführend mit „Kampf der Kulturen“ ins Deutsche übersetzt worden ist) für diskursiven Zündstoff gesorgt. Damals entstand auch sein Beitrag „Auf dem Weg zu einer globalen Kultur?“. Seine skeptische Argumentation lief darauf hinaus, dass die Idee einer globalen Kultur vor allem von einer kleinen sozialen Gruppe eng vernetzter westlicher Intellektueller vorangetragen würde, die damit eher ihren Suprematieanspruch verfestigen würden als Wirkungen bei breiteren Teilen der globalen Bevölkerung zu erzielen.
Dazu kommt ein kommerzieller Aspekt, wonach so etwas wie eine globale Kultur vor allem von einer transnationalen Distribution popkultureller Güter geprägt sei. Diese würde die bestehende kulturelle Hegemonie ausgewählter westlicher Länder, allen voran der USA mit ihren global agierenden Cultural Industries eher begünstigen als behindern, eine Dominanz, gegen die politisch inspirierte Konzepte einer transnational verfassten Kulturgesellschaft abseits marktwirtschaftlicher Verkehrsformen bislang wenig auszurichten vermocht haben. Und drittens sei da schlicht der Umstand, dass sich „Kulturen“ in ihren lokalen, regionalen oder nationalen Kontext nach wie vor signifikant unterscheiden würden bzw. sich diese nicht beliebig in einen globalen kulturellen Zusammenhang integrieren lassen.
Insbesondere diesem letzteren Umstand hat die 2001 verabschiedete UNESCO-Deklaration zur kulturellen Vielfalt versucht zu entsprechen. In ihrer aktuellen Ausformulierung setzt sie auf eine Kultur „als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften …, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen“ und offenbart so ihre zweischneidige Stoßrichtung, wenn sie einerseits Menschen in unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens vor dem wachsenden Konformitätsdruck eines globalisierten Marktes schützen möchte und umgekehrt nicht umhinkommt, konservativen Vorstellungen eines jeweils geschlossenen, scheinbar naturhaft gewachsenen Kulturbegriffs zur Aufrechterhaltung unterschiedlicher kultureller Identitäten zu bedienen.
Auf dem Schlachtfeld der Kultur (Stuart Hall) ist zur Zeit nichts zu gewinnen
Diese kursorischen Überlegungen zum aktuellen Kulturkampf bringen mich zur Vermutung, dass es angesichts der ungleichen Ausgangslage nur wenig bringen kann, dem Rechtspopulismus mit kulturellen Mitteln entgegenzuwirken. Seine kulturellen Lockrufe scheinen mir vielmehr zuallererst eine Falle, in die Kulturschaffende umso weniger gefeit sein werden hineinzutappen, als ihre Existenzgrundlagen in Frage stehen.
Sie sagen Kultur und meinen Zivilisation
Statt über die irrationalen Implikationen jeglicher Kulturvorstellung weiterzustreiten, scheint es mir angesichts der zunehmend dramatischen politischen Verhältnisse vorrangig notwendig, sich mit dem Angriff auf die zivilisatorischen Errungenschaften, die von den Rechtspopulisten im kulturellen Gewand vorgetragen werden, auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang habe ich zuletzt auf den verhängnisvollen Verlust des kategorialen Unterschiedes von Kultur und Zivilisation hingewiesen, der auch die Rezeption von Huntingtons Buch bereits im Titel charakterisiert. Immerhin vermag die Bezugnahme auf so etwas wie die Wiedergewinnung einer Nationalkultur nur sehr oberflächlich darüber hinwegzutäuschen, dass damit zumindest eine Relativierung demokratischer bzw. zivilisatorischer Errungenschaften gemeint ist, die auf dem Altar eines von den neuen autoritären Machtträgern statuierten „Volkswohls“ geopfert werden sollen. Ungarn und Polen führen vor, dass dieses auf dem Weg in die Machtzentralen über geltendes Recht und Gesetz zu stellen sei. Und auch für den Front National ist es dementsprechend nur „natürlich“, zivilisatorische Errungenschaften der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen außer Kraft zu setzen, wenn es darum geht, „eingeborene“ Franzosen besser zu behandeln als solche mit ausländischen Wurzeln.
Entsprechend gilt der Kampf zuallererst der Aufrechterhaltung erreichter zivilisatorischer Standards in Form weltweiter Solidarität und Normen des Zusammenlebens, wie sie etwa in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte grundgelegt sind. Nur sie – und nicht irgendwelche kulturelle Besonderheiten – sind in der Lage, ein auf universelle Gleichheit gerichtetes Miteinander aller in offenen Gesellschaften Lebender zu gewährleisten. Nicht umsonst ergeht sich die neue Generation des nach der Macht greifenden Rechtspopulismus vor allem gegen das „Monster“ in Gestalt des politischen Projektes der Europäischen Einigung als Noch-Garant der Aufrechterhaltung ebensolcher zivilisatorischer Standards und wendet sich gegen freien transnationalen Austausch, Genderwahn und Menschenrechtsapostel.
Lasst uns eine neue Gesellschaft gründen
Mein Vorschlag der Gründung einer Gesellschaft der kulturlosen Gesellinnen und Gesellen läuft nun darauf hinaus, den Mitgliedern die Chance zu eröffnen, sich aus den eigenen, oft unbewussten kulturellen Abhängigkeiten und Verstrickungen zu befreien, und sich auf ein Weltbürgertum auf der Grundlage bestehender zivilisatorischer Grundlagen vorzubereiten.
Ein solcher Befreiungsversuch fördert die Erkenntnis, dass – jedenfalls in der aktuellen historischen Phase – die wachsenden sozialen Probleme mit kulturellen Mitteln nicht gelöst werden können. Stattdessen machen ausgerechnet die Rechtspopulisten deutlich, dass jedwede Nutzung des Kulturbegriffs ohne Machtansprüche von Minderheiten, die sie vorrangig dazu benutzen, allen anderen die Naturhaftigkeit ihrer inferioren sozialen Stellung zu verklären, nicht zu haben ist. Kultur also als eine Art Armenspeisung für alle Abgehängten, Enttäuschten und Verängstigten in den unteren Mittelschichten, die vielleicht heute noch einen Job haben, aber ihn morgen angesichts einer weitgehend globalisierten Wirtschaftsdynamik schon verlieren könnten.
Entkulturalisierung als Möglichkeit des Verlernens öffentlicher Ansprüche kultureller Besonderheiten zugunsten gemeinsamer Standards des Zusammenlebens
Vorrangiger Auftrag einer solchen Gesellschaft könnte es sein, eine Form der kulturellen Bildung zu entwickeln, die nicht darauf hinaus läuft, sich Kultur anzueignen, sondern ganz im Gegenteil, die Fähigkeit zu entwickeln, ihren (falschen) Versprechen zu misstrauen und sie hinter sich zu lassen, wenn es darum geht, sich unbelastet mit Menschen unterschiedlicher Herkunft von Gleich zu Gleich zu verständigen.
Kulturelle Bildung in Zeiten des Rechtspopulismus heißt zu lernen, die eigene kulturelle Brille abzunehmen um damit den sozialen und politischen Realitäten des Lebens in unverstellter Form näher zu kommen. Sie wäre demnach eine Einladung zur Entkulturalisierung für hierorts kulturell Sozialisierte ebenso wie alle diejenigen, die als ZuwanderInnen ihre kulturellen Prägungen andernorts erfahren haben. Privat dürfen sie freilich weiter singen, tanzen, malen oder fotografieren; den Mitgliedern untersagt ist ausschließlich, daran einen gesellschaftlichen Auftrag zu knüpfen bzw. politische Konsequenzen daraus zu ziehen.
Ziel ist somit das gemeinsame Wegräumen eines überkommenen Kulturmülls, der uns davon abhält, Menschen als prinzipiell gleichwertig zu erachten und sich an mühsam erkämpfte Regeln und Normen des demokratischen Zusammenlebens zu halten. Wenn damit auch gleich nationalistischer Sondermüll entsorgt werden könnte, wäre es mir recht. Ich wäre dann bereit, den Namen der Gesellschaft – wie ein lieber Freund ausgerechnet aus dem diplomatischen Dienst schon vor vielen Jahren vorgeschlagen hat – auf Gesellschaft der kulturlosen und vaterlandslosen Gesellinnen und Gesellen auszuweiten.
Anträge auf Mitgliedschaft und auch Vorschläge zu Aktivitäten im Detail werden ab sofort entgegen genommen.
LETZTE BEITRÄGE
- Hilfe, die Retter nahen
- Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
- Alles neu macht der Mai – Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich
- Hype um Chat GPT
- Die Autonomie der Kunst
- Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus
- Dürfen die das?
- Kulturpolitik in Zeiten des Krieges
- „Das Einzige, was uns zur Zeit hilft, das sind Waffen und Munition“
- Stehen wir am Beginn eines partizipativen Zeitalters? (Miessen)