
Denke über den Tod nach. Es ist etwas Großartiges, den Tod zu erlernen. (Seneca)
Zu meinem Geburtstag habe ich ein kleines Büchlein mit dem Titel „Von der Lust zu leben“ geschenkt bekommen. Es finden sich darin eine Reihe kluger Anleitungen zum Leben aus der Feder antiker Autoren. Als ich auf das Kapitel „Leben und Tod“ gestoßen bin, war ich fürs Erste irritiert: Ausgerechnet anlässlich meines Geburtstags soll ich mich mit dem Tod beschäftigen. Und doch war die Aufforderung unabweisbar: Du sollt über den Tod nachdenken und – folgt man jedenfalls Seneca – Du magst damit etwas Großartiges finden.
Weitgehend gelähmt verfolge ich in diesen Tagen die Nachrichten. Sie alle deuten darauf hin, dass uns – konkret den BürgerInnen der mitteleuropäischen Gesellschaften – der Tod näher rückt. Dass Menschen an den Kriegsfolgen im Nahen und Mittleren Osten sterben, haben wir noch mehr oder weniger lapidar hingenommen; als Menschen begannen, sich den Gefahren eine Überfahrt über das Mittelmeer auszusetzen und viele von ihnen an den Gestaden Europas den Tod fanden, konnten wir nicht mehr ganz unbeteiligt bleiben. Und jetzt ist der Tod mitten unter uns: völlig unbeteiligte Menschen sterben an den Folgen terroristischer Angriffe und alle Überlebenden spüren intuitiv, es hätte auch uns treffen können (sollen); wir sind keine Unbeteiligten, stattdessen sind wir Teil einer Inszenierung eines Machtanspruchs, der über unser Leben und unseren Tod entscheidet.
Ich mag an dieser Stelle nicht allzu sehr über andere sprechen. Aber ich muss zugeben, dass mich die Herausforderung, jederzeit mit dem Tod (wer immer diesen verursacht) konfrontiert zu sein, einigermaßen überfordert. Dieses persönliche Unvermögen hat wohl auch damit zu tun, dass uns zuletzt der Tod in unseren alltäglichen Lebenszusammenhängen zunehmend abhanden gekommen ist. Er kommt irgendwie nicht vor im Umgang mit anderen lebenden Menschen und beschränkt sich weitgehend auf eine mediale Berichterstattung, die oder der wäre gestorben.
Die junge Wiener Journalistin Katharina Schmidt stellt in ihrem Buch „Eine sonderbare Stille“ Vermutungen dazu an, warum das so gekommen ist. Anhand der Erzählungen des französischen Historikers Philippe Ariès in seinem Standardwerk „Geschichte des Todes“ begründet sie die Empfindung vom „Verlust des Todes“ und berichtet von den gesellschaftlichen Veränderungen der Lebenden im Umgang mit dem Tod, der einst als vertrauter Begleiter und fixer Bestandteil des Lebens gegolten hat: „Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte der Tod eines einzelnen Menschen auf feierliche Weise den Raum und die Zeit einer sozialen Gruppe.“ Doch im weiteren Verlauf des Jahrhunderts habe die Gesellschaft den Tod „ausgebürgert; die Menschen seien ihres Todes „enteignet“ worden: „Man legt keine Pause mehr ein. Das Leben in der Großstadt wirke so, als ob niemand mehr stürbe.“ In eine ähnliche Kerbe schlägt der Theologe Hans Küng, wenn er meint, Sterben und Tod würden zunehmend zu „Störfaktoren“ einer konsumorientierten Erlebnisgesellschaft, die uns verlernen lasse, mit dem Tod zu leben.
Es scheint nur zu verständlich, wenn gerade Theologen sich um den Tod im Leben sorgen. Immerhin war es die längste Zeit der Anspruch ihres Fachgebiets, mit Heilsversprechen eines über den physischen Tod hinausreichenden ewigen Lebens die ganze Tragweite der Sterblichkeit (und damit der unhintergehbaren Endlichkeit) menschlicher Existenz eskamotieren zu können.
Entgegen diesen irrationalen Versuchen der Glaubensproduktion halte ich es für eine der zentralen Errungenschaften der europäischen Aufklärung, das Leben (und damit auch den Tod) aus den Fängen göttlicher Schicksalhaftigkeit zu befreien und – wie beschränkt und unvollkommen auch immer – den Menschen die Gestaltung ihres eigenen Lebens selbst in die Hand zu geben. Dazu gehört auch und gerade die Fähigkeit, mit dem Tod im Leben umgehen zu lernen.
Statt aber diese Fähigkeit in seinen vielfältigen Konsequenzen für das Leben zu kultivieren (und damit dem Leben einen auf sein sicheres Ende hin bezogenen Sinn abzugewinnen), verweisen die angesprochenen Versuche, den Tod aus dem Leben zu vertreiben, auf eine Form der Säkularisierung von Allmachtsphantasien, deren Elend freilich darin besteht, dass sie spätestens mit dem Sterben zusammenbrechen. (Immerhin können auch diejenigen, die im Leben alles können und alles haben, „nichts ins Grab mitnehmen“.)
Auf der Suche nach der „Lust, zu leben“ und dabei den Tod zu integrieren könnte es helfen, über eine Passage bei Immanuel Kant nachzudenken: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Er verknüpft darin die scheinbare Nichtigkeit der individuellen Existenz angesichts der Unendlichkeit von Welt mit dem Anspruch an eben diese, das Leben sinnvoll zu gestalten.
Einmal mehr führt uns die Religion mit ihrer Erzählung „Gott ist Mensch geworden“ in Versuchung, wenn sie glauben machen möchte, die daraus resultierende narzisstische Kränkung ließe sich überwinden. Immerhin habe da einer die Fähigkeit, göttliche Allmacht mit der Endlichkeit menschlicher Existenz zu verknüpfen, in seiner Person vereint. Mit Jesus Christus lasse sich der Schlüssel finden, wenn es darum geht, den Widerspruch zwischen immerwährender allmächtiger Gestaltungskraft und eigener Endlichkeit auflösen, sofern es gelingt, stark genug daran zu glauben bzw. sich mit dieser Figur zu identifizieren.
Diesem religiösen Angebot widersprechen freilich unsere begrenzte Körperlichkeit und mit ihr unsere Sinnesorgane, die samt aller technischen Hilfsmittel nicht ausreichen, die Welt als das zu erfahren, was sie in ihrer Unauslotbarkeit ist. Offenbar sind wir nicht daraufhin angelegt, hinlängliche Belege zur Erklärung für die Unendlichkeit des „bestirnten Himmels“ zu sammeln, sondern darauf beschränkt, uns in unserem konkreten begrenzten Leben zurechtzufinden und diesem einen handlungsleitenden Sinn abzugewinnen.
Das schließt die prinzipielle Neugierde an der Welt nicht aus, sehr wohl aber die Einsicht, dass die menschliche Beschaffenheit nicht ausreicht, das, was uns als sterbliche Wesen konstituiert, beliebig zu überschreiten. Wir sind einfach nicht daraufhin angelegt, sondern existenziell überfordert, wenn es darum geht, die grassierende Hybris zu leben, die vermeint, die Endlichkeit der menschlichen Natur außer Kraft setzen zu können.
Zu den positiven Aspekten der Einsicht der eigenen Endlichkeit gehört auch der Niedergang säkularer Heilsversprechen, die die Bereitschaft zur Opferung des eigenen (und das anderer) Leben miteinschließt. Innerhalb der großen Mehrheit der europäischen Gesellschaften käme in dieser historischen Phase niemand auf die Idee, seinem Leben zugunsten einer – die Begrenztheit der eigenen Existenz überschreitenden – politischen oder religiösen Idee ein Ende zu setzen (in der Hoffnung, dadurch irgendwo und irgendwie anders weiterzuleben).
Entsprechend überrascht ist die Reaktion gegenüber jenen, die – mitten unter uns – diesbezügliche Traditionen wiederbeleben und uns damit unliebsam daran erinnern, dass grausame Terrorattacken in Europa das politische und religiöse Geschehen über einen langen Zeitraum geprägt haben. Damit zielen die aktuellen Anschläge (die in der Regel von Konvertiten ausgeübt werden, die sich damit frustiert von der Sinnentleerung westlicher Lebensweisen abwenden) unmittelbar auf eine kollektive Amnesie, die verlernt hat, mit diesbezüglichen Versuchungen der Menschenopferung (sei es, damit die Welt mit Gewalt zu verändern; sei es, das ewige Leben zu erlangen; sei es, die eigene Bedeutung über die eigenen – als (zu) eng empfundenen – Lebensgrenzen hinaus zu steigern) umzugehen.
Bei allem Bedarf, diesen neuen Heilsbewegungen mit den zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln entgegenzuwirken, besteht die eigentliche Herausforderung gegenüber dieser neuen Generation todbringender Heilsverkünder meines Erachtens darin, ihnen eine Lebensweise entgegenzuhalten, die sich allen Fluchtversuchen vor dem Tod verweigert.
Wenn es so etwas wie europäische Werte gibt, dann liegen diese auch und gerade in der Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Dies schließt die Fähigkeit mit ein, mit dem Tod zu leben, von Anfang an. Nur so scheint es möglich, denen, die uns noch einmal versprechen wollen, welche Religion auch immer könne sicher stellen, das Leben würde über den eigenen Tod hinaus weitergehen und wir könnten uns mit entsprechendem Glauben gewappnet das Abschiednehmen ersparen, das (als kulturelle Kompetenz erworbene) Einverständnis mit der eigenen Endlichkeit entgegenzuhalten.
Im aktuellen Diskurs zum interkulturellen Dialog wird gerne davon gesprochen, dass der Mensch das Eigene nur im Fremden erkennen kann. Vielleicht gilt diese unaufhebbare Aufeinander-Bezogenheit auch in Bezug auf das Verhältnis von Leben und Tod. In dieser Logik könnte von Leben im eigentlichen Sinn gar nicht gesprochen werden, gäbe es nicht den Tod, der das Leben erst zu dem macht, was es ist: eine großartige, wenn auch begrenzte Möglichkeit, auf der Welt zu sein. Und der Tod als die letzte Instanz, in der sich das Leben erfüllt.
In dem Maß als die Fähigkeit, den Tod ins Leben zu integrieren, eine herausragende Kulturleistung darstellt, sollten wir diese auch als Bestandteil von kultureller Bildung berücksichtigen. Gerade die Erfahrungen mit Programmen wie „Philosophieren mit Kindern“ machen deutlich, dass Jungsein kein Hinderungsgrund zu sein braucht, sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinanderzusetzen und junge Menschen in der Regel kein Problem damit haben, sich mit dem Tod zu beschäftigen und so für das Leben zu lernen.
„Eines Tages werden wir sterben. Aber an allen anderen Tagen werden wir leben“, heißt es bei dem schwedischen Autor Per Olov Enquist. Also werden wir leben, jeden Tag aufs Neue – im Versuch, dem Prinzip des Lebens, als etwas, das beginnt und das endet, den entsprechenden Sinn abzugewinnen.
Auf der Suche nach diesem Sinn hat Bronnie Ware mit Sterbenden gesprochen und sie gefragt, was sie im Leben versäumt hätten. Sie hat die Antworten in ihrem Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ zusammengeführt:
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.
- Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu geben.
- Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten.
- Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.
Die Befolgung dieses Vermächtnisses könnte helfen, die „Lust am Leben“ immer wieder zum Ausdruck kommen zu lassen. Und dann kommt der Tag, an dem wir gefordert sind loszulassen, es gut sein zu lassen – im Wissen, dass danach nichts mehr kommt, weil keine 72 Jungfrauen auf uns warten und auch sonst niemand. Und die Einsicht, dass das gut so ist.
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