Die Angst vor der „kulturellen Machtverschiebung“
Vor ein paar Tagen veröffentlichte der neoliberale Chefideologe Christian Ortner ein Pamphlet mit dem Titel „Verbietet Schiller, Goethe und Shakespeare endlich!“. Darin erregt er sich über die deutsche Schauspielerin Thelma Buabeng, die 1984 als Kind mit ihrer Familie aus Ghana nach Deutschland gezogen ist. Eine Äußerung von ihr, wonach es „langweilig, irreleitend und daher irrelevant“ wäre, immer wieder “Texte von alten, toten, weißen Männern zu sprechen, die aus rein männlicher Perspektive auf die Welt blicken. Die komische Frauenbilder haben, wo Frauen entweder Heilige oder Huren sind.” muss ihn ziemlich auf die Palme gebracht haben. Von seinem Hochsitz aus beschränkt er sich nicht auf eine Gegenrede, wonach für ihn die Texte einiger weniger klassischer Autoren weiterhin von zentraler Bedeutung wären. Er packt sein ganzes verbales Instrumentarium aus, um seinem umfassenden Kulturpessimismus Ausdruck zu geben: Ortner ortet gleich das Ende des Kulturbetrieb und fürchtet angesichts des wachsenden Mitwirkungswillens von Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen den Zusammenbruch von Zivilisation und Aufklärung. Dazu packt er den Vorwurf, Menschen wie Thelma Buabeng ebneten einem neuen Faschismus den Weg, der – infam wie die Fremden sind – noch dazu im aufklärerisch-feinen Gewand auftreten würde.
Diversität als infames Betriebsmittel eines „neuen Faschismus der Wohlmeinenden“ (Ortner)?
Da mutiert offenbar ein neutraler Kommentator des Zeitgeschehens zum Kulturkämpfer. Und doch verbirgt sich hinter seiner Angriffigkeit eine große Unsicherheit. Jene kann nicht aushalten, dass es in einer diversen Gesellschaft nicht mehr eine sakrosankte Instanz, und hieße sie Ortner gibt, die über eine hinreichend Definitionsmacht verfügte, um zu sagen, was kulturell von Belang ist und was nicht. Mit seinem wütenden Ohnmachtsgefühl ist er nicht allein. In etwas abgeschwächter Manier äußerte sich zuletzt auch der Kulturredakteur der Presse Wilhelm Sinkovicz. In einem Beitrag „Ist „Black“ in Europa noch „Beautiful“?“ stellt dieser entlang der jüngsten Otello-Aufführung an der Wiener Staatsoper den zunehmend sensiblen Umgang mit diskriminierenden Rollenzuschreibungen innerhalb des klassischen Repertoires in Frage. Allein die Entscheidung einer jüngeren Regiegeneration, in ihren Inszenierungen ohne Blackfacing auszukommen, bringt seinen lang eingeübten kulturellen Suprematieanspruch ins Wanken. Die Tatsache, dass sich mittlerweile die führenden Opernhäuser darüber Gedanken machen, ob die in historischen Stücken vorgeschriebene Repräsentation strukturell benachteiligter Menschen aus einer engen künstlerisch-qualitativen Perspektive einfach weiterhin kritiklos übernommen werden soll, ist ihm ein Verrat an der Kunst.
Während sich Sinkovicz aber auf die Frage beschränkt, ob man angesichts des wachsenden Terrors einer aus den USA importierten Cancel Culture schon bald das Papageno-Tor am Theater an der Wien würde schleifen müssen, rüstet sich Ortner bereits für den kulturellen Endkampf. In einer Gesellschaft, in der zugewanderte Menschen wie Thelma Buabeng (sie steht damit bei Ortner und seinen Zeitgenoss*innen für alle Menschen, die keine Ahnung haben von der „richtigen Kultur“, mehr noch, diese aufgrund ihrer Herkunft erst gar nicht haben können) den Ton angeben, würden sich künftig Schiller und Shakespeare nur mehr in Kellertheatern wiederfinden. Um das zu verhindern, ist Ortner jeder Vergleich recht: Haltlos setzt er die kritischen Einordnungsversuche eines überkommenen Kanons europäischer Kulturleistungen durch eine neue Generation weltoffener Künstler*innen in ein unmittelbares Verhältnis zur Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Folglich gälte es jetzt, das große Kulturgut mit aller Macht gegen den Feind, und sei es den in den eