Der Kulturbetrieb brennt!
Wir wollen es uns gar nicht vorstellen: Zentrale Kultureinrichtungen öffnen ihr Angebot für neue Zielgruppen und die Begünstigten haben nichts anderes im Sinn als diese zu zerstören. Noch eine Denkunmöglichkeit in Wien, bereits Realität in anderen Kulturmetropolen:
Da ist z.B. die Bibliothek in Clamart, einem südlichen Vorort von Paris. Gebaut wurde sie als Angebot der kulturellen Teilhabe für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Als architektonische Vorzeigearchitektur sollte sie den Bedürfnissen der potentiellen NutzerInnen in optimaler Weise entsprechen; selbst im Detail sollte die Möblierung durch den Stararchitekten Alvar Aalto den Beleg für die Wertschätzung der örtlichen Bevölkerung erbringen. Und dann kamen die Randalierer, zerstörten weite Teile der Inneneinrichtung und tobten sich an den Beständen in einer Weise aus, dass fast alle Bücher weggeworfen werden mussten.
In dem Maß, in dem das Angebot der Kulturvermittlung steigt, wächst das Ausmaß sozialer Undankbarkeit
In seinem Beitrag „Schwelbrand der Republik“ in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Februar 2015 zeigt Alex Rühle, dass es sich dabei um keinen Einzelfall handelt. Seinen Recherchen zufolge sind in den letzten Jahren mehr als 70 öffentliche Bibliotheken in ganz Frankreich angezündet worden. Der Soziologe Denis Merklen hat dazu 2014 dazu ein eigenes Buch verfasst („Pourquoi brule-t-on des bibliothèques?“); öffentliche Reaktionen blieben aus. Es scheint, als wollte sich niemand – die unmittelbar betroffenen Bibliothekare am wenigsten – mit dieser Form der sozialen Undankbarkeit beschäftigten: „Diese Leute haben oft ein emphatisches Bildungsideal. Sie wollen helfen. Sie verschenken gewisser Maßen Bildung. Und dann zündet man ihnen das Haus an. Viele verstummen danach total“.
Die Verletzungen sitzen also tief. Und doch könnte sich ein öffentlicher Diskurs lohnen, angesichts solcher Extremfälle darüber nachzudenken, welche negativen Reaktionen die eigenen Absichten, Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen, in Zeiten eines dräuenden Krieges zwischen Arm und Reich hervorrufen können. Immerhin basiert die überwiegende Anzahl an kulturellen Bildungsangeboten auf einem affirmativen Partizipationsverständnis und damit auf der Annahme, jungen Menschen jedweder sozialer Herkunft etwas Gutes zu tun, wenn eine professionelle Vermittlerszene versucht, sie mit dem Angebot des Kulturbetriebs vertraut zu machen.
„Wir brauchen keine Bücher. Wir brauchen die Unterstützer im Kampf gegen soziale Diskriminierung.“ (ein 17jähriger Pariser)
Was aber, wenn AdressatInnen dieses Angebot als ihnen nicht gemäß, vielleicht sogar als gegen sie gerichtet einschätzen? Immerhin könnten sozial Benachteiligte auf die Idee kommen, das kulturelle Angebot stelle gar kein gemeinsames Gut dar, an dem sie eingeladen sind teilzuhaben, sondern einen Bestandteil eines gegen sie gerichteten Systems, das es gelte, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Dann mutierten Bibliotheken und andere kulturelle Einrichtungen zu Symbolen für einen Staat, der ihnen Teilnahme im umfassenden Sinn verwehrt und sie stattdessen mit kulturellen Teilnahmealmosen abspeist. O-Ton eines jungen Zuwanderers: „Sie stellen uns Bibliotheken hin, um uns einzuschläfern. Damit wir schön ruhig in unserer Ecke bleiben und Märchen lesen. Wir brauchen keine Bücher. Wir brauchen Arbeit“.
