Das Publikum – das unbekannte Wesen
Jüngst in einer Probe im Burgtheater brach es aus dem gestressten jungen Regisseur heraus: „Ich hasse das Publikum.“ Und weit und breit niemand, der dagegen gehalten hätte. Ganz offensichtlich steht diese Nachwuchshoffnung mit seiner Aggression denen gegenüber denen, für die er Kunst produziert, nicht alleine da.
Vielleicht liegt schon in der Zuschreibung, ein Theatermacher wie er, würde für jemanden Theater machen, mein Trugschluss. Viel wahrscheinlicher ist es, dass dieses Gegenüber in seiner Vorstellung gar nicht existiert (oder bestenfalls in Gestalt einiger ausgewählter Kritiker). Vielmehr geht es ihm um die Kunst selbst, die für sich zu stehen hätte und für deren Hervorbringung Zuschauer bestenfalls als störend empfunden werden.
Kunst als Affirmationsgegenstand oder als Kommunikationssystem
Da können Kunstsoziologen wie Arnold Hauser nunmehr bereits vor 70 Jahren Klassiker wie „Die Sozialgeschichte der Kunst und Literatur“ verfasst und eine breite Diskussion zum einander wechselseitig bedingenden Verhältnis von Kunstproduktion und Kunstrezeption ausgelöst haben; die Idee des reinen, nicht von Zusehern befleckten Kunstwerks feiert auf immer neue Weise fröhliche Urstände.
Unbeirrt ragt hier ein überkommenes Künstlerbild bis heute ins Zentrum eines Kulturbetriebs, der sich schwertut, die Weiterentwicklung der Kunst als ein Kommunkationssystem so zu antizipieren. In einer solchen Logik käme der Kunst die Aufgabe zu, die beiden Akteursgruppen Produktion und Rezeption so zusammenzuführen. Im Sinn eines Kunstwerkes, das erst im Auge des Betrachters zu einem solchen wird, sind beide Seiten gleichermaßen dafür verantwortlich, dass es zu einem, von beiden Seiten getragenen gemeinsamen künstlerisch Ereignis kommen kann.
Gute KünstlerInnen auf der Bühne wissen um diese Form der Gegenseitigkeit; sie sind auf das Gefühl des gegenseitigen Funkenüberspringens angewiesen. Und auch der gerade im Österreich-Biennalepavillon ausgestellte Erwin Wurm versucht, das Publikum in seinen On-Minute-Sculptures aktiv in den Prozess der Kunstwerdung einzubeziehen.
Halb zog sie sie halb sank sie hin – Zur Schwerpunktverlagerung von Kulturpolitik
Kulturpolitik reagiert auf die schleichende Scheinwerfer-Verlagerung von den rabiaten Kunst-Verteidigern hin zu denen, die damit etwas anfangen sollen, bislang nur sehr verhalten. Immerhin lässt sich in den letzten Jahren unter dem Stichwort „Vermittlung“ eine leichte Tendenz in Richtung einer konzeptionellen Neubegründung des Verhältnisses der Kunstproduktion und der Kunstrezeption feststellen. Nicht zuletzt durch den wachsenden Druck eines rechtspopulistischen Elitenverdachts (Wir erinnern uns an den Wahlkampf Norbert Hofers, der in diesem Zusammenhang gerne von einer abgehobenen „Hautevolee“ gesprochen hat) scheint es Kulturpolitikern zu schwanen, dass wir es hier mit einem symptomatischen Problem der Demokratieentwicklung zu tun haben, das auf Dauer nicht mit der lapidaren Behauptung, Kunst wäre halt nicht demokratisch, eskamotiert werden kann. Höchste Zeit also, diejenigen in den Mittelpunkt des kulturpolitischen Interesses zu rücken, die man bisher gemeint hat, als notwendiges Übel im Dunkel des Zuschauerraums verschwinden lassen zu können.
