
Das Böse in uns
So schnell kann es gehen. Noch vor wenigen Tagen waren die Medien vorrangig mit der Darstellung aller noch so kleinsten Details der Attentate eines norwegischen selbsternannten Heilands und ihrer umfassenden Interpretation beschäftigt. Auf ihrer Spurensuche nach der Begründung seiner Taten wurden sie in einer Spurensuche nach dem „Bösen in jedem von uns“ fündig. Schon kurz darauf aber hat uns mit voller Härte wieder der europäische Alltag erreicht, den die veröffentlichte Meinung in sich überstürzenden Meldungen als eine Mischung aus finanzwirtschaftlicher Endzeitstimmung und politischer Unentschiedenheit, um nicht zu sagen Selbstaufgabe zu zeichnen versuchen.
Unentschiedenheit jedenfalls kann man Anders Breivik nicht vorwerfen. Er hat sich offenbar akribisch sowohl theoretisch-konzeptiv als auch praktisch-organisatorisch auf seine Taten vorbereitet. Das Verstörende liegt demnach in der Präzision, mit der die Aktion abgelaufen ist; mindestens ebenso aber in seinen Begründungen, für die er für keinen neuen gesellschaftspolitischen Überbau keine kreieren musste sondern sich dafür vielerlei Versatzstücken christlich-konservativer Wertvorstellungen bedienen konnte.
Religion als Ursprung von Liebe UND Hass
In diesem Zusammenhang tauchte in Interviews mit ExpertInnen immer wieder die Frage auf, wie es möglich ist, sich zur Legitimation für die massenhafte Vernichtung von Menschenleben auf die christliche Religion universeller Nächstenliebe zu beziehen. Im Versuch einer Beantwortung wurde rasch deutlich, dass es neben dem Anspruch auf Caritas noch andere Aspekte, vor allem eines christlichen Wertekonservativismus gibt, der sich nicht darauf beschränkt, alle Menschen gleichermaßen zu lieben sondern seine Berechtigung aus dem Umstand göttlicher Auserwähltheit und damit der Überlegenheit des eigenen Glaubens vor allem gegenüber dem Islam zieht (um mit diesen Attributen ausgestattet im Ernstfall anderen das Lebensrecht zu- aber auch abzusprechen). Dazu gehört auch traditionelle Abwehr gegenüber moderner Errungenschaften des liberalen Rechts- und Wohlfahrtsstaates wie demokratische Mitwirkung aller BürgerInnen an Entscheidungsprozessen oder Gleichberechtigung der Geschlechter. Dagegen hält gegen vor allem die katholische Kirche unbeirrt ein starres gerontokratisches Männerregime aus vormodernen Zeiten aufrecht.
Als solches sind entscheidende Vertreter des europäischen Christentums bis heute stolz, das europäische Abendland vor der islamisch-türkischen Gefahr gerettet zu haben (ganz in diesem Sinn gedachte der damalige Papst Johannes Paul II während seines Österreich-Aufenthaltes im Herbst 1983 am Wiener Leopoldsberg derer, „die moralisch oder finanziell zum Siege und zur Rettung des Abendlandes beigetragen haben“). Darüber hinaus hat die Kirche sich bislang standhaft geweigert, ihr – dem Prinzip der Nächstenliebe völlig widersprechendes – Nahverhältnis mit einer Reihe europäischer Diktaturen wie dem Franko-Regime, dem Austrofaschismus und auch dem Nationalsozialismus aufzuarbeiten.
Das sind nur ein paar Indizien dafür, dass sich Breivik in Vorbereitung seiner Taten auf tief verwurzelte gesellschaftspolitische Wertvorstellungen beziehen konnte, die auf christlich-konservativen Ideologien aufruhen und daher mit Mitteln der seit zehn Jahren grassierenden Islamkritik nur sehr unvollständig beschrieben werden können.
Breivik als gewaltbereiter Antieuropäer
Diese bezieht ihre Energie ja in erster Linie aus den Attentaten vom September 2001, die – angestachelt von George W. Bushs politischem Kampfruf vom „Krieg gegen das Böse“ – den Wunsch nach undifferenzierter Vergeltung gegenüber allen Muslimen speisen. Dieser Logik folgend wäre zu erwarten gewesen, dass Breivik sich auf den Weg nach Kabul, Islamabad, Bagdad, Ankara, Riad, Kairo oder Casablanca macht oder ein muslimisches Asylantenheim irgendwo in Europa auserwählt, um dort seine tödlichen Phantasien auszuleben.
Aber nein, er folgt in Umsetzung seiner Strategie zur Erzeugung eines maximalen Schadens genau den Vorstellungen seiner vorgeblichen Gegner in Gestalt gewaltbereiter Islamisten, die als Selbstmordattentäter in den letzten Jahren viele tausend ihrer „Mitbrüder“ nicht irgendwo in Europa sondern in islamischen Zentren umgebracht haben. Als solche haben sie deutlich gemacht, dass sie – auch wenn in London und Madrid vereinzelt Anschläge (auch) mit muslimischen Opfern stattfanden – ihre Feinde nicht vorrangig irgendwo in Europa oder in den USA ausmachen sondern in den eigenen Ländern, denen sie mit ihren Taten einen religiös-fundamentalistischen Stempel aufdrücken wollten
Als wesentliche Unterschiede zu den Anschlägen von Breivik fällt auf, dass die Attentäter in arabischen Ländern bereit waren, auch ihr eigenes Leben zu opfern und dabei namenlos geblieben sind. Sie haben sich als Gesandte auf eine professionelle Ausführung ihrer Aufträge beschränkt und die Veröffentlichung dazu gehörender Botschaften den sie entsendenden Organisationen überlassen. Diese haben europäische Mediennutzer in der Regel überhaupt nicht zur Kenntnis genommen; darüber hinaus begnügten sich die Medien, in Anbetracht der schieren Häufigkeit der blutigen Attentate diese zu irrelevanten Randnotizen zu verkürzen. Jedenfalls führte die Information, dass sich im Nachkriegs-Irak wieder ein heiliger Krieger in die Luft gesprengt und damit hunderte Menschen in den Tod mitgerissen habe, nicht dazu, dass wir uns bei der Gelegenheit auf eine umfassende Introspektion zur Verortung des Bösen in uns gemacht hätten. Die Wahrheit ist: Die Meldung ist uns nach einer entsprechenden Gewöhnungsphase da hinein und dort wieder hinaus gegangen, ohne dass wir uns weiter darüber aufgeregt hätten.
Die Wahrnehmung von toten EuropäerInnen – und den anderen
Die offensichtliche Ungleichheit der Rezeptionsweisen lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Eine positive Interpretation suggeriert eine tiefere Verankerung einer gemeinsamen europäischen Bürgerschaftlichkeit als aktuelle Umfragen vermuten lassen. Demnach haben die EuropäerInnen die Opfer von Oslo als ihresgleichen wahrgenommen und sich mit ihnen identifiziert. Die weniger positive Interpretation läuft auf eine nach wie vor bestehende Minderwertigkeit von muslimischen Opfern außerhalb Europas, namentlich IrakerInnen, AfghanInnen oder SaudiarabierInnen hinaus, die als solche nicht als ebenbürtig erkannt werden, um ihnen eine vergleichbare Aufmerksamkeit oder gar Mitgefühl zuteil werden zu lassen.
Mit Breivik, der es bei aller Islamkritik offensichtlich gar nicht auf Muslime abgesehen (auch wenn unter den Opfern zahlreiche EinwanderInnen bzw. deren Kinder sind) hat, ist das anders. Mit ihm ist dem renommierten Islamforscher Stefan Weidner in seinem Beitrag „Die anderen sind wir selbst“ nach dem Buchtitel von Udo Ulfkotte aus 2003 „Krieg in unseren Städten“ angekommen. Denn, auch wenn sich dieser moderne Kreuzritter immer wieder auf den anti-islamistischen Diskurs bezieht, seine Taten weisen ihn zu aller erst als europäisches Pendant des islamistischen Fundamentalismus aus. Beiden Extremismen gilt die eigene Gesellschaft als vorrangiger Gegner. Der Unterschied zur bisherigen Praxis liegt weniger in der Idologie als in der Geographie. Im Fall Breivik heißt der Gegner Europa, heißt er Westen und die von ihm vertretenen Werte.
Nach Weidner ist ihm Islam nur die überstrapazierte Bande, über deren Umweg die Kugeln der Kritik die eigene Gesellschaft anstoßen sollen, die nicht in dem Zustand ist, wie er sie sich wünscht. In dem Sinn war ihm Tilo Sarrazin ein guter, wenn auch zugegeben noch nicht gewaltbereiter Vorläufer, als dieser versuchte, eine umfassende Kulturkritik (wachsende Egozentrik und Werteverfall, Ineffizienz des Sozialstaates, Krise des Bildungswesens,…) zu einer verengten Islamdebatte umzufunktionieren.
Konsequenzen aus Breiviks gewaltsamer Gesellschaftskritik: Mehr Demokratie in Norwegen – weniger Demokratie in Österreich
Die Politik in Norwegen hat diese Botschaft durchaus verstanden. Alle wesentlichen öffentlichen Äußerungen liefen darauf hinaus, gerade jetzt die gesellschaftlichen Errungenschaften eines demokratisch und liberal verfassten Staates nicht zurückzunehmen oder gar in Frage zu stellen; vielmehr den Anlass dafür zu nutzen, im Sinn der politisch engagierten, vorwiegend jugendlichen Opfer diese Errungenschaften zu verteidigen und weiter auszubauen.
Ganz anderes die politischen Reaktionen in Österreich; im rigidesten Einwanderungsland Europas sprachen sich vom Bundeskanzler angefangen sich die wesentlichen Akteure für weitere Verschärfungen der sicherheitpolizeilichen Maßnahmen aus. Und so sahen sich die Rechtsextremen, aus deren ideologischen Fundgrube Breivik so ausgiebig zu schöpfen vermochte, unverhofft in der komfortablen Lage, sich auf die Behauptung beschränken zu können, mit all dem aber schon gar nichts zu tun zu haben.
Polemisch vereinfachend ließe sich formulieren, dass damit Breivik auf Grund eines hierorts ideologisch bereits wesentlich besser aufbereiteten Bodens mehr zu bewirken vermochte als in seinem Heimatland, das auf Grund seiner Taten 77 Tote zu beklagen hat.
Der Verlust des Polititischen ist der Gewinn des Spekulativen
Das Traumatische an diesem Beginn einer neuen Phase antimodernen, antidemokratischen und antiliberalen Werten verpflichteten Terrors in Europas Städten ist die weit verbreitete Einschätzung, die für das Gelingen des Zusammenlebens notwendigen politischen Verkehrsformen hätten ihre Wirksamkeit verloren. Erst unter dem Eindruck eines generellen postdemokratischen Skeptizismus, der die sichtbare Unfähigkeit, bestehende zivilisatorische Standards mit politischen Mitteln aufrecht zu erhalten, reflektiert, wird verständlich, dass eine solche Tat – ganz nach den Wünschen Breiviks – überhaupt als eine politische diskutierbar wird.
Unter funktionierenden Bedingen würde Breiviks Anschlag rasch als das rubriziert, was er ist, als eine kriminelle Handlung, für die entsprechende staatlich vorgegebene Sanktionen vorgesehen sind. Statt dessen aber werden wir eingeladen, uns auf die Suche nach unserem je eigenen Bösen zu machen, das es – und wer wollte es leugnen – sehr wohl gibt; gegen dessen Aktutwerden die nationalen Gesellschaften aber ein Set von zum Teil hart erkämpften Normen entwickelt haben, um damit einen bindenden Orientierungsrahmen für bürgerliches Handeln abzugeben.
Opfer von Gewalt Nein – Opfer von Spekulation Ja?
Mir scheint, dass dieser Orientierungsrahmen brüchig zu werden beginnt. Ansonsten wäre nur schwer zu erklären, warum heute einzelne Spekulanten weitgehend staatlich sanktionslos in der Lage sind, Wetten gegen ganze Volkswirtschaften abzuschließen, ohne dass die Politik noch in der Lage wäre, diese Taten wirksam zu bekämpfen. Offenbar haben sich die europäischen Wertvorstellungen in Richtung Entsolidarisierung bzw. Primat des Eigennutzes bereits soweit verschoben, dass wir diese Anschläge auf die nationalen Gemeinschaften (oder was davon noch übrig ist) als den Normalfall ansehen.
Der Schaden, den diese Krisengewinner – völlig legal – verursachen, übersteigt bei weitem den Blutzoll, den die Opfer Breiviks zu entrichten hatten. Ungezählt das Leid derer, die in ganz Europa in diesen Tagen angesichts eines kollabierenden Finanzmarktes in Perspektivlosigkeit, Armut, Not und Selbstmord getrieben werden. Ihr Leid bedarf keines fiktiven Gegners in Gestalt irgendwelcher Islamisten. Was ihnen widerfährt, ist vorgeblich ihre ganz eigene Schuld. Oder noch simpler: Neoliberalen Wertvorstellungen entsprechend haben sie einfach Pech gehabt.
Gegen dieses massenhaft individuelle „Pechhaben“ ist der marktwirtschaftlich verfasste Wohlfahrtsstaat einst gegründet worden. Dieses historische Wissen scheint angesichts eines entfesselten Neoliberalismus aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden zu sein.
Auf der Suche nach dem Bösen – oder doch eher nach dem Guten?
Statt dessen hanteln wir uns von einem medialen Überfall zum nächsten. Und so bringt an einem Tag ein christlicher Fundamentalist Duzente Menschen um und gibt als Grund die Existenz politisch und religiös Andersdenkender an. Am nächsten Tag setzen sich Spekulanten (als „Täter“ bleiben sie wie die islamistischen Selbstmordattentäter gerne anonym) völlig marktkonform über bestehende zivilisatorische Normen hinweg, gewinnen damit riskante Wetten gegen ganze staatliche Gemeinwesen und stürzen mit ihren Handlungen eine Vielzahl der Opfer von Oslo ins Elend.
In einem Fall machen wir uns auf die Suche nach dem Bösen in uns; im anderen Fall warten wir einfach, wie es weiter geht.
Immerhin: Im Gedenken an die Opfer von Oslo könnten wir uns auf die Suche nach Alternativen machen und unser bisheriges Wohlverhalten zur Aufrechterhaltung eines Zustands, der all dies hervorbringt und den wir dennoch für weitgehend normal halten, überdenken.
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