„Partizipation“ als Taktik, die bestehende kulturelle Hegemonie aufrecht zu erhalten?
Der Architekt Markus Miessen hat 2012 im Merve-Verlag den Band „Albtraum Partizipation“ herausgebracht. Vor dem Hintergrund des aktuellen Partizipations-Hypes warnt er vor allzu euphorischen Einschätzungen von Teilhabe und Mitwirkung. In seinem, im Buch abgedruckten Gespräch mit der belgischen Politikwissenschafterin Chantal Mouffe wird deutlich, wie sehr Hoffnungen auf Partizipation dazu neigen, die spezifisch politische Dimension unter den Tisch fallen zu lassen. Dabei sind es gerade die unterschiedlichen Interessen und der daraus resultierende Umgang mit Konflikten, der darüber entscheidet, ob Partizipation emanzipatorischen Ansprüchen genügt oder es nicht doch bei der Zurichtung in die bestehenden Gewaltverhältnisse bleibt.
Dieser blinde Fleck erweist sich im Bereich der Kunst- und Kulturvermittlung dort am gravierendsten, wo die jeweiligen Zielgruppen nur in den seltensten Fällen als Interessensträger eigener Anliegen wahrgenommen werden. Und in der Tat gibt es bislang keinen kollektiven Aufschrei benachteiligter Zielgruppen, endlich Zugang zum Kulturbetrieb zu erhalten. Diesbezügliche Formen des Aufbegehrens „Ich will da hinein!“ halten sich in engen Grenzen. Es sind stattdessen die Kunst- und KulturvermittlerInnen, die ihre Aufgabe darin sehen, spezifische kulturelle Ansprüche von den Benachteiligten zu behaupten, um sie danach in einem Gestus der Unterstützung und der Hilfestellung zu realisieren, in der Hoffnung, damit das Interesse für die Sache der Kultur bei den bislang vermeintlich Interesselosen zu wecken.
Eine solche Haltung der wohlwollenden Anleitung im Umgang mit den eigenen kulturellen Vorlieben verhindert jede Einsicht, dass sich hinter dieser paternalistischen Form der Kommunikation ein ganz grundsätzlicher Konflikt verbirgt. Die Verweigerung, das Verhältnis zwischen Anbietern und Zielgruppen als konflikthaft zu erkennen, führt offenbar dazu – siehe französische Bibliotheken – dass sich bei den stummen AdressatInnen die Absichten aller noch so gut gemeinten Versuche, „allen Menschen den Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen“ in ihr Gegenteil verkehren. Das Ergebnis wäre nicht kulturelles Empowerment sondern ein Anheizen einer Zerstörungswut bei denjenigen, die keine konstruktive Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu artikulieren und der (kulturellen) Verfasstheit der eigenen Existenz eigenständig Ausdruck zu geben.
Weit und breit keine Korrelation zwischen der Teilnahme an Kulturaktivitäten und der Interessensartikulation junger Menschen
Bleibt die Verwunderung, wie es sein kann, dass sich KulturpolitikerInnen im Anspruch sonnen, Kunst- und Kultureinrichtungen für benachteiligte Zielgruppen zu öffnen während diese daran arbeiten, ihre Zerstörungswerkzeuge zu schärfen. Dabei bräuchten Entscheidungsträger nur einen Blick in eine Vielzahl von Studien zu werfen, die deutlich machen, dass „die Teilnahme an Kulturaktivitäten nicht einhergehen mit einem Interessenszuwachs der jungen Bevölkerung“. So ist die deutsche Kulturforscherin Susanne Keuchel just im Jahr der massiven Ausweitung der französischen Bibliotheksbrände in Bezug auf nachhaltige Wirkungen von Kulturvermittlung 2014 zum Schluss gekommen, dass eine vermehrte Teilnahme an Vermittlungsprogrammen „nicht dazu führt, dass sich die Interessen der jungen Leute im Sinne eines breiten Kulturbegriffs, der beispielsweise neben dem Besuch klassischer Kultureinrichtungen, wie Museen oder Theater, auch den Besuch eines Rock-, Popkonzerts oder Poetry-Slam-Veranstaltung mit beinhaltet, positiv verändern“.