Audience Development auf der europäischen Agenda
Vor diesem Hintergrund einer solchen kulturpolitischen Interessensverlagerung trifft es sich, dass sich die Europäische Kommission im Rahmen des aktuellen Kulturprogramms „A Creative Culture“ zu einem Schwerpunkt „Audience Development“ verstanden hat. Dazu wurde jüngst eine Studie der Europäischen Partner Fondazione Fitzcarraldo, Culture Action Europe, ECCOM Progetti und Intercult eine Studie zur Beantwortung der Frage „How to place audiences at the centre of cultural organisations?“ veröffentlicht. Die Autoren haben sich insgesamt 87 Projekte in 25 europäischen Ländern angesehen und sind doch zu wenig überraschenden Ergebnissen gekommen: Ganz offensichtlich mangelt es in den meisten Einrichtungen nach wie vor an einem vertieften Verständnis einer konzeptiv begründeten Haltung gegenüber ihren potentiellen NutzerInnen. Dieses sollte sich ebenso wenig auf einen „Marketing Approach“ beschränken wie auf eine „Missionary Agenda“, die sich im alleinigen Besitz der künstlerischen Wahrheit wähnt.
Statt dessen plädieren sie für einen „long-term process that embraces the whole organisation and is about positioning the different kinds of audiences in a strategic perspective“. Die AutorInnen empfehlen u.a. die Etablierung nachhaltiger Kooperationen mit Bildungseinrichtungen, aber auch mit solchen anderer Berufsgruppen, die Entwicklung von künstlerischen Partizipationsmodellen unter aktiver Einbeziehung von Nicht-KünstlerInnen, die Nutzung von Orten, an denen sich gemischte Publika leichter zusammenfinden lassen, vor allem aber eine Verbesserung des Wissens über diejenigen, mit denen man es künftig als RezipientInnen zu tun haben will.
Auf den Punkt gebracht: In den meisten europäischen Kultureinrichtungen herrscht nach wie vor ein eklatantes Unwissen über ihre Publika; mehr, wir müssen davon ausgehen, dass die in Kultureinrichtungen Tätigen gar zu oft gar kein Interesse haben, mehr über ihre Publika zu erfahren. Fast scheint es, dass eine diesbezügliche Ignoranz als Zeichen der Distinktion stolz vor sich hergetragen werden will – und die oft nur geduldeten Vermittler sind gefordert, die damit verbundenen Konsequenzen mehr schlecht als recht zu kompensieren.
Am Tresen sollt ihr sie erkennen
Dabei ließen sich bei entsprechender Neugierde viele wichtige Informationen sammeln. Ein Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld. Meine Tochter hat einen Studentenjob in der Gastronomie eines Wiener Konzertveranstalters. Sie berichtet davon, wie man anhand eines unterschiedlichen Kommunikations- und Konsumtionsverhaltens das Stammpublikum unterschiedlicher Musikrichtungen erkennen könne. Mir ist nicht bekannt, dass dieses Wissen in irgendeiner Form genutzt würde und wäre doch eine eigenen Studie wert. Sehr fasziniert hat mich ein Beitrag aus einer Ausgabe des Journals Merkur bereits aus dem Jahr 1995 zum Thema „Unterschiede“. Der US-amerikanische Soziologe Paul Fussell berichtet darin über seine höchst vergnüglichen Reise durch das amerikanische Statussystem entlang der äußerlichen Erscheinungsformen von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkünfte. Sein Beitrag ist nicht ohne Stereotype und doch ertappe ich mich selbst immer wieder in der Beobachtung meiner jeweiligen MitbesucherInnen, dass ein Gutteil von ihnen je nach Ort und Programm unterschiedlich aussieht, sich anders verhält und auch seiner Zustimmung bzw. Ablehnung auf unterschiedliche Weise Ausdruck gibt. Vereinfacht: Publika repräsentieren in ihrer Gesamtheit eine unverwechselbare Erscheinung – darin sind sie so mannigfaltig wie die KünstlerInnen, um derentwillen sie gekommen sind.
Ich muss zugeben, dass ich in der Studie nicht viel Neues über Publika erfahren habe. Mit Hilfe eines weitgehend selbstgestrickten Rasters unterscheiden die AutorInnen zwischen „Audiences by habit“, „Audiences by choice“ und „Audiences by surprise“: Während erstere gewöhnt sind, Teil eines Publikums zu sein sind zweitere – ohne sich dabei sozial oder kulturell benachteiligt zu fühlen – so sehr mit anderen Dingen beschäftigt dass sie nur selten Zeit und Muße finden, ein kulturelles Angebot wahrzunehmen. Das Überraschungspublikum hingegen fühlt sich tendenziell kulturell ausgeschlossen, empfindet das kulturelle Angebot tendenziell gegen sich gerichtet und bedarf dementsprechend einer besonderen Ansprache.
Die Elite und die Vielen
Je intensiver ich mich mit den Aspekt von Audience Development beschäftige – die Kulturmanagement-Ausbildung der Universität Hildesheim hat dazu mit Birgit Mandel einen eigenen Fachzusammenhang kreiert – desto mehr überkommt mich der Verdacht, wir haben es hierbei mit einem grundlegenden demokratiepolitischen Problem zu tun. Immerhin sind wir kulturpolitisch seit zumindest hundert Jahren mit einem weitgehend unauflöslichen Widerspruch konfrontiert. Dieser besteht darin, dass Kultur traditionell von einer zahlenmäßig kleinen gebildeten und wohlhabenden Elite repräsentiert wird, die mit ihrer Teilhabe als informierte und interessierte NutzerInnen den Kulturbetrieb tragen. Und da ist der große Rest der Bevölkerung, der ursprünglich als „kulturlos“ denunziert und ausgeschlossen wurde, um in der Folge unter Generalverdacht zu stehen, sich nur für einfach zu konsumierende kommerzielle Massenkultur zu interessieren. Mit der Infragestellung der Klassenverhältnisse sind die Trennlinien schwammig geworden, und doch wirken sie auf nachhaltige Weise weiter und scheinen selbst durch kulturpolitische Konzepte zugunsten eines „breiten Kulturverständnisses“ nicht wirklich in Frage gestellt.
Zur Disposition stehen die kulturellen Repräsentationsformen einer liberalen Elite
Nach wie vor privilegiert der Staat ganz massiv die kulturellen Repräsentationsformen einer kundigen Elite. Geändert aber hat sich der Legitimationszusammenhang. Die aktuelle Argumentationstrategie läuft darauf hinaus, nicht nur sich selbst sondern auch alle anderen Teile der Bevölkerung (vorrangig sozial Benachteiligte, Bildungsferne, Migranten, Junge,…) am Referenz schaffenden Kulturgeschehen zu beteiligen, freilich ohne für die Neuen eine dafür notwendige Verbesserung der sozialen Verhältnisse sicherstellen zu können. Entsprechend bemühen sich mittlerweile VermittlerInnen aller künstlerischen Sparten (die zum überwiegenden Teil selbst aus diesen Elitenzusammenhängen kommen) wahlweise lustvoll oder verzweifelt darum, bislang abseits Menschen für etwas zu interessieren, das ihren, sich zunehmend verschärfenden sozialen Lagen in keiner Weise entspricht und wofür sie auch die notwendigen Bildungsvoraussetzungen nicht mitbringen (ein Umstand, der in kurzzeitigen, auch noch so attraktiven Projekten nicht kompensiert werden kann).
Dieses fundamentale soziale Dilemma – das mir konstitutiv für jegliche Vermittlungsbemühung, die über bestehende soziale Schranken hinauszugehen versucht, erscheint – schließt einzelne Erfolgsgeschichten nicht aus, als gesamtgesellschaftlich relevante kulturpolitische Strategie, die getrieben ist von der idealistischen Sehnsucht, das angebotene, zum Teil hoch elaborierte Kulturangebot könne jeder verstehen, scheint sie mir mehr denn je zum Scheitern verurteilt.
Am anderen Ende dieses Spannungsverhältnisses steht der Anspruch, dass jede soziale Gruppe ihre je eigenen kulturellen Ausdrucksformen kreiert und sich mit dieser Fähigkeit der kulturellen Eigenverantwortung von der staatlich verordneten kulturbetrieblichen Dominanz einer selbsternannten Elite emanzipiert. Kulturpolitisch würde das bedeuten, künftig auf hierarchisierende ästhetische Qualitätsvorstellungen zu verzichten und stattdessen auf eine umfassende Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen entlang ihrer unterschiedlichen sozialen Gegebenheiten zu setzen. Dabei würde notwendig die bisherige Privilegierung einer kleinen Gruppe von spezifisch Kulturinteressierten in Frage gestellt.
