Der Geist weht wohin er will
In der Süddeutschen Zeitung stellt Heribert Prantl einen prekären Zusammenhang zwischen dem Wahn der beliebigen Verfügbarkeit von Daten und der dadurch verursachten Hemmung von Kreativität her. Zu Beginn seiner Eloge auf Edward Snowden („Edward Snowdens Pfingstwunder“) zitiert er Bert Brecht. Dieser konnte – aus durchaus pragmatischen Gründen – mit Pfingsten wenig anfangen, zumal an diesem Feiertag die „Geschenke am geringsten“ seien, „während Ostern, Geburtstag und Weihnachten etwas einbrachten“.
Über Feuerzungen und die Gabe der universellen Zungensprache
Aus religiöser Sicht hingegen konnte – jedenfalls dazumal – Pfingsten eine ganze Menge. Es galt immerhin als Fest des „Heiligen Geistes“, der den Apostel 50 Tage nach Ostern erschien und ihnen die Augen öffnete, auf das sie die Welt erkennen konnten. Dazu heißt es in der Apostelgeschichte: „Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden“. Eingegangen ist dieses Ereignis in die Geschichte als „Pfingstwunder“, das die Apostel mit der Fähigkeit ausgestattet hat, in anderen Sprachen zu sprechen und andere Sprachen zu verstehen. Eine Fähigkeit, die in der Folge das katholische Missionswesen, das alle Menschen unabhängig von ihrer Nationalität und Ethnizität zum richtigen Glauben bekehren sollte, begründen helfen sollte.
Gäbe es diese Fähigkeit heute noch, wären auf einen Schlag wesentliche Migrationsprobleme gelöst und die FPÖ könnte sich ihren wahlwirksamen Slogan „Zerscht Deitsch reden“ in die Haare schmieren. Stattdessen hat bis heute das – ebenfalls biblischem Ursprung entstammende – Bild der „babylonischen Sprachverwirrung“ den historischen Sieg davon getragen, wonach Sprachen politisch dafür genutzt werden, einen hegemonialen Anspruch einzelner Sprachen zu begründen, was Nationalisten aller Art nur zu gerne tun, ganz egal ob sie „ihre eigene“ Sprache besser oder schlechter beherrschen.
Kultur schlägt Geist – ein Zeitgeistphänomen
Womit wir wieder beim Geist wären, vor allem der mit der deutschen Sprache assoziierte deutsche Geist, der in seiner engen Verbindung mit der germanischen Seele alles andere als erfreuliche historische Fakten geschaffen hat (und der dennoch einen ganz großen Anteil daran hat, dass wir so über kulturelle Bildung reden, wie wir reden). In Zeiten der Globalisierung scheint dieser deutsche Geist in die Jahre gekommen zu sein; es ist als ob der Zeitgeist den Geist aus der Geschichte vertrieben hätte. Das aktuelle Organigramm der Universität Wien, in dem man vergeblich nach der ehemaligen geistesgeschichtlichen Fakultät sucht, ist dafür mehr als ein Indiz. Stattdessen finden sich nunmehr die Kulturwissenschaften in einer eigenen Fakultät versammelt, was zur Vermutung führen könnte, wo früher Geist war ist jetzt Kultur.
Lässt sich kulturelle Bildung vermessen und wenn ja wie?
Ein Grund zur Freude für alle Freunde der kulturellen Bildung, egal ob diese mehr oder weniger geist-reich vorgetragen wird. Dabei sollten wir freilich nicht vergessen, dass mit der Änderung der Begriffswahl auch eine Änderung der Sicht auf die Welt mit sich gebracht hat. Wie sehr das unser Denken und Handeln beeinflusst ist mir zuletzt bei einer Veranstaltung der Akademie Remscheid „Vermessung Kultureller Bildung. Streitfälle“ aufgefallen.
Ins Auge sprang da der weithin undiskutierte Anspruch auf Vermessbarkeit kultureller Bildung, die so manchen Geisteswissenschafter alten Schlags einigermaßen vermessen erscheinen könnte. In meinen Vorüberlegungen zu meinem Beitrag bin ich auf eine Reihe literarischer Hinweise gestoßen; etwa auf den Landvermesser K. in Franz Kafkas „Das Schloss“. Immerhin versucht in diesem Roman Franz Kafkas ein Vermesser seiner ihm übertragenen Arbeit nachzugehen. Dabei scheitert er – trotz allen guten Willens – am Regelwerk einer ihm nicht einsichtigen Herrschaft. Und wir könnten die Frage stellen, ob sich diese Geschichte des Versagens lesen lässt als eine Parabel, in der der Anspruch der Vermessbarkeit kultureller Bildung als Voraussetzung für seine Akzeptanz bei den politischen Entscheidungsträgern steht bzw. ob K.s vergebliche Mühe, mit einem Herrschaftssystem, das seine Sprache nicht versteht bzw. erst gar nicht verstehen will, uns etwas über den Stand der Kommunikation zwischen Praxis und Entscheidungsträger erzählt.