Und sie wissen nicht, wie man ein Buch hält
Noch mehr relativiert werden die Versuche einer nachhaltig wirksamen Kulturvermittlung, wenn wir über die europäischen Grenzen schauen. Im Rahmen einer Tagung international vergleichender kulturellen Bildungsforschung in Utrecht berichtete David Johnson vom Centre for Comparative and International Education an der Universität Oxford über Forschungen zum Gebrauch von modernen Kulturgütern in ausgewählten Ländern. Seinen Ergebnissen zufolge wäre in einer Reihe von Ländern eine Mehrheit junger Menschen mit Errungenschaften des modernen Kulturbetriebs (Buch, Theater, Film…) überhaupt nicht vertraut, ohne dass sie das als einen Mangel erleben würden: Mehr als 50 Prozent von Achtjährigen zum Beispiel im Sudan oder im Jemen könnten nicht zwischen der Vorder- und der Rückseite von Büchern unterscheiden, beziehungsweise ob diese ihnen in lesbarer Ansicht oder auf dem Kopf gestellt gezeigt wurden. Jetzt weiß ich nicht, zu welchen Ergebnissen entsprechende Settings in Banlieues so mancher französischen Stadt geführt hätten; Johnsons Schlussfolgerungen liefen in jedem Fall darauf hinaus, den Anspruch eines verbindlich zu vermittelnden Kanons an kulturellen Ausdrucksformen zu hinterfragen und in der Kommunikation mit den befragten Menschen zu aller erst dort anzusetzen, wo diese in der Lage sind, Wünsche und Erwartungen zu artikulieren.
Bezogen auf den europäischen Kontext würde das bedeuten, mit der Bezeichnung von sozialen Gruppen als „Benachteiligte“ nicht nur die Ursachen für diese mitzuliefen, sondern auch die (politischen) Kräfte zu benennen, die eine solche herbeiführen (eine solche Klärung könnte auch zu einer zumindest partiellen Entlastung von VermittlerInnen führen, die sich so nicht mehr im überfordernden Auftrag sehen müssen, gegenüber benachteiligenden Umständen mit spezifisch kulturellen und damit denkbar ungeeigneten Mitteln kompensatorisch wirken zu sollen).
Ist das Desinteresse an Kulturpolitik in Österreich bereits allumfassend?
Noch brennen die österreichischen Kultureinrichtungen nicht (und werden es hoffentlich auch in absehbarer Zeit nicht tun); gleichzeitig zeichnen sich im Bereich der staatlichen Kunst- und Kulturverwaltung umfassende Veränderungen ab, die darauf hindeuten, dass kulturpolitisch bald kein Stein auf dem anderen bleiben könnte. Da ist einerseits der unübersehbare Wille des für Kunst und Kultur zuständigen Bundesministers Josef Ostermayer, auf Grund der angespannten Budgetsituation sukzessive eine Verlagerung der Förderpraxis vom Bundes auf die Länder (Stichwort: Kulturhoheit der Länder) vorzunehmen. Und da ist andererseits hinter den Kulissen eine umfassende Strukturreform der Kunst- und Kulturverwaltung im Gange, die von einer Neuausrichtung der Bundestheaterholding bis zur Zusammenlegung der bisher getrennt geführten Kunst- und Kultursektionen im Bundeskanzleramt reicht.
