Das Ende der „Hochkultur“ ist der Anfang von „Vermittlung von Kunst und Kultur“
Als Zuhörer bei diversen kulturpolitischen Fachveranstaltungen der letzten Zeit fiel mir auf, dass der Begriff „Kunstundkultur“ immer mehr in Mode kommt. Mich erinnert diese rhetorische Figur an Parteiveranstaltungen, auf denen die Sprecher die wiederholte Anrede des Publikums gerne zum Wortungetüm „GenssnundGenossen“ verkürzen.
Im Kulturbereich – so meine Vermutung – geht es weniger um agitatorische Verkürzung als um den Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit (um nicht zu sagen Schlampigkeit), die ungewollt deutlich macht, wie schwer sich selbst Kulturschaffende – auch wir bei EDUCULT – untereinander tun, das halbwegs konzis zu bezeichnen, wovon die Rede ist.
Das Dilemma der Begriffsklärung
Keine Angst, ich habe an dieser Stelle nicht vor, Sie mit einem weiteren Definition- und Abgrenzungsversuch in der unendlichen Reihe von diesbezüglichen Suchbewegungen zu langweilen. Zu unterschiedlich sind wohl mittlerweile die individuellen Denk- und Erfahrungshintergründe, die diese Begriffe mit je besonderen Inhalten ausfüllen.
Meine Frage geht vielmehr dahin, ob diese alles abdecken wollende und doch schwammig bleibende Wortschöpfung „Kunstundkultur“ nicht doch auf ein Gemeinsames verweist. Und wenn ja (ansonsten könnte man sich ja streng genommen überhaupt nicht miteinander verständigen), ob sich das derart Bezeichnete am ehesten am historisch gewachsenen Kulturbetrieb, damit vorrangig an Theater- und Opernhäusern, Konzertsälen und Museen, allenfalls noch Kinos und Literaturhäusern festmachen lässt. Ihnen allen ist gemeinsam, dass dort Kunst auf professionelle Weise ausgestellt, dargestellt und auch vermittelt wird.
Dieser Kulturbetrieb hat in den letzten Jahren eine beeindruckende Ausweitung erfahren und umfasst heute auch solche Initiativen und Einrichtungen, die ursprünglich angetreten sind, sich mit sub- und gegenkulturellen Ansprüchen gegen die überkommenen Kulturinstitutionen abzugrenzen. Heute gehören sie dazu und sind damit in der Regel auch Gegenstand kultpolitischer (Förder-)Maßnahmen.
Sie alle bilden heute den Kern dessen, was man als reflektierte KulturbürgerIn nicht mehr als solches bezeichnen darf, nämlich als „Hochkultur“. Stattdessen heißt es bei den Insidern nunmehr scheinbar unverfänglich „Kunstundkultur“. (Nach unseren Studien haben diejenigen, die sich weniger intensiv oder gar nicht mit dem Kulturbetrieb beschäftigen, da weniger Probleme. Für sie existiert „Hochkultur“ weiterhin und erklärt bei der Gelegenheit gleich auch mit, dass sie nichts damit zu tun haben).
Womit wir auch schon beim eigentlichen Problem angelangt wären, dass darin besteht, dass dem hochkulturelles Paradigma vor allem aus soziologischer Sicht unterstellt wird, „Kultur“ vor allem zur sozialen Diskriminierung einzusetzen. „Hochkultur“ als ein Kampfbegriff also, der darüber entscheidet, wer dazu gehört und damit als sozial privilegiert gilt und wer nicht. Dazu der Kulturredakteur der Zeit Jens Jessen: „Der Begriff der Hochkultur sortiert das Publikum“.
Ganz offensichtlich will das Wortungetüm „Kunstundkultur“ diesbezügliche verfängliche Konnotationen vermeiden – und meint doch unausgesprochen dasselbe. Auch bei „Kunstundkultur“ wird ein bestimmtes (Bildungs-)Niveau vorausgesetzt.
Der alte Vorwurf: „Hochkultur“ als soziales Selektionsinstrument
Diese Ansprüche haben sich zumindest die NutznießerInnen von „Hochkultur“ die längste Zeit klar und deutlich auszusprechen getraut. Ihre elitistischen Vorstellungen versuchten sich mit dem Begriff der „Massenkultur“ abzugrenzen, die vor allem aus kommerziellen Erwägungen produziert wurde, um all diejenigen, denen der Zugang zur Hochkultur zu mühsam erschien, zu unterhalten und zu zerstreuen.