Die bisherigen kulturpolitischen Taktiken liefen darauf hinaus, diesbezügliche Gegenüberstellungen zu vermeiden und vor „Neidgenossenschaft“ zu warnen, um der Folge weiter zu machen wie bisher. Dies umso mehr als die bislang begünstigte kulturelle Elite zunehmend bereit war, sich ein liberales Mäntelchen umzuhängen mit der Behauptung, es könne ja alles Mögliche nebeneinander existieren (jedenfalls so lange die gewachsenen Subventionsströme nicht nachhaltig zu ihrem Nachteil umgeleitet werden). Die Wahrheit aber ist: Ein in prekären Verhältnissen lebender Jugendlicher zahlt für ein Konzert seiner Lieblingsband den vollen Preis während wohlhabende OpernbesucherInnen in der Realisierung ihrer Geschmacksvorlieben massive staatliche Unterstützung erfahren.
Kultur als demokratiepolitisches Problem: repräsentative versus direkte Demokratie
Mit den aktuellen Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in Europa (die meines Erachtens wesentlich einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit geschuldet sind) steht auch der Kulturbereich unter einem neuen Entscheidungsnotstand: Das sind auf der einen Seite die gewachsenen Ansprüche einer repräsentativen Kultur gegen den Anspruch, Kultur selber in die Hand nehmen zu wollen. Die Assoziationen zu den Forderungen der Rechtspopulisten, Formen der direkten Demokratie (und sei es im autoritären Gewand) gegen ein das alte System der Repräsentativität in Stellung zu bringen, liegen auf der Hand.
In dieser Gegenüberstellung zwischen repräsentativen und plebiszitären Demokratieformen findet sich unvermittelt auch das Kulturgeschehen wieder. Und lässt nur zu leicht diejenigen, die sich für die Fortsetzung eines staatlich privilegierten Kulturbetriebs in der Behauptung, zumindest indirekt für alle da zu sein, als abgehobene Nutznießer verungleichender Verhältnisse dastehen. Da hilft der Hinweis wenig, die Rechtspopulisten würden mögliche Alternativen auf eine nostalgische Rückschau auf eine vermeintlich homogene Volkskultur, die real nie existiert hat, beschränken.
Audience Development ist ohne gesellschafts-politische Haltung nicht zu haben
Angesichts der dramatischen politischen und sozialen Brüche, die im Moment Europa erschüttern, hätte ich mir gewünscht, die Studie zu Audience Development hätte zumindest in Ansätzen auch diese politischen Implikationen diskutiert, die – jedenfalls meiner Meinung nach – das kulturelle Verhalten maßgeblich beeinflussen. Immerhin lassen die Empfehlungen hoffen, dass die Bemühungen um Audience Development eine neue Sensibilität des Kulturbetriebs gegenüber seinen NutzerInnen begünstigen. Der junge Regisseur am Wiener Burgtheater mag nach der Lektüre der Studie nicht sagen: „Ich liebe das Publikum“; es genügte, wenn er einstimmt in den wachsenden Chor derer, die von sich sagen können: „Ich bin neugierig und interessiere mich für das Publikum.“ Diese Haltungsänderung wird entscheidend sein für den Fortbestand bzw. Weiterentwicklung dessen, was wir heute am in zunehmende Legitimationsnöte geratenden Kulturbetrieb schätzen.
P.S.: Irene Knava und Thoas Heskia haben sich in den letzten Jahren intensiv mit Audiencing befasst. Dazu hat Kava auch ein Buch im Verlag facultas herausgebracht und bietet betriebliche ISO – Zertifizierungen an.
P.P.S.: In den anglo-amerikanischen Ländern verfügt Audience Development über die längste Tradition. Dass diese Bemühungen nicht zu einer liberaleren Haltung von Mehrheiten gegenüber kultureller Vielfalt geführt haben, macht der Brexit schmerzhaft bewusst.
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