Alle diese Maßnahmen bleiben bislang unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle und auch von kulturpolitischen Interessensvertretungen weitgehend unkommentiert. Es scheint einfach niemanden mehr ernsthaft zu interessieren, dass es in diesen Tagen im Gewand einer pragmatischen Verwaltungsreform zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung kulturpolitischer Ziele kommt. Keine Rede von entsprechenden Partizipationsangeboten, um ein Set an alternativen Szenarien zu entwickeln (warum nicht darüber nachdenken, einen ausgelagerten Österreichischen Kulturfonds nach dem Vorbild von „Arts Councils“ zu implementieren, der die Kunst- und Kulturförderung aus der staatlichen Bevormundung entlässt); statt dessen bleiben die Betroffenen bei der Ausformulierung weitgehend ausgeschlossen. Eine doch sehr andere Vorgangsweise im Vergleich zu den Bemühungen etwa um das „Weißbuch zur Reform der Kulturpolitik“ in den späten 1990er Jahren, als es zum letzten Mal zu einer breiteren Diskussion um eine bestmögliche Organisation österreichischer Kulturpolitik gekommen ist (ohne freilich die Resultate in entsprechende Maßnahmen zu übersetzen).
Die Länder übernehmen die Lehrer und die Landeshauptleute profilieren sich als Totengräber staatlicher Bildungspolitik
Und noch auf eine weitere bedrohliche Entwicklung möchte ich hinweisen. Die VertreterInnen kultureller Bildung in Österreich mussten spätestens mit dem Amtsantritt von Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek zur Kenntnis nehmen, wie personenbezogen bildungs- und kulturpolitische Schwerpunkte mittlerweile verhandelt werden. Von einem Tag zum anderen wurde – auch das öffentlich weitgehend unkommentiert – der von ihrer Vorgängerin Claudia Schmid vorgetragene Schwerpunkt der Kulturvermittlung sang- und klanglos durch frauenpolitische Ambitionen der Amtsträgerin ersetzt.
Jetzt folgt der nächste Streich, wenn sich der Verdacht erhärtet, die Zuständigkeit für das Unterrichtspersonal solle künftig auf die Bundesländer verteilt werden. Auch in diesem Fall handelt es sich – scheinbar – bloß um einen Akt der Verwaltungsreform im föderal verfassten Kleinstaat Österreich. Und doch steckt wesentlich mehr dahinter: Immerhin hat der australische Bildungsforscher John Hattie anhand einer Metaanalyse einer Vielzahl von internationalen Studien zu den wirkungsvollsten pädagogischen Faktoren in der aktuellen Schulentwicklung aufgezeigt, dass es vorrangig die LehrerInnen sind, die einen guten Unterricht ausmachen.
Und genau um diese, beziehungsweise um die politische Zuständigkeit tobt seit vielen Jahren ein erbitterter Kampf zwischen dem Zentralstaat und den neun Bundesländern. Mit der Entscheidung, der durch eine Reihe von Gefechten mit den konservativen Kräften gezeichneten Bildungsministerin, den politischen Begehrlichkeiten der Länder nachzugeben, zeichnet sich jetzt per Erschöpfung eine Lösung ab, im Rahmen dessen das Bildungsministerium als Motor von Schulentwicklung seine Selbstabschaffung betreibt. Offenbar als persönlicher Befreiungsschlag inszeniert (sollen sich doch künftig die Länder mit den Lehrergewerkschaften herumraufen) begibt sich damit der Bund einer zentralen Steuerungsmöglichkeit und öffnet der Durchsetzung vielfältigster Partialinteressen Tür und Tor.
Nachdem die Lehrpläne an Österreichs Schulen ohnehin nur als nur wenig relevant angesehen werden und sich angesichts einer konservativen Grundstruktur des Landes gepaart mit bildungspolitischem Dilettantismus auch keine Lösung für eine gemeinsame Schule der 10 bis 14-jährigen abzeichnet, bedeutet dieses Zugeständnis an die Begehrlichkeiten einzelner Provinzkaiser de facto das Ende staatlicher Bildungspolitik in Österreich. Und die Brandstifter aller Art erhalten einmal mehr Auftrieb.
Bildnachweis: La Petite Bibliothèque Ronde à Clamart © Marie D Martel @flickr.com
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