
Beobachtungen und Eindrücke von der ICCPR 2014 in Hildesheim
Wissenschaftliche Großveranstaltungen dieser Art sind nur schwer zu überblicken. Auch in diesem Fall, bei der „iccpr“ 2014 in Hildesheim, gab es mehr als 200 Einzelpräsentationen aus unterschiedlichsten kulturpolitischen Blickwinkel, die auf bis zu 14 parallele Sessions aufgeteilt waren (siehe dazu das Detailprogamm). Naturgemäß machen sich – auch im Vergleich zu früheren Veranstaltungen in Barcelona (2012), Jyväskylä (2010),Istanbul (2008), oder Wien (2006), die EDUCULT ausgerichtet hat – gewisse Routinen breit, die die Beschäftigung mit Fragen von „Kultur und Entwicklung“, „Kultur und Diplomatie“ „Kultur und Stadtentwicklung“ oder „Kulturindustrien“ immer wieder kehren lassen. Auffällig war dabei, dass sich diese Phänomene einerseits auf den jeweiligen besonderen Kontext („place“) bezogen und andererseits teilweise überraschende, globale Querverbindungen („common ground“) sichtbar wurden. Dennoch: während sich ForscherInnen in Europa und der „westlichen Welt“ in ihrer kritischen Analyse vor allem am „Staat“ und „der Ökonomisierung“ abarbeiten, zeigten die Beiträge der afrikanischen und arabischen TeilnehmerInnen auf eindrückliche Weise, was es bedeuten kann, wenn der Staat von radikalen Kräften attackiert oder gar übernommen wird und damit grundlegende rechtsstaatliche und demokratiepolitische Voraussetzungen außer Kraft gesetzt werden. Der Anspruch, wissenschaftlich-kritisch zu arbeiten oder Kunst zu produzieren ist damit per se politisch bzw. verbinden sich Bildungsinteressen, künstlerische Interessen, wissenschaftliche Interessen und wirtschaftliche Interessen im Anspruch der gesellschaftlichen Transformation. So betrat in Hildesheim die „gute alte“ Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik wieder die Bühne, sichtlich verjüngt und in weiblichem, aktivistischem und arabischen Gewand.
Die Fragen „Are we just playing an academic career game? Or are we agents of change in a development context?“, die Jonathan Vickery von der University of Warwick in seinem Abschlusskommentar an das Publikum richtete, ist nur für diejenigen relevant, die sich in der luxuriösen Situation befinden, darüber frei entscheiden zu können. Vermutlich ist es auch diesem Fokus auf „change“ und „agency“ geschuldet, dass bei der Vielzahl der vorgestellten Forschungsprojekte die spezifische Methodendiskussion nur eine nachgeordnete Rolle spielte. Wie es Jenny Johannisson, Professorin an der University of Borås, Schweden und Chair des Scientific Committee ausdrückte, gibt es nach wie vor einen Bedarf, einen akademischen, damit sowohl theoretisch als auch methodisch fundierten kulturpolitischen Fachzusammenhang zu etablieren und sich dabei auch den methodischen und theoretischen Diskussionen in den „großen“ Disziplinen – Politikwissenschaften, Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaften – zu stellen. Während bei vorangegangenen Konferenzen die Kluft zwischen akademischer und angewandter – politikberatender, aktivistischer – Forschung noch unüberwindbar schien, zeigten sich in Hildesheim Anzeichen für eine Trendwende.
Vor allem die VertreterInnen einer jüngeren, weiblich dominierten Generation von ForscherInnen und AktivistInnen – unter anderem Rana Yazaji von Culture Resource (Ägypten) – sprachen sich dafür aus, dass es insgesamt dem Bereich zuträglicher sein kann, den Dialog zu suchen und sich dabei der unterschiedlichen Kontexte und Rollen auf produktive Weise bewusster zu werden. Besonders positiv ist dabei zu sehen, dass die Konferenz Wert darauf legte, die Hierarchien zwischen NachwuchswissenschafterInnen, PraxisforscherInnen und akademisch und fachlich etablierten WissenschafterInnen möglichst flach zu halten und in den Präsentationsformaten einen Austausch auf Augenhöhe zu ermöglichen. Einzelne Beiträge thematisierten auch auf methodischer Ebene neue Allianzen, etwa im Bereich von partizipativer Forschung und Entscheidungsfindung oder der Rolle von ExpertInnen im politischen Agenda-Setting.
Es ist den VeranstalterInnen gelungen, eine Reihe von jungen KulturaktivistInnen und ForscherInnen aus arabischen und darüber hinaus aus einer Reihe arabischer Ländern, die bislang keinen Zugang zur internationalen Forschungsszene hatten, in die vormalige Festung Marienburg – jetzt der Hildesheimer Kulturcampus – zu bringen. In Panels zum Verhältnis von „Kulturpolitik und politischer Krise“ berichteten sie von ihren Bemühungen, in den aktuellen Konflikten ihre Vorstellungen einer progressiven Kulturarbeit umzusetzen. Zum Teil persönlich existentiell gefährdet brachten sie ihren ungebrochenen Willen zum Ausdruck, sich mit kulturellen Mitteln für eine bessere Gesellschaft einzusetzen. Dabei steht der Widerstand gegen jede Form der Zensur ganz oben auf der kulturpolitischen Agenda. In ihrem Kampf gegen autoritäre Herrschaftsformen vermittelten sie den übrigen TeilnehmerInnen auf ganz unmittelbare Weise die Kraft ihrer demokratiepolitischen Ansprüche und darüber hinaus eine Form der Neugierde, der Klarheit der Analyse, der Bereitschaft zum Handeln und damit einer Form von Lebensenergie, die in weiten Teilen der krisengeschüttelten westlichen Marktwirtschaften verlernt zu werden droht und die zunehmende Abgestumpftheit kultur-politischen Engagements erst richtig deutlich gemacht hat.
Eine kritische Bewertung tut not: Was ist aus dem Versprechen einer umfassenden Demokratisierung durch Kulturpolitik geworden?
Michael Wimmer hat in seinem Referat, das sich vorrangig mit demokratiepolitischen Gefährdungen im Rahmen aktueller kultureller und kulturpolitischer Trends in Europa beschäftigt hat, versucht, diesen Faden aufzugreifen, um so auf die gefährliche Koinzidenz der grassierenden Demokratiemüdigkeit innerhalb Europas und dem Wiedererstarken autoritärer Herrschaftsformen an seinen Rändern hinzuweisen. Die unmittelbare kulturpolitische Dimension ergibt sich in der Nichteinlösung demokratiepolitischer Versprechen, mit denen VertreterInnen von Kunst und Kultur bei der Mitwirkung an einer umfassenden Demokratisierung einst angetreten sind. Dazu berichtete eine junge Kollegin aus Nigeria von den Versuchen, abseits der staatlichen Strukturen eine zivilgesellschaftliche getragene Kulturpolitik zu konstituieren, die mithelfen soll, den afrikanischen Kontinent sukzessive aus seiner ökonomischen, politischen aber auch kulturellen Randständigkeit zu befreien.
Good Guy und Bad Guy: Über vorschnelle Zuschreibungen einer Zivilgesellschaft als vermeintlich einheitliche positive Kraft
A propos Zivilgesellschaft: Ein Panel beschäftigte sich mit dem neuen EU-Kulturprogramm „A Creative Europe“ und den damit verbundenen Konsequenzen. Gemeinsam war den PräsentatorInnen der Befund einer wachsenden ökonomischen Überformung auch des Kultursektors. Beklagt wurde aber auch die weitgehend bürokratische Vorgangsweise beim Zustandekommen, die die Ansprüche der Zivilgesellschaft weitgehend außen vor lassen würden. Diese Behauptung erzwingt freilich eine genauere Definition dessen, was gerne kursorisch als „Zivilgesellschaft“ verhandelt wird und doch ein Konglomerat unterschiedlichster Interessen darstellt, deren VertreterInnen möglicher Weise mit Ausnahme des Wunsches nach mehr öffentlichen Mitteln („Seventy Cents for Culture“) nur wenig gemein haben. Ungeachtet dessen bleibt der Anspruch, nach der Erprobung der „Open Coordination Method“ auch im Kulturbereich einen Schritt weiter zu gehen, neue Governance-Modelle zu entwickeln, um damit dauerhaft möglichst allen Stakeholder-Gruppen in sie betreffenden Entscheidungsfindungsprozessen einzubeziehen.
Reden wir so viel über Kulturpolitik weil sie so unwichtig ist?
In einem Panel zu Definitionsfragen von Kulturpolitik entwarf Clive Gray sein theoretisches Konzept der Ambiguität (kultur-)politischer Entscheidungen. Dieses läuft darauf hinaus, dass ein besonders Charakteristikum von Kulturpolitik darin bestünde, nicht zu entscheiden und Interessenskonflikte in Schwebe zu halten. Dies erweise sich insgesamt als politisch erfolgreicher als das Herstellen klarer Verhältnisse, das zumindest einen Teil der davon betroffenen Klientel verärgern würde. In gewisser Weise stimmte ihm Anders Frelander aus Schweden zu, der in seiner Analyse der schwedischen Kulturpolitik im historischen Verlauf zum Schluss kam, dass – ungeachtet der grundlegenden politischen Veränderungen, die das Land mit dem Ende der sozialdemokratischen, auf Wohlfahrtstaatlichkeit gerichteten Hegemonie – Schweden durch eine weitgehende Kontinuität im Bereich der Kulturpolitik („inertia“) gekennzeichnet sei. Provokativer war da schon ein Einwurf aus dem Publikum, der noch einmal darauf aufmerksam machte, um welch verschwindend kleinen (und damit unbedeutenden) Sektor es sich beim Kulturbereich handeln würde. Diese Marginalität führe zu Vermutung, diese müsse durch einen diskursiven Mehraufwand kompensiert werden, der die Existenz vielfältiger Scheinkonflikte nähre, die sich bei näherer Betrachtung – jedenfalls für die gesellschaftliche Entwicklung – als weitgehend irrelevant erweisen würden.
Österreichs Kulturpolitik; Angebotsseitig im oberen Mittelfeld, nachfrageseitig Schlusslicht
Zum Abschluss stellte der junge slowenische Kulturpolitikforscher Andrej Srakar einen neuen „Cultural Policy Index“ vor. Für diesen synthetisierte er eine Vielzahl statistischer Daten, um so ein Ranking der europäischen Länder entlang der Faktoren: öffentliches Engagement, privates Engagement und Partizipation zu versuchen. Die Position Österreichs, dessen kulturpolitischen Zustand zuletzt Veronika Ratzenböck von der Österreichischen Kulturdokumentation in ihrem Beitrag der kulturpolitischen Mitteilungen „Tauziehen zwischen Tradition und Gegenwart“ analysiert hat, weist zumindest eine beträchtliche Anomalie auf: Sowohl Platz 11 von 33 im Bereich „Public Development of the Cultural Sector“ nach Luxembourg, Norwegen, Dänemark oder Frankreich als auch Platz 14 nach Island, Lettland, Norwegen und die Niederlande im Bereich „Private Engagement“ stellen einen guten Durchschnitt dar, sind aber keine Bestätigung der Selbstzuschreibung als „Kulturgroßmacht Österreich“. Dramatisch wird es im Bereich Partizipation, wo Österreich gerade noch vor Zypern und Irland das Schlusslicht bildet. Wollte man aus diesen Zahlen einen kulturpolitischen Auftrag herauslesen, dann sollte man sich endlich an die Instrumente machen, die seit den 1970er Jahren einen breiteren Zugang zum kulturellen Leben versprechen aber nicht einlösen.
Kulturelle Bildung hat ihren Platz (zumindest in Hildesheim) gefunden
Somit gelang es den Veranstaltern insgesamt, der Veranstaltung diesmal in einzelnen Punkten eine Neuausrichtung zu geben, die für frischen Wind und so für einen guten Tagungsverlauf gesorgt hat. Da gab es zum einen eine Reihe von Semi-Plenary Sessions, die sich mit ausgewählten Fragen wie „Kulturpolitik und Transformation“, „Kulturpolitik und Kulturelle Bildung“ und „Kulturpolitik und Partizipation“ beschäftigten und hinreichend Zeit für eine vertiefende Diskussion ermöglichten. Mit der Themenwahl rekurrierten die Veranstalter durchaus auf eigene Forschungsschwerpunkte und stießen dabei dennoch auf unerwartet großes Interesse. Besonders auffällig war, dass kulturelle Bildung einen Platz auf der iccpr gefunden hat. Nicht nur in Deutschland, den Niederlanden, Skandinavien und England, sondern auch in einer Reihe von asiatischen Ländern hat sie sich als kulturpolitischer Schwerpunkt etabliert und verdient es somit, nicht länger nur aufgrund ihrer pädagogischen Inhalte und Ziele desavouiert, sondern auch als kulturpolitisches Thema analysiert zu werden.
Die Session zu kultureller Bildung beschäftigte sich in einer ersten Runde mit der ewigen Frage „Art for Art‘s Sake?“ Wohltuend war, dass beide Panellisten keine ExpertInnen der kulturellen Bildung im engen Sinn waren und so einen distanzierteren Blick auf das Thema ermöglichten: Während aber Sigrid Røyseng aus Norwegen noch einmal das schon allzu oft durchgekaute Erfolgsmodell „Kulturrucksack“ in den Mittelpunkt rückte, das es allen norwegischen Kindern möglich machen soll, zumindest einmal im Jahr mit Kunst in Berührung mit Kunst zu kommen, versuchte Clive Grey von der University of Warwick eine politische Analyse der aktuellen Konjunktur kultureller Bildung, die sich seiner Meinung nach weniger überzeugenden Wirkungsanalysen, als politischen Opportunitäten verdanken würde.
In einem zweiten Teil stellten wir Ergebnisse aus dem EDUCULT-Forschungsprojekt zu deutschen „Modellprojekten kultureller Bildung“ vor, das das Verhältnis zwischen den jeweiligen kultur- und bildungspolitischen Programmansprüchen und den Realitäten der Praxis analysiert. Tobias Fink von der Universität Hildesheim referierte den Stand der Evaluierung des Programms „Kulturagenten“, dessen Ergebnisse helfen sollen, eine nachhaltige Implementierung der Intentionen zu ermöglichen. Die Präsentation einer Meta-Analyse von „Creative Partnerships“, einem der am besten evaluierten Programme überhaupt mahnte zu einem Zurückschrauben der Erwartungen an wissenschaftlich nachgewiesene Wirkungen, wenn sich die Regierung Cameron/Clegg unmittelbar nach Amtsantritt dazu entschloss, des Programm trotz nachweisbar positiver Effekte zu beenden.
Die Karawane zieht weiter: Von Hildesheim nach Seoul 2016
Die Veranstaltung ermöglichte eine Vielzahl anregender, zum Teil neuer Kontakte und Gespräche, die den eigentlichen Gewinn darstellen. Den Veranstaltern ist zu danken und zu gratulieren, dass sie diese Form der Kommunikation möglich gemacht haben (schon auf Grund der Unmöglichkeit, die Marienburg zu verlassen, wenn man sich nicht für 7 km aufs Fahrrad schwingen wollte).
Das Scientific Committee hat eine Vorentscheidung getroffen, dass iccpr 2016 in Seoul stattfinden wird. Nach dem Ausflug ins deutsche Landleben geht es wieder in eine pulsierende Großstadt. Die dort präsentierten Beiträge werden zeigen, ob und wenn ja in welcher Weise der Kontext die Inhalte zu beeinflussen vermag.
Uns bleibt, uns bei den VeranstalterInnen für die wunderbare Gastfreundschaft zu bedanken: Bis auf das Wetter hätte der Wohlfühlfaktor nicht größer sein können. Das Landleben hat schon was.
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