Der Ritt der vier Kulturapokalyptiker über die deutsche Kulturlandschaft
In diesen Tagen fand ein sehr seltenes Ereignis statt: Eine Pressekonferenz zu Kulturpolitik in Wien. Eingeladen hatten die Grünen, die damit die Öffentlichkeit von ihren hohen ethischen Ansprüchen innerhalb des Kulturbetriebs in Kenntnis setzen wollten. Auslöser war wohl ihr Erfolg im Bemühen, die Amtszeit von Gerald Matt als autokratischer Direktor der Kunsthalle Wien zu beenden.
Es war interessant, den beiden grünen Kulturpolitiker Wolfgang Zinggl und Klaus Werner Lobo, der eine als kritischer Oppositionspolitiker im Bund und der andere als loyaler Koalitionspartner in Wien, dabei zuzuhören, wie sie nebeneinander versuchen, mit ihren verschiedenen Rollen umzugehen und doch auf einer gemeinsamen Linie zu bleiben.
Einig waren sich beide, dass die „fetten Jahre“ vorbei seien. Auch die Grünen rechnen damit, dass die öffentlichen Kunst- und Kulturbudgets in den nächsten Jahren bestenfalls stagnieren, wahrscheinlicher aber signifikant sinken werden. Darauf begründen sie ihren Anspruch, besonders genau auf die Gestionierung der „großen Tanker“ zu schauen und selbstherrliche Regime wie Winfried Seipel im Kunsthistorischen Museum, Peter Noever im MAK oder eben Gerald Matt in der Kunsthalle nicht mehr tolerieren zu wollen.
Aber auch den Grünen ist klar, dass selbst bei sparsamster Haushaltsführung die wenigen großen Kultureinrichtungen die Förderspielräume für alles andere, was den Reichtum des Kunst- und Kulturschaffens ausmacht, immer weiter einschränken werden und eine auf Kontinuität abzielende Kulturpolitik früher oder später wird sagen müssen: Nix geht mehr.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Hinweis auf den jüngsten publizistischen Eklat fällig, den die vier selbsternannten „Kulturapokalyptiker“ (Klaus Nüchtern im Falter) Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz durch die Herausgabe des Buches Kulturinfarkt – Von allem zu viel und überall das Gleiche heraufbeschworen haben.
Die drei deutschen und der eine Schweizer Kulturmanager haben damit – jedenfalls in Deutschland – eine breite öffentliche Diskussion angestoßen, in der das Buch einerseits ziemlich einheitlich verrissen wurde und andererseits die Kritiker dazu animiert hat, an ihrer eigenen kulturpolitischen Theorie zu feilen. (). Und zumindest für eine kurze Zeit zeigte sich im deutschen Feuilleton noch einmal die mögliche Intensität eines kulturpolitischen Diskurses, der sich hierorts weitgehend auf die pragmatische Behandlung persönlicher Allüren einzelner Kulturmanager reduziert hat.
Die großen Tanker fressen die vielen kleinen auf – Auf dem Weg zu einer Monokultur?
Klaus Werner Lobo war einer der wenigen Stimmen neben Elisabeth Mayerhofer von der IG Kultur, die sich in Österreich zum „Kulturinfarkt“ zu Wort gemeldet haben. In seinem Blogbeitrag auf "The Gap" kommt er zu einem ähnlichen Schluss wie die Autoren, wonach Millionenbeträge für aufgeblasene Kulturtanker verwendet würden, „die dank Inflationsanpassung und steigenden Personal- und Pensionskosten immer gefräßiger und dabei gleichzeitig immer träger“ würden, während sich „innovative, gesellschaftskritische Initiativen, neue Kulturgenres (etwa im Bereich der digitalen Kunst), migrantische und andere marginalisierte Gruppen…..sich mit beschämend geringen Förderbeträgen begnügen“ müssten. (Es ist eine besondere Ironie, dass Werner Lobo hier eine staatlich gelenkte und doch idealtypisch marktkonforme Entwicklung beschreibt, die von einer Vielzahl von MarktteilnehmerInnen über Oligopole zu Monopolen führt.)
Haselbach und Co haben in ihrer „Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention“ eine einfache Antwort auf diese historisch gewachsene Angebotskonzentration. Sie fordern schlicht, rund die Hälfte der Einrichtungen zuzusperren und die freiwerdenden Mittel in Richtung neuer, marktförmiger Initiativen umzuverteilen. Dieser Vorschlag führte zu geharnischten Protesten der deutschen Interessenvertretungen, wobei man schon den Eindruck gewinnen kann, diese „Verräter“ wären ihnen wie gerufen gekommen, wenn es darum geht, das eigene verstaubte Profil aufzupolieren.
Bezeichnend, dass in Österreich diejenigen, die die Botschaft potentiell betreffen könnte, nicht einmal mit der Wimper gezuckt haben. Immerhin die Vorstellung, die Hälfte aller etablierten Kultureinrichtungen im Zentrum Wiens sollten zugesperrt werden scheint ungefähr so abwegig wie die Vorstellung, dort dürften keine Autos mehr verkehren.
Die Autoren haben auch die Schuldigen für diese Form der kulturpolitischen Stagnation zur Aufrechterhaltung institutioneller Ungleichheit gefunden. Die VertreterInnen einer „Kultur für alle“ seien es gewesen, die versucht hätten, den elitären Charakter des Kulturbetriebs zugunsten einer Demokratisierung von Kultur zu überwinden. Und weil das nicht gelungen sei, hätten wir es heute mit der „Fortsetzung einer Kulturpolitik zu tun, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Legitimation aus ihrer nachhaltigen Erfolglosigkeit beziehen“ würde.
Also musste nochmals Hilmar Hoffmann als legendäre Galionsfigur dieser kulturpolitischen Richtung der 1970er Jahre aus dem verdienten Ruhestand geholt und zum Interview gebeten werden. Und auch bei ihm hat die Provokation ganz offensichtlich gewirkt. Unter der Überschrift Das ist intellektuell fahrlässig zieht Hoffmann ungeschminkt vom Leder: „Das ist nicht einmal populistischer Unfug. Das ist hanebüchen bürokratisch geschrieben, dass man nach den ersten drei Absätzen schon seine Leselust verliert“.
Ich muss zugeben, dass in mir angesichts dieses Rundumschlags vor allem die Hoffnung aufgetaucht ist, so nicht alt werden zu wollen: Kein Sinn mehr für den Charakter einer Provokation, keinerlei Neugierde über die Beweggründe, keine Bereitschaft, Anregungen daraus zu ziehen, auch wenn man mit dem Befund nicht einverstanden ist. Statt dessen Selbstverteidigung pur mittels Wiederholung von Leerformeln, die in ihrer Ironielosigkeit den Vergleich mit denen der Kulturinfarkt-Autoren nicht zu scheuen brauchen.
Auf dem langen Weg zu Mündigkeit und Vielfalt
Im Unterschied zu Hoffmann habe ich in dem Buch durchaus eine bedenkenswerte Anregung auf S. 178 gefunden. Dort heißt es: „Der Mensch ist mündig“ bzw. „BürgerInnen sind keine reparaturbedürftigen Individuen, deren Schäden Kulturpolitik beheben müsste“.
So what, könnte man fürs Erste meinen, vor allem dann, wenn die inhaltliche Ausformulierung von „Mündigkeit“ angesichts immer größerer Komplexität und Zwanghaftigkeit unser aller Lebenswelten immer schwerer gelingt. Und in der Tat, die Autoren verschwenden darauf nur wenig Energie.
Und doch: Es gibt eine entscheidende Tragweite der Aussage, die auf den Mangel an demokratiepolitischen Überzeugungen insbesondere im Kulturbereich verweist. Dieses strukturelle Defizit hat Gründe und kann mit einem Drei-Phasen-Modell erklärt werden:
Die erste Phase, die zusammenfällt mit der Errichtung der kulturellen Infrastruktur, die bis heute den größten Teil der öffentlichen Kulturbudgets verschlingen und damit die Kulturpolitik zumindest implizit bestimmen, war explizit demokratiefeindlich und geprägt durch ein weitgehend konservatives Kulturverständnis einer privilegierten Elite, die erfolgreich versucht hat, mit staatlichen Mitteln ihren Status der Kultiviertheit gegenüber der Masse der Kulturlosen (denen schon auf Grund ihrer unzulänglichen Herkunft nicht zu helfen ist) zu zelebrieren.
Die zweite Phase ist geprägt vom angesprochenen Reparaturbedarf. Es galt, die Massen aus ihrer unverschuldeten Kulturlosigkeit zu befreien und sie in die lichten Höhen des Kulturbetriebs zu heben. Auf diesem Anspruch basiert zumindest die erste Generation von Vermittlungsprogrammen, die versucht haben, mehr Menschen für das, eine herbeikonzipierte nationale Kulturstaatlichkeit repräsentierende, Kulturgut zu interessieren und vertraut zu machen. Diese Aufgabe – und da stehen die Autoren von Kulturinfarkt mit ihrem Befund nicht allein – ist in weiten Teilen nicht gelungen. Nach wie vor haben wir es mit ähnlichen Prozentsätzen von regelmäßigen BesucherInnen traditioneller Kultureinrichtungen wie in den 1970er Jahren zu tun, auch wenn sich die soziale Zusammensetzung zwar nicht grundlegend so doch etwas verbreitert hat.
Dieses Scheitern dieses paternalistischen Kulturpolitikanspruchs wurde kompensiert durch einen ungeahnten Aufschwung einer kulturindustriellen Produktionsweise, die damit eindrucksvoll das emanzipative Potential des Kapitalismus unter Beweis gestellt hat und zu einem bislang ungeahnt vielfältigen Kulturangebot geführt hat. Womit wir in der dritten und damit aktuellen Phase angelangt wären.
Und so ist Kulturpolitik damit konfrontiert, dass die ehedem Kulturlosen zu durchaus eifrigen KulturkonsumentInnen mutiert sind, wobei sie ihre Kaufentscheidungen nicht von kulturpolitischen Imperativen sondern von ihren persönlichen Vorlieben, Geschmäckern, denen ihrer peer groups, vor allem aber von der individuellen Kaufkraft abhängig machen. Der Vorteil: KulturkonsumentInnen können scheinbar „frei“ über „ihre“ Kultur bestimmen. Auf den Kulturmärkten haftet ihnen kein Makel der Reparaturbedürftigkeit an. Ihre Mündigkeit beziehen sie ausschließlich aus den für sie für sie stimmigen Kaufentscheidungen, wie sehr diese auch von überwältigenden Werbekampagnen der großen privaten Kulturplayer beeinflusst sein mögen (nicht umsonst heißt es, da oder dort mit dabei zu sein, sei ein „must“).
Die Autoren ziehen daraus den Schluss, auch öffentliche Kulturpolitik und die von ihr anhängigen Kultureinrichtungen sollte sich in ihren Grundzügen an den Marktkräften orientieren, die besser als jede Form der staatlichen Privilegierung in der Lage wären, einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage herzustellen. Sie habe sich darauf zu beschränken, eine überkommene nationale Kulturstaatlichkeit zu überwinden und stattdessen geeignete Bedingungen für einen Markt zur Produktion kultureller Waren aller Art sicher zu stellen.
Spätestens an dieser Stelle bricht nochmals ein fundamentales Dilemma von Kulturpolitik hervor, die sich innerhalb einer mittlerweile alle Lebensbereiche durchdringende Ideologie der Marktwirtschaftlichkeit zu legitimieren hat.
Folgende Lösungen bieten sich an:
– man kann die Autoren dafür verurteilen, dass sie es gewagt haben, an einem Tabu zu rühren und statt dessen weiterhin stereotyp behaupten, Kulturpolitik habe sich in ihrer traditionellen Angebotsorientierung auf die Funktion eines materiellen ebenso wie ideologischen Schultzschildes für eine Reihe selbstreferentiell agierender Kultureinrichtungen zu beschränken. Auf diese Art könne die Nachfrageseite (und damit das zunehmend an privaten Kulturmärkten geschulte NutzerInnenverhalten) weiterhin als zweitrangig verhandelt werden;
– man kann versuchen, Kulturpolitik und Bildungspolitik eng aufeinander beziehen. Immerhin bietet dies eine gute Gelegenheit, den Anspruch auf Vormundschaft zumindest gegenüber potentiell kulturell Bildungswilligen auf ihrem Weg zur Mündigkeit aufrecht zu erhalten (eine Form der Legitimation, die in Form der Instrumentalisierung des Kulturbetriebs nach der ersten Euphorie der 1970er Jahre zuletzt nochmals eine starke Konjunktur erfahren hat) oder
– man kann sich nochmals auf das unsichere Terrain des Eigensinns künstlerischer Produktionsweise begeben (die um ihre ökonomischen Bedingungen weiß und sich doch nicht darin erschöpft).
Lässt sich Kulturpolitik auf Kulturmanagement reduzieren?
Es ist gerade der letzte Punkt, der im Buch „Kulturinfarkt“ zu kurz kommt. In ihrer Bereitschaft zu kritikloser Marktaffirmation scheint ihnen die inhaltliche Begründung von Kulturpolitik und damit das, was KünstlerInnen machen, warum sie es machen und für wen sie es machen, aus dem Blick geraten zu sein (vielleicht auch, weil sie es gewohnt sind, sich als Kulturmanager mehr mit der formalen Seite ihres Geschäfts als mit seiner inhaltlichen Begründung zu beschäftigen).
In keinem Satz dringt im Text die Leidenschaftlichkeit, das Unbedingte und das Visionäre durch, das KünsterInnen (aber durchaus auch RezipientInnen) auf immer neue Weise antreibt, die herrschenden Regeln der Betrieblichkeit gerade nicht zu befolgen sondern außer Kraft zu setzen, zumindest für einen Moment zu überwinden und damit von der Wirklichkeitsform in die Möglichkeitsform überzuwechseln.
Zu dieser Möglichkeitsform gehört es, der kulturellen Mündigkeit aller BürgerInnen durch ein neues Verhältnis zwischen KulturproduzentInnen und RezipientInnen Ausdruck zu verleihen. Im Gegensatz zu den Autoren bin ich davon überzeugt, dass sich ein solches gegenseitiges Interesse und damit verbundene Empathie nicht in der Rollenzuweisung (Warenproduzent trifft Warenkonsument) innerhalb der herrschenden Marktmechanismen erschöpft.
Dafür eine neue Generation von Vermittlungsaktivitäten zwischen mündigen KünstlerInnen und mündigen RezipientInnen auf Augenhöhe (bzw. auf der Höhe der politischen, ökonomischen, sozialen, technologischen, kulturellen und ästhetischen Verhältnisse) zur Schaffung neuer gemeinsamer Erfahrungsräume zu entwickeln, wäre eine ebenso anspruchsvolle wie lohnende kulturpolitische Aufgabe.
Dazu findet sich leider nichts in „Kulturinfarkt“. Und auch die Vertreter der Grünen haben im Laufe ihrer Pressekonferenz das Wort Vermittlung nicht in den Mund genommen.
Was ich schade gefunden habe.
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