
Das Ende der Demokratie ist das Ende Europas
Die Zeiten sind beunruhigend. Ich gebe zu, dass mich in diesem Sommer mit den alarmierenden Berichten zu den Krisen in aller Welt eine Unruhe erfasst hat, die ich nur mit anschwellender Angst beschreiben kann. Es ist, als zwänge mich das Geschehen als ein Privilegierter, der nie einen Krieg erlebt hat, vom luxuriösen Beobachterhochstand herunter zu steigen und (endlich) zur Kenntnis zu nehmen, dass da etwas passiert, was ganz unmittelbar mit mir zu tun hat.
In der jüngsten Ausgabe der Zeit findet sich ein Beitrag von Bernd Ulrich mit dem Titel „Die Welt ist verrückt – und was machen wir?“ Ja, was machen wir, wenn wir erfahren, dass weltweit Entwicklungen in Gang sind, die drauf und dran sind, das, was wir uns bemühen, als kulturelle Selbstbeschreibung zu verhandeln, nachhaltig zu beeinflussen. Und das, ohne dass sich eine Politik abzeichnen würde, die mit den Bevölkerungen einen mutigen Dialog über die Tragweite der sich abzeichnenden, geänderten Kräftebehältnisse begänne oder gar auch nur halbwegs überzeugende Lösungsvorschläge anbieten könnte?
Bereits 2013 initiierte die European Cultural Foundation einen Dialog zwischen Brasilien, China und Europa mit der beziehungsreichen Fragestellung „The Dwarfing of Europe?“. In der Dokumentation findet sich u. a. folgendes Statement: „For centuries Europe considered itself to be the centre of the world. Many of the concepts and institutions that have shaped the Western world – in politics and economics, in philosophy, the arts and literature – have a strong European imprint. […] Over the course of the bellicose 20th century, Europa lost its predominance for ever“.
Der demokratisch verfasste Staat ist eine Kulturleistung
Diese Aussage konnte man in der Hochzeit des „arabischen Frühlings“ und den damit verbundenen Hoffnungen auf alsbaldige Demokratisierung bislang (nur zu oft mit westlicher Unterstützung) autoritär regierter Gesellschaften noch als einen überzeichnenden kritischen Appell, allenfalls als Aufforderung, sich am Riemen zu reißen, interpretieren. Heute scheint von diesen Hoffnungen nur mehr wenig übrig geblieben zu sein. Ganz offensichtlich verliert das europäische Modell der repräsentativen Demokratie mit seinen Attributen der Wahrung der Menschenrechte, der Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Schutz von Minderheiten, Trennung von Kirche und Staat oder von Reich zu Arm umverteilender Wohlfahrtstaatlichkeit immer mehr an Attraktivität und wird durch autoritäre Herrschaftssysteme – von denen sich zumindest einige der bereits überwunden geglaubten politischen Bedeutung der Religion bedienen – abgelöst. China, Russland, die Türkei – nicht zu reden von den meisten arabischen Ländern, die nach einigen kurzen Wochen der Demokratie-Euphorie zwischen Staatszerfall und Terrorherrschaft pendeln – überbieten sich in der Beweisübernahme, dass Europa kulturell am Ende ist. Noch vor kurzem waren es (nur) die ertrinkenden Bootsflüchtlinge am südlichen Rand des Kontinents, die uns daran erinnert haben, dass anderswo etwas nicht in Ordnung ist, um danach wieder zur normalen Tagesordnung zurückzukehren. Jetzt sind es bewaffnete Verbände, in diesem Fall aus Russland, die die Überlegenheit des Modells Europa an seinen Grenzen herausfordern und PolitikerInnen beim jüngsten EU-Gipfel davon sprechen lassen, dass „sich Russland im Krieg mit Europa“ befände.
Vorbei – zumindest vorerst – mit dem friedlichen Wettstreit unterschiedlicher Organisationsformen des Zusammenlebens, aus dem – so unsere für viele Jahre weitgehend kritiklos vorangetragene Selbstgewissheit – quasi naturnotwendig europäische Vorstellungen des demokratischen Zusammenlebens den Sieg davon tragen würden.
