
„Das größte Glück besteht vielleicht darin, dass etwas unverändert bleibt“ (Tomas Espedal)
Vielleicht haben Sie auch schon einmal in einer der zahlreichen Veranstaltungen irgendwo in Europa teilgenommen, in denen „Kreativität“ als die Ressource des 21. Jahrhunderts schlechthin gepriesen wurde und vor allem eines zum Ergebnis hatte – die Schaffung von Langeweile bei den ZuhörerInnen. Kein politisches Programm in diesen Tagen, das „Kreativität“ nicht als Lösung gesellschaftlicher Probleme aller Art ankündigen würde und uns mit Hilfe wortreicher VermittlerInnen einlädt, an einem spätreligiösen Chorgesang teilzunehmen, in Rahmen dessen wir gefordert sind, bei jeder Erwähnung des Wortes „Kreativität“ mit „Wir bitten Dich erlöse uns“ zu murmeln.
Ist erst einmal das Wort „Kreativität“ in den Mund genommen, dann ist dessen siamesischer Zwilling „Innovation“ nicht weit. Mit ihrer Durchsetzung, so die landläufige Deutung, entscheide sich die Stellung der nationalen Ökonomien im globalen Wettbewerb, der ganz offensichtlich nur die Sprache des Neuen versteht und Gesellschaften ausschließlich danach beurteilt, ob und inwieweit sie in der Lage sind, an der Produktion dieses Neuen teilzunehmen.
In Österreich scheint es da nicht zum Besten zu stehen. Immerhin weist der jüngst veröffentlichte globale Innovationsindex für 2013 einen Absturz der Nationalökonomie auf Platz 23 aus. Und wie auf Kommando erheben die öffentlichen WortführerInnen ihre Stimmen, um die Zerschlagung des verkrusteten österreichischen Schulsystems zu fordern, das die Entfaltung der kreativen Potentiale der jungen Menschen als InnovatorInnen von morgen systematisch verhindern würde (zuletzt im Rahmen des Dialogforums Österreich 2050 im Parlament, wo VertreterInnen des Wissenschafts- und Forschungsbereiches versuchten, Gegenstrategien zur sinkenden Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Österreich zu entwerfen).
„Seid doch kreativ!“ als Zuruf zur weiteren Demütigung von KrisenverliererInnen
Jetzt ist das aber so eine Sache mit der „Kreativität“. Gerade dort, wo sie als Hoffnungsbegriff dazu benutzt wird, die herrschende Wirtschaftsform durch seine behauptete verlebendigende und dynamisierende Wirkung zu bestätigen, bleiben die negativen Konsequenzen systematisch ausgeklammert. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hat in seinem Band „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ bereits in den 1940er Jahren auf die destruktiven Kräfte hingewiesen, die diesen Prozess begleiten. Ihm zufolge hätte die Nutzung kreativer Kräfte nicht nur additive Wirkungen, sondern in Form von „schöpferischer Zerstörung“ immer auch destruktive, deren Konsequenzen nicht nur von den Wirtschaftsakteuren, sondern darüber hinaus von der Gesamtgesellschaft getragen werden müssen. Als Beispiel dafür mag die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa dienen, deren Auslöser nicht in einem Zuwenig an Kreativität zu suchen sind. Ganz im Gegenteil, lagen die Ursachen doch in einer politisch weitgehend ungezähmten Umsetzung ebenso kreativer wie giftiger Finanzprodukte, deren Anwendung die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen zerstört haben. Diesen bleibt es jetzt vorbehalten, mit den ihnen aufoktroyierten Verschlechterungen der Lebensverhältnisse zurande zu kommen. Der Zuruf an die jeder Lebensperspektive beraubten jungen Menschen in den Mittelmeerländern, doch kreativ zu sein, können diese nur als eine zusätzliche Demütigung wahrnehmen.
Kreativitätstraining als Einübung in den Mainstream
Bereits vor fast 20 Jahren hat sich die Bildungslegende Hartmut von Hentig systematisch mit dem Begriff der „Kreativität“ auseinandergesetzt. Schon damals ortete er „hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff“, der im schulischen Kontext eine „Innovations-Gymnastik“ implementiert habe. Deren vorrangiges Ziel bestünde darin, den SchülerInnen die Bereitschaft zu entlocken, in den Mainstream der Entwicklungen – möglichst weit vorne – einzumünden. In seiner Argumentation versuchte Hentig bereits damals nachzuweisen, dass „Kreativität“ per se gar keinen positiven Wert darstellt, vor allem dann, wenn der Begriff scheinbar befreit von Bildungszielen wie „erkennen, prüfen, verstehen oder durchhalten“ verhandelt würde. Sein Schluss: Erfindung an sich stellt keinen Wert da, wenn dieses keines Zwecks bedarf.
Schule ist auch ein Ort der Rückversicherung angesichts sich unkontrolliert verändernder Lebensverhältnisse
Apropos Zweckhaftigkeit: Gerade im schulischen Kontext wird mir immer wieder deutlich, wie doppelbödig der Ruf nach kreativen Veränderungen auf ein Schulsystem treffen muss, in dem junge Menschen zusammenkommen, deren Lebensverhältnisse in den letzten Jahren zum Teil dramatischen Veränderungen unterworfen waren und die in der Schule vor allem Sicherheit, Beständigkeit, Zu-sich-kommen-können und Akzeptanz ihres Soseins erwarten, das ihnen außerhalb in ihren Milieus unkontrollierbar akzelerierten Veränderungen längst abhandengekommen ist. Hier entstehen scheinbar unauflösbar konfligierende Aufgabenstellungen, insbesondere für LehrerInnen zwischen Herstellung von Grundvertrauen und Mitwirkungsbereitschaft, die größere erziehungswissenschaftliche Aufmerksamkeit verdienen würden.
Auch KünstlerInnen und Kulturschaffende waren zuletzt von diesem Diskurs betroffen. Ihnen stand zumindest kulturpolitisch lange Zeit das Monopol für „Kreativität“ zu, das sie über die herrschende Zweckrationalität und damit verbundener Nutzenorientierung hinauszuheben vermochte. Auf diese Weise ließen sich ihren künstlerischen Emanationen selbstzweckhaft gesellschaftlichen Wert beimessen. Es ist die Diskussion der letzten Jahre rund um die „Creative and Cultural Industries“, die diese Juxtaposition ins Wanken bringt und versucht, auch und gerade die kreativen Leistungen von KünstlerInnen in den Primat der Wirtschaft zu integrieren. Die Konsequenzen lassen sich an den inhaltlichen Formulierungen des europäischen Förderungsprogramms „Creative Europe“ unschwer ablesen.
Kreativität und die Herrschaft des kontextlosen Neuen
Es war zuletzt der Kultursoziologe aus Frankfurt an der Oder Andreas Reckwitz, der sich in seinem Band „Die Erfindung der Kreativität“ mit den Wirkungen des aktuellen Hype rund um Kreativität auseinandersetzt. In den Kulturpolitischen Mitteilungen gibt er eine lesenswerte Zusammenfassung, die eine grundlegende Veränderung in der Bestimmung des „Neuen“ innerhalb der aktuellen Verfasstheit der gesellschaftlichen Verhältnisse vermuten lässt. Das von ihm skizzierte Kreativitätsdispositiv hält sich nicht lange beim in die Jahre gekommenen Selbstverständnis moderner Gesellschaften auf, deren Dynamik in der permanenten Selbstveränderung gelegen ist. Aber auch der Anspruch, mit der Produktion von Neuem nicht nur quantitative sondern auch qualitative Sprünge und damit normative Zuschreibungen auf Verbesserung zu ermöglichen, sei mittlerweile weitgehend obsolet geworden.
Stattdessen habe sich ein Regime des Neuen breit gemacht, das den ästhetischen Reiz an sich ins Zentrum des Geschehens rückt. Quasi entkontextualisiert erscheint der ästhetische Reiz befreit von herkömmlichen Vorstellungen von Fortschritt oder gar Überbieten; seine Aufgabe besteht ausschließlich darin, eine Differenz zum Anderen bzw. eine Abweichung zum Üblichen zu markieren. Auf diese Art habe sich das Ästhetische „entgrenzt“ und finde sich nunmehr überall. Alles, was produziert werde, könnte von den Konsumenten mit scheinbar „eigenen“ Gefühlen aufgeladen und „kreativ“ in den eigenen Lebensstil integriert werden. Verhandelt würden sinnfreie „Affekt-Effekte“, die vorrangig über Ereignisse vermittelt würden: „Diese Art von massenhaften ästhetischem Erfindungsreichtum ließe die Menschen den aktuellen Zustand einer weitgehend gefühlserkalteten gesellschaftlichen Verfasstheit aushalten: „Jeder darf jederzeit in die Affekt-Welten eintreten und mitspielen. Im Meer der sich erkaltenden Systeme der Moderne ist die Kunst ein heißer Archipel“.
In einem Kommentar mit dem Titel „Soziale Ungleichheit im ästhetischen Kapitalismus“ versucht der langjährige Leiter des Deutschen Kulturrates Max Fuchs eine historische Herleitung dieses dominant gewordenen Kreativitätsdispositivs. Sein Vorzug besteht darin, der Gesellschaftsanalyse von Reckwitz sozialwissenschaftliche Befunde wie Zunahme von Armut, soziale Ungleichheit, Benachteiligung oder Ausschluss von Teilhabe gegenüberzustellen: „Gesellschaftsdiagnosen müssen daher auch darauf geprüft werden, worüber sie keine Auskunft geben, was ihre blinden Flecken sind“ und eine Ergänzung durch Erkenntnisse der Sozialforschung, die sich mit den neuen Formen von Klassengesellschaften auseinandersetzen, zu ermöglichen. (In diesem Zusammenhang ist es mir ein besonderes Anliegen, vor überzogenen Erwartungen zu warnen, wenn etwa Programme der öffentlichen Hand damit begründet werden, kulturelle Aktivitäten würden in besondere Weise Gefühle stimulieren, ohne damit verbundene allfällige Wirkungen zu berücksichtigen).
Kreative Bildung als Formung eines neoliberalen Subjekts?
Es ist nur zu selbstverständlich, dass dieser ästhetische Diskurs Auswirkungen auf kulturelle Bildung hat. Immerhin sind damit zusammenhängende Erwartungen besonders affektgeladen, wenn es um den Nachweis positiver Wirkungen geht. Diesen stellt Max Fuchs eine „Nachfrage zur Seite“, ob sich affirmativ vermittelte kulturelle Bildung im ästhetischen Kapitalismus nicht ungewollt als Instrument der neoliberalen Formung des Subjekts erweist. Um dieser Falle zu entgehen, plädiert er für vermehrte Anstrengungen zur Dekonstruktion des herrschenden Diskurses. Voraussetzungen sind ihm dafür: eine Rückkehr bzw. Verstärkung des kritischen Elements in der Erziehungswissenschaft (vor allem wenn es zur Überwindung des herrschenden Advocacy Approaches um eine hinreichend konzeptive Begründung des Fachzusammenhangs kulturelle Bildung geht); darüber hinaus eine Rückkehr des historischen Bewusstseins sowie des politischen Denkens in der Kulturpädagogik.
Er weiß sich darin weitgehend eins mit den kulturpolitischen Schlussfolgerungen von Andreas Reckwitz. Angesichts der aktuellen Dominanz einander gegenseitig stützender Prozesse von Ästhetisierung, Ökonomisierung und Medialisierung empfiehlt er in Gestalt einer Neuformulierung des Konzepts der Soziokultur einer „Kreativität ohne Publikum“, Skepsis gegenüber dem Mythos des ästhetisch und künstlerisch Neuen zugunsten von kultureller Nachhaltigkeit und die Stärkung der Politisierung gegenüber der Ästhetisierung. Anstatt die Verquickung von Ästhetisierung und Ökonomisierung, die ohnehin bereits stattgefunden hat, weiter zu befördern, sollte sich staatliche Kulturpolitik (und ihre Realisierung in Form kultureller Bildung) für eine alternative Logik stark machen, die sich in der Pflicht weiß, der Überhitzung des Kreativitätsdispositivs nicht weiter voranzutreiben, sondern ganz im Gegenteil ihr entgegenzuwirken und dafür gesellschaftliche Anker auszuwerfen, die nicht nur der Kunst in einem Meer der Ästhetisierung Orientierung bietet.
Und nochmals wabert der Weltgeist, diesmal in Gestalt der Minimierung der Grenzkosten
Aber vielleicht wird ohnehin alles ganz anders. Bei dem oben angesprochenen Dialogforum Österreich 2050 war auch Jeremy Rifkin eingeladen, der bei dieser Gelegenheit sein neues Buch „The Zero Marginal Cost Society“ vorgestellt hat. Geht es nach ihm, dann schafft ausgerechnet der bodenlose Fall der Grenzkosten just zum Zeitpunkt des endgültigen Siegs des ästhetisierten Kapitalismus in Gestalt einer Third Industrial Revolution die Voraussetzungen für seine Überwindung.
Ein „Internet of Things“, das in der Lage ist, Communication, Energy und Transport/Logistics miteinander zu verbinden, setze à la longue ein Subjekt frei, das sich aus den Zwängen der traditionellen Arbeitswelt verabschiedet. Als solches hat es einige Ähnlichkeit mit dem „konsumptorischen Kreativsubjekt“ von Andreas Reckwitz, das er bereits 2006 in seinem Band „Das hybride Subjekt“ beschrieben hat.
Als Ökonom nimmt Jeremy Rifkin ästhetische Produkte vor allem als mediale Inhalte wahr, die zunehmend abseits der herrschenden Marktverhältnisse getauscht werden (und damit alternative Tauschverhältnisse bergründen). Entsprechend hält er sich nicht lange auf mit der umfassenden Ästhetisierung auf und beschränkt sich auf die Funktion des Menschen als „Prosumer“, der als Marktteilnehmer bereits jetzt die künftigen Entwicklungen entscheidend mitgestaltet.
Darüber hinausgehende Konstruktionsversuche eines Menschenbildes für die Mitte des 21. Jahrhunderts könnte eine zentrale Aufgabe einer perspektivischen Bildung sein, die in der Lage ist, die literarische Formulierung von Tomas Espedal in seinem Roman „Wider die Natur“ noch einmal glaubhaft zu falsifizieren: „Das größte Glück besteht vielleicht darin, dass etwas unverändert bleibt“.
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