Und so spiegelte sich im Kulturbetrieb die herrschende Klassenlage, wonach sich die Bourgeoisie an der Spitze der Gesellschaft mit staatlicher Unterstützung an der „Hochkultur“ erfreuen durfte, während die breite Masse der Proleten auf das kommerzielle Angebot der Kulturindustrie verwiesen war. Vereinfacht: „Kultur“ für die da oben und Unterhaltung für die da unten.
Nun hat sich die Klassenlage in den letzten Jahren nachhaltig verändert. Gesellschaftliche Hierarchien existieren wohl weiterhin, aber sie sind diffuser und unübersichtlicher geworden. Dazu kommt, dass in entwickelten Demokratien Unterscheidungen zwischen hoch und niedrig grundsätzlich verdächtig erscheinen und zwangsläufig unter Ideologieverdacht stehen. Ihr Maßstab ist die Gleichheit, auch im Bereich der kulturellen Ausdrucksformen, wenn schon nicht des Zugangs so zumindest der Zugangschancen.
Und so träumen wir von einem nicht hierarchischen, vielfältigen Kulturgeschehen, an dem alle gleichermaßen mitwirken können sollen. Das Problem: die früheren Wahrzeichen der Hochkultur existieren weiterhin – und sie bieten nach wie vor dasselbe Programmangebot wie zu der Zeit, als dort eine selbstreferenzielle Elite Selbstvergewisserung betrieb.
Sie haben alle bisherigen Kulturkämpfe überdauert, auch wenn selbst höchst prominente RepräsentantInnen der „Hochkultur“ wie der französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez schon einmal davon gesprochen haben, es sei hoch an der Zeit, „die heiligen Kühe zu schlachten“.
Der Kampf gegen die sozialen Desintegrationsleistungen der „Hochkultur“ durchzieht das gesamte 20. Jahrhundert. Ihre frühen WortführerInnen verfolgten durchaus unmittelbar (sozial-)politische Interessen, wenn sie versuchten, die Lebenswelt auch derer, die sich nicht der Bourgeoisie zurechnen, kulturell aufzuladen und mit der Entwicklung eigenständiger gegenkultureller Ausdrucksformen – als eine Voraussetzung ihrer Politisierung – ihr Selbstwertgefühl zu steigern.
Weniger radikal verfuhren die VerfechterInnen einer „Kultur für alle“-Bewegung, die sich in den 1970er Jahren darauf beschränkten, auch den bisher ausgeschlossenen Klassen den Zugang zur traditionellen „Hochkultur“ zu eröffnen, freilich ohne die Einrichtungen der Hochkultur und ihre Programmierung noch einmal nachhaltig in Frage zu stellen. Nix mit Schlachten also.
Soll das „Oktroy der Hochkultur“ durch „anything goes“ als Ausdruck von kultureller Beliebigkeit außer Kraft gesetzt werden?
Vor dem Hintergrund dieser Kulturkämpfe hat sich mittlerweile ein, vor allem soziologisch gerichtetes Kulturverständnis breitgemacht, das jegliche Lebensäußerung von Menschen gleichermaßen wertfrei zur Kultur erklärt. Herausgekommen ist ein scheinbares „anything goes“, das mit der massenhaften Durchsetzung der digitalen Medien, die mancherorts als das kulturelle Leitmedium schlechthin firmieren, nochmals an Dynamik gewinnt.
Nach diesen soziologischen Befunden reihen sich die verschiedensten Subkulturen von SportlerInnen, TechnikerInnen, TierzüchterInnen, WirtshausgeherInnen, ViolinvirtuosInnen oder OpernbesucherInnen scheinbar nahtlos aneinander. Jedem/r Bürger/in stünde es demnach völlig frei, der einen Szene anzugehören und der anderen nicht. Und so lassen sich über all diese kulturellen Einzelszenen treffliche kulturwissenschaftliche Studien erstellen, ohne dass sich daraus noch irgendwelche tiefer gehenden politischen Schlussfolgerungen ziehen ließen.