Wissenschaft ist nicht gleich Wissenschaft
Angeregt bin ich auch worden von Daniel Kehlmanns Doppelbiographie „Die Vermessung der Welt“, ein Weltbestseller, in dem der Autor die beiden Deutschen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß auf ihrem Weg begleitet, die Welt zu vermessen. Überraschend erfahren wir, dass zuvor „Wissenschaft“ bei weiten Teilen der Bevölkerung nicht wirklich ernst genommen, vielmehr als Zauberei und Magie abgetan wurde. Und wir lernen, dass sich die beiden frühen Wissenschafter in ihren Zugängen fundamental unterschieden, wenn Alexander von Humboldt die möglichst eigene sinnliche Erfahrung zum Ausgangspunkt jeglicher wissenschaftlicher Betrachtung gemacht hat (dabei machte er sich immer wieder selbst zum „Versuchsobjekt“), während Carl Friedrich Gauss sich – möglichst abseits jeglicher sinnlicher Beeinflussung – mit der Entwicklung, vor allem abstrakter mathematischer Denkmodelle beschäftigt. Erst materielle Bedrängnisse bringen ihn dazu, sich mit der ganz konkreten Welt auseinanderzusetzen und – Sie haben es bereits erraten – den Beruf des Landvermessers auszuüben.
Daniel Kehlmann verweist bei der Beschreibung der beiden Wissenschafter auch auf einen Umstand, den wir auch und gerade im Bereich der kulturellen Bildung nicht aus den Augen verlieren sollten. Sie macht deutlich, dass die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse keine Garantie für den Anspruch der Verbesserung der Welt darstellt. Im Fall Carl Friedrich Gauß‘ ist das schiere Gegenteil der Fall, dessen politisch reaktionäre Einstellung alles andere als eine Verbesserung der Lage der Menschen vor der französischen Revolution erstrebt. Was bleibt ist die Änderung der Sicht auf die Welt, die mit diesem Zitat aus dem Roman eindrucksvoll unter Beweis gestellt werden kann: „Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte war noch oder konnte je sein wie zuvor“.
Gibt es eine Poetik der Vermessung?
Hatten es die Veranstalter von „Vermessung Kultureller Bildung. Streitfälle“ also darauf abgesehen, das, was kulturelle Bildung ausmacht, in eine mathematische Symbolsprache zu verwandeln? Nicht unbedingt, wenn wenige Tage vor der Veranstaltung eine Würdigung des deutschen Autors Jürgen Becker anlässlich der Georg-Büchner-Preisverleihung an ihn ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Landvermesser, ganz Auge und Ohr“ erschien. Unterstellt wird Becker darin, dass es ihm gelungen sei, dank seiner – auf das ganz Konkrete gerichtete – Wahrnehmungsfähigkeit, Lyrik und Prosa für die „Vermessung der zivilen, immer moderneren Nachkriegswelt“ zu nutzen und dabei „zu einem der großen Landvermesser seiner Generation“ zu werden. Deutlich wurde mir dabei, dass es offenbar noch einen anderen, nicht ausschließlich mathematischen, sondern poetischen Betriff der „Vermessung“ gibt, den wir bei unseren Bemühungen, kulturelle Bildung besser verstehen zu lernen, „kultivieren“ könnten. Projekte der „ästhetischen Forschung“, deren Ergebnisse sich nicht in quantitativen bzw. deskriptiven Formaten erschöpfen, vielmehr selbst sinnlich, wenn nicht gar künstlerischen Charakter annehmen, könnten uns dafür eine Richtschnur sein.
Und wo bleibt das Unverfügbare?
Bleibt eine Dimension, die die Geistesgeschichte immer in besonderer Weise vorangebracht hat und die uns in einer Weltsicht scheinbar unbeschränkten Machbarkeitswahns abhanden zu kommen droht: das Unverfügbare. Dazu hat Karl-Josef Pazzini kürzlich einen eigenen Sammelband gleichen Namens („Das Unverfügbare“) herausgebracht. Für ihn ist gerade das Unverfügbare zugleich permanentes Ärgernis als auch Ferment jeglicher Form der kulturellen Bildung. Und in der Tat, just in dem Maß, in dem wir behaupten, kulturelle Bildung festschreiben zu können, tauchen unvermittelt neue Unwägbarkeiten und Widersprüche auf, die uns den Begriff aufs Neue entgleiten lassen. Es liegt offenbar in seiner Natur, sich inmitten des vermeintlich Bekannten und Habhaften der gesicherten Kommunikation zu widersetzen, die Grenzen zwischen Wissen und Nicht-Wissen verwischen zu lassen. Dazu gehört auch, Autoritäten immer wieder neu in Frage zu stellen und mit Unverstandenem (und vielleicht sogar Unverstehbarem) umzugehen. Diese prinzipielle Unverfügbarkeit des Feldes löst Ängste aus, weckt zugleich Sehnsüchte, Neugier und Intuition. Es markiert eine Aporie, die sich überall zeigt, wo Wissen sich als Macht- und Gestaltungsinstanz gibt: an den Grenzen der Machbarkeit als Prognostik und als Kontrolle des Anderen. Jedenfalls eine Charakteristik, die in der Lage wäre unseren Geist, gäbe es ihn noch, auf vielfältige Weise anzuregen.
Kulturverbände versus Stiftungen – das nenn ich Brutalität
Apropos Ängste: Die Veranstaltung machte in der Tat neue Streitlinien sichtbar, die zu bearbeiten das künftige Standing des Feldes nachhaltig beeinflussen könnte. Deutlich wurde zum einen eine neue Konkurrenzsituation zwischen den traditionellen Kulturverbänden und neuen Akteuren, vor allem in Gestalt von Stiftungen. Beide Seiten bemühen sich, kultur- und bildungspolitische Entscheidungen in ihrem Sinn zu beeinflussen. Während aber die Verbände angesichts sinkender öffentlicher Zuwendungen ihrer ursprünglichen Aufgabe der Vertretung ihrer Mitglieder samt der kritischen Reflexion ihres Wirkens zunehmend verlustig gehen und sich auf die Erbringung von entgeltlichen Serviceleistungen beschränken müssen, sind Stiftungen als weitaus angenehmere Ansprechpartner für politische Entscheidungsträger zunehmend in einer bevorzugten Rolle: Sie brauchen nicht als Bittsteller aufzutreten, sondern sehen sich stattdessen als potentielle Geber in der Lage, zum Teil beträchtliche Ressourcen einzubringen. Der Bedarf schien noch nie so groß, angesichts dieser Form der wachsenden Verungleichung der einzelnen Akteursgruppen in der kultur- und bildungspolitischen Arena, zur Aufrechterhaltung demokratischer Errungenschaften neue Formen von Governance zu entwickeln.
Das Vexierbild zum Tanzen bringen: KulturpädagogInnen als SystemerhalterInnen versus KulturvermittlerInnen als SystemveränderInnen
Und noch ein weiterer Widerspruch tat sich auf, der zwischen etablierten KulturpädagogInnen in der Schule einerseits und der außerschulischen Kulturvermittlerszene andererseits. In dem Zusammenhang klagten schulische Musik-, Kunst- und TheaterpädagogInnen über den Eindruck, ihre auf Nachhaltigkeit angelegte Arbeit in der Schule würde in der Euphorie rascher Erfolgserwartungen kultureller Bildung im außerschulischen Bereich nicht genügend gewürdigt. Vor allem die ebenso populistische wie naive Hoffnung, ein- oder wenigmalige Begegnungen mit KünstlerInnen könnte ihre spezifischen kulturpädagogischen Kompetenzen obsolet werden lassen, lässt diese bezweifeln, als Partner bei der Etablierung einer Neuen Lehr- und Lernkultur noch ernst genommen zu werden. Umgekehrt erscheint ganz offensichtlich vielen Akteuren außerhalb der Schule die Position der KulturpädagogInnen ausschließlich standespolitisch gerichtet und damit wenig geeignet, in Kooperation zwischen schulischer und außerschulischer Akteure den ersehnten Systemwandel herbeizuführen. Auch hier scheint der Weg noch weit, um zu einem gegenseitig wertschätzenden Verhältnis zu finden.
Zumindest den Heiligen Geist könnt’s freuen
Pfingsten ist vorbei, der Heilige Geist ist wieder in das – jedenfalls mir verschlossene – Gehäuse der göttlichen Dreieinigkeit zurückgekehrt und hat mit seinen feurigen Zungen mehr Fragen als Antworten hinterlassen. Immerhin, könnte man sagen in Zeiten scheinbarer Säkularität (in denen Verfügbarkeit und Machbarkeit zu den Eckpfeilern einer neuen Gläubigkeit mutieren), wenn Neugierde eine der wesentlichsten Voraussetzungen menschlichen Erkenntnisgewinns darstellt.
Wenn die Veranstaltung „Vermessung Kultureller Bildung. Streitfälle“ bei allen Streitfällen eine solche geistgeschwängerte Neugierde aufeinander erzeugt hat und wenn diese Neugierde im Wissen auf ihre prinzipielle Unstillbarkeit von den einzelnen Akteuren auch noch in geistreicher Weise wachzuhalten versucht wird, dann könnte sich, wenn schon nicht der deutsche so doch der Heilige Geist freuen, da oben im Himmel, sofern es ihn gibt.
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