Demokratie in der Defensive – und was auf uns zukommt
Die Situation erweist sich, jedenfalls für mich, als besonders prekär, weil auch in Europa selbst die Bereitschaft zur Verteidigung und Weiterentwicklung demokratischer Verhältnisse dramatisch schwindet. Bereits seit geraumer Zeit zeigen sich die Wirkungen eines populistischen Diskurses mit zum Teil drastisch antidemokratischen Zügen, die vorgeben, den Menschen nach dem Mund zu reden, den sie zuvor mit rassistischem oder europafeindlichem Wortmüll zugeschüttet haben. In einer Reihe europäischer Länder haben diese Kräfte ein beträchtliches und über die Krise hinweg zumindest stabiles WählerInnen-Reservoir entwickelt, in anderen, wie in Österreich oder Frankreich sind sie drauf und dran, als jeweils stimmenstärkste Partei Regierungsverantwortung zu übernehmen und damit „Demokratie“ wie wir sie kennen, nachhaltig zu beschädigen, wenn nicht gleich ganz abzuschaffen. Im Detail studiert werden können die erwartbaren Konsequenzen am Beispiel Ungarns, dessen dominierende Figur Viktor Orbán sich als Repräsentant einer, dem russischen Modell verpflichteten „illiberalen Demokratie“ im Herzen Europas beschreibt und damit nicht nur die Kulturszene des Landes nachhaltig verändert.
Da oder dort muss es aber gar nicht zum Äußersten kommen. Dort wo etwa der österreichische Paradepopulist Jörg Haider einmal gemeint hat, er würde die etablierten Parteien „mit einem nassen Fetzen vor sich her treiben“ sind diese zunehmend bereit, ihr demokratisches Selbstverständnis zum eigenen Machterhalt neu zu interpretieren. So meinte zuletzt der niederösterreichische Landeshauptmann, der sein Land seit vielen Jahren mit absoluter Mehrheit regiert, in der Bevölkerung bestünde eine „Sehnsucht nach Autorität“, die es politisch (endlich) zu befriedigen gälte. Kein Wunder also, wenn zuletzt Gesellschaftsanalysen erscheinen, die, ob aus österreichischer oder deutscher Sicht, die „Demokratie in der Defensive“ sehen.
Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf und die Öffentlichkeit schweigt
Einen der zentralen Gründe für die schleichende Entdemokratisierung orte ich in der wachsenden sozialen Desintegration der europäischen Gesellschaften. Ich habe schon mehrmals auf den völligen Irrwitz hingewiesen, dass die führenden EntscheidungsträgerInnen meinen, dem Kontinent eine Jugendarbeitslosigkeit von mehr als der Hälfte der Altersgruppe zumuten zu können. Ihre Legitimation erhalten sie aus dem Umstand, dass diese Form der Produktion kollektiver Perspektivlosigkeit von den verunsicherten Bevölkerungen jedenfalls bislang ohne nennenswerten Widerstand hingenommen wird.
Es stimmt. Bereits vor der Krise gab es einen nicht unbeträchtlichen Anteil der Bevölkerung, dem der Zugang zur Gesellschaft verwehrt blieb und der folglich gezwungen war, seinen Alltag statt mit zusätzlichen Bildungsbemühungen mit Angeboten kommerzieller Unterhaltung aushaltbar zu machen. Damals gab es aber auch noch politische Kräfte, die diese Lebensumstände auf der öffentlichen Agenda hielten und als das bezeichneten, was sie sind: als einen Skandal.
Mit der Zunahme der Werte einer weitgehend individualisierten Wettbewerbsgesellschaft verstummen diese kollektiven Stimmen der Anwaltschaft, die den Betroffenen trotz aller widrigen Umstände immerhin eine sichtbare gesellschaftliche Position erkämpft haben. Heute werden die KrisenverliererInnen vor allem in Gestalt junger Männer – wie der deutsche Jugendforscher Klaus Hurrelmann meint –„sozial einfach abgehängt“ und aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt. Sie können das vorgegebene Tempo nicht mithalten und finden sich damit ab, dass es für sie keine Chancen gibt. Ihnen bleibt die schiere Aggression, die sie an unter sich ausleben können. Für den Rest verlassen wir uns auf eine zunehmend rigide Sicherheitspolitik.
Kann mir jemand sagen, warum sich Krisenverlierer für die Sachen der Demokratie engagieren sollen?
Trotz aller Ausgrenzungsversuche sind sie aber nicht völlig aus der Welt. Es gibt sie weiterhin. Wenn sie sich die Köpfe einschlagen, stehen sie sogar in der Zeitung, aber nur dann. Ich aber wäre dankbar für jeden Hinweis, der mir erklären könnte, warum sich diese Gruppe, die zuvor gesellschaftlich systematisch ausgegrenzt wurde, lustvoll, konstruktiv und mit Engagement an demokratischen Entwicklungen beteiligen sollte. Viel wahrscheinlicher ist es da schon, dass sich derart Frustrierte vorrangig denjenigen Kräften zuwenden, die sich nicht lange mit nur mühsam erzielbaren demokratischen Kompromissen aufhalten und ihnen stattdessen unmittelbare Stärke versprechen. Dazu haben sie immer einen Schuldigen für deren Misere parat – gerne in Gestalt der sich von Krise zu Krise mühsam weiterschleppenden demokratischen Kräfte.
Und plötzlich reden wir nicht mehr von den Menschen, die aus allen Weltgegenden nach Europa kommen, um an den hart errungenen demokratischen Errungenschaften des Kontinentes zu partizipieren, sondern von denen, die Europa den Rücken zu kehren, um von Verlierern zu (scheinbaren) Gewinnern beim Aufbau irgendwelcher obskurantistischer Herrschaftssysteme, die an die Zeit des Dreißigjährigen Krieges erinnern, zu mutieren. Ihr Ziel ist es, alles auszulöschen, wofür dieser Kontinent als führendes Laboratorium für alle Wertekonstrukteure eines demokratischen Gemeinwesens (inklusive seiner katastrophischen Pervertierungen) schon einmal gestanden hat.
Kulturpolitik als Movens der Demokratieentwicklung – Es war einmal….
In der Verfertigung diesbezüglicher Konzepte wollte sich einst „Kulturpolitik“ in besonderer Weise hervortun. In dem Zusammenhang ist mir zuletzt ein Sammelband mit dem Titel „Kulturpolitik als demokratische Legitimation zur Aufklärung“, der bereits 2004 erschienen ist, in die Hände gefallen. In diesem bringt der Ausstellungskurator Robert Fleck den ursprünglichen Anspruch, die Idee der Kulturpolitik mit der Entwicklung der Demokratie zu verbinden, auf den Punkt. Zugleich ortet er eine verhängnisvolle Entwicklung, nach der (auch) Kulturpolitik zunehmend dazu neige, populistischen und plebiszitären Reflexen zu entsprechen und damit diesen Zusammenhang preis zu geben. In dieser, zugegeben generalisierenden, Sicht, scheint seine Befürchtung eingetroffen zu sein: Immerhin lassen sich jetzt, zehn Jahre später, keinerlei konzeptive kultur-politischen Ansprüche mehr festmachen, die darauf hindeuten wollten, mit den Mitteln der Kultur ließen sich, wenn schon nicht Alternativen zur grassierenden Demokratiemüdigkeit schaffen, so doch ein kollektives Bewusstsein über die Gefahren, die sich aus dem sukzessiven Verfall demokratischer Errungenschaften ergeben, mobilisieren.
Stattdessen scheint der Kulturbetrieb weitgehend auf einen affirmativen, die Verhältnisse nicht mehr grundsätzlich in Frage stellenden Kurs eingeschwenkt zu sein. Der Rest ist ein Kampf ums Überleben angesichts sinkender öffentlicher Fördermittel. Und selbst diese Form der staatlichen Selbstbeschränkung muss als Ausdruck einer wachsenden politischen Skepsis interpretiert werden, deren ExponentInnen ganz offensichtlich nicht mehr daran glauben, mit Hilfe der Kultur ließe sich eine einseitig auf finanz- und wirtschaftspolitische Bedürfnisse zugerichtete Gesellschaft in signifikanter Weise beeinflussen.
Ungewollt wird Kulturpolitik zu einem aussagekräftigen Indikator für den Zustand demokratischer Gesellschaften. Und damit – das wissen wir – ist es nicht zum Besten bestellt. Das wissen auch all diejenigen, die vor den Toren des Kontinents die Chance gekommen sehen, sich in der Phase seiner Schwäche nunmehr endgültig vom Joch eines selbstgerechten Kulturimperialismus zu befreien, der in weiten Teilen der Welt das Gegenteil von dem hat entstehen lassen, was seine Propagandisten einst versprochen haben.
Wie politisch kann/will/muss kulturelle Bildung sein?
Im Moment kann ich nicht sehen, dass Europa auf diese Auseinandersetzung vorbereitet ist. Das macht Angst und evoziert doch einen Überlebenswillen, den ich mit meinen LeserInnen teilen will und der nicht zulassen will, dass die ehemals hart erkämpften demokratische Errungenschaften von außen und/oder von innen vorschnell zur weiteren Disposition gestellt werden.
Zumindest eine Ermutigung wäre es, wenn Maßnahmen der kulturellen Bildung künftig nicht vorrangig darauf ausgerichtet würden, den IQ der TeilnehmerInnen zu erhöhen oder mit Hilfe von Musik, Theater oder Tanz bessere Ergebnisse in Mathematik zu erzielen lassen. Als Alternative dazu schlage ich vor, die Beschäftigung mit Kunst und Kultur dafür zu nutzen, demokratischen Werte, auf die wir schon einmal recht stolz waren, so verhandelbar zu machen, dass sie nicht nur zu individuellen, sondern auch zur kollektiven und damit politischen Entwicklung beizutragen vermögen.
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