Als einen unmittelbaren Ausdruck habe ich eine Beschreibung einer Diskussionsveranstaltung gefunden, die im Rahmen eines europäischen Kulturkongresses in Wrozlaw stattgefunden hat. Dort heißt es:
"We can easily say that modern culture has billions of contributors. With internet access, anyone can produce cultural products and have an immense distribution system at their fingertips: multimedia platforms, social networks, online communities, and an immense number of blogs are all part of a gray area of culture created spontaneously, without interference from the authorities or any kind of strict cultural policy"
In der Tat bringt diese Form der scheinbaren Pluralisierung der kulturellen Szenen die nationalen Kulturpolitiken unter beträchtlichen Druck. Immerhin widmet der Staat nach wie vor den Großteil seiner nationalen Kulturbudgets der Aufrechterhaltung des Betriebs der traditionellen Hochkultureinrichtungen, auch wenn er damit immer weniger in der Lage ist, dem Gros der Bevölkerung den Begriff der „Hochkultur“ weiterhin unhinterfragt vorschreiben zu können. Dies umso weniger, als jeder Besuch eines Hochkulturevents unmittelbar deutlich macht, dass dort ungebrochen ein bourgeoises, zunehmend neureiches Publikum versucht, sich selbst darzustellen und unter sich zu bleiben. Kein besserer Beweis als die „Seitenblicke“ zur Festpielzeit, die eindrucksvoll davon berichten, dass die soziale Selektion weiterhin funktioniert.
Diejenigen aber, die da nicht dazu gehören, vielleicht auch gar nicht dazu gehören wollen, haben sich mittlerweile vom Oktroy der Hochkultur weitgehend sanktionslos emanzipiert. Sie sind Zeugen dafür, dass es sich auch ohne „Hochkultur“ ganz gut leben lässt. Sie zelebrieren stattdessen ihre Moden und Lifestyles (ohne in der Regel wahrzunehmen, wie sehr die Ästhetiken dieser Moden aus dem Fundus der Hochkultur zehren). Für sie sind Begrifflichkeiten wie „Hochkultur“ oder auch „Kunstundkultur“ weitgehend obsolet geworden. Als versierte Akteure auf den Kulturmärkten sind sie überzeugt, ohne weitere kulturpolitische Begleitmaßnahmen durch den Staat auskommen zu können.
Die Nationalstaaten haben aus dieser Ausdifferenzierung der kulturellen Szenen unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen. Am weitesten vorgewagt haben sich liberale kulturpolitische Konzepte, vor allem in Großbritannien während der Labour-Ära. Sie haben sich vom Primat der „Hochkultur“ explizit verabschiedet und überließen dem Markt (und der dort verhandelten Nachfrage), welche Formen der kulturellen Produktion sich künftig durchsetzen werden und welche nicht.
Ihre Propagandisten hatten sich weitgehend vom Anspruch verabschiedet, die Teilhabechancen für bislang vernachlässigte Zielgruppen an „Kunstundkultur“ zu verbessern. Sie trieb stattdessen die Förderung von Kreativität und damit die Förderung der Selbstgestaltungskräfte möglichst aller BürgerInnen um; ein Umstand, der vor den hochgespannten Erwartungen gegenüber den „creative industries“ „creative education“ zum Mantra der dortigen kulturellen Bildung hat werden lassen.
Die erst jüngst erfolgte Umwandlung des Scottish Arts Council in den Scottish Creative Council ist dafür ein später Beleg.
Ein spätes Lob der „Hochkultur“
Anders die Entwicklung in Ländern wie Deutschland oder auch Österreich, die beide über eine weltweit unvergleichlich ausgebaute hochkulturelle Infrastruktur verfügen.
Nicht unzufällig erschien vor einigen Wochen eine Titelgeschichte in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ mit dem Titel "Hoch der Hochkultur!": Jens Jessen erklärt in seinem Artikel die „Hochkultur“ zu nicht mehr und nicht weniger als zum „Maßstab, den unsere Zivilisation nicht verlieren darf“. In seinen Überlegungen versucht er nochmals den Referenzcharakter deutlich zu machen, wonach das, was im Bereich der „Hochkultur“ gedacht, entwickelt, gemacht und gezeigt wird, Auswirkungen auf alle anderen kulturellen Szenen hat:
„Das eigentliche Wunder der Hochkultur und ihres innersten Kerns, der Künste, besteht in ihrer Übertragung bis in die letzten Winkel der Unterhaltungsindustrie hinein. Noch in dem dämlichsten Song lebt eine Modulation, die das 18. Jahrhundert fand, noch in der Bildkomposition eines Trivialfilms findet sich ein Reflex der alteuropäischen Tafelmalerei. Es reicht aber nicht, sich damit zu begnügen, dass sie solcherart fortleben; das Wunder wird sich nicht wiederholen, wenn die Vorbilder und ihr Maßstab nicht mehr zugänglich sind“.
Zugegeben, als ich vor ein paar Tagen eine youtube-Aufnahme eines der Konzerte gesehen habe, die die gefeierte Sängerin Anna Netrebko und ihre Freunde gegeben haben, sind mir Zweifel über diesen emphatischen Befund gekommen. Wie diese Truppe versucht, ohne jeden Genierer das musikalische Erbe auf dem Markt der Niveaulosigkeit möglichst teuer zu verscherbeln, macht deutlich, dass das Jessen’sche Verständnis von „Hochkultur“ als zentrales Labor unterschiedlichster kultureller Entwicklungen nicht durch die Konkurrenz anderer kultureller Ausdrucksformen, sondern zuallererst aus den eigenen Reihen bedroht wird.
„Vermittlung“ und der Versuch der Neubelebung des Kulturbetriebs als Ort der sozialen Integration
Wenn aber durch „Hochkultur“ weiterhin universelle Werte aufrechterhalten werden wollen, bleibt weiterhin das eingangs erwähnte Skandalon der sozialen Selektion, die durch das hochkulturelle Angebot hervorgerufen wird. Eine für sie sehr lukrative Lösung haben Netrebko und Co. gefunden, wenn sie vorgeben, „Hochkultur“ und „Massenkultur“ zu verbinden und damit alle Schichten gleichermaßen zu erreichen.
Eine andere, zugegeben mühsamere Lösung liegt in einem kulturpolitischen Paradigmenwechsel zugunsten von Vermittlung.
Wenn – und vieles deutet darauf hin – „Hochkultur“ als ein verbindliches Wertesystem in entfalteten Demokratien staatlicherseits nicht mehr einseitig dekretiert bzw. durchgesetzt werden kann, dann bedarf es geeigneter Orte, an denen diesbezügliche Wertvorstellungen zwischen ProduzentInnen und RezipientInnen neu entwickelt werden können.
Dabei geht es um die Begründung eines Neuverhältnisses auf Augenhöhe zwischen dem Kulturbetrieb und seinen (potentiellen) NutzerInnen, die über das bourgeoise Stammpublikum hinausweisen. Damit rücken die kulturellen Kompetenzen, Erfahrungen und Erwartungen von NutzerInnen, die bislang dem etablierten Kulturbetrieb ferngestanden sind, an die Seite der künstlerischen Ambitionen der ProduzentInnen.
Die besondere Herausforderung für die Kulturpolitik liegt darin, sich nicht mehr auf die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen hochkulturellen Betriebsstrukturen beschränken zu können, sondern künftige Schwerpunkte an der Schaffung von Öffentlichkeiten zur Vermittlung zwischen ProduzentInnen und RezipientInnen mit ihren unterschiedlichen sozialen, kulturellen oder ethnischen Hintergründen auszurichten. Ihr erster Auftrag orientiert sich vor allem daran, zwischen den Interessen der ProduzentInnen und denen der RepzipientInnen als glaubwürdiger Broker zu vermitteln. Und das in Form einer glaubwürdigen Einladung, sich einzulassen und mitzuwirken.
Entscheidend erscheint dabei der Prozess des Ausverhandelns. In dem Maß, in dem RezipientInnen aktiv in den Entstehungsprozess dessen, was „Kunstundkultur“ alles beinhalten kann und soll, eingebunden werden, sehen sie sich in der Lage, darin einen Wert für sich und für andere zu erkennen.
Es geht also um eine nachhaltige Verbesserung der Kommunikation im Kulturbereich, die wesentlich über die Qualität und gesellschaftliche Verbindlichkeit des Nachfolgeprojektes von „Hochkultur“ entscheiden wird, um das zu retten, was nach Jessen von universeller Bedeutung ist. Dabei gilt es – auf zum Teil schmerzliche Weise – zu lernen, dass es in demokratischen Gesellschaften nicht mehr möglich ist, dass die einen den anderen sagen, was von kultureller Relevanz ist und was nicht.
Die Qualität dessen was unter „Kunstundkultur“ verhandelt wird, bemisst sich an der Tiefe und Reichweite der Mitsprache all der Menschen, deren Interessen zu vertreten der eigentliche Inhalt von Kulturpolitik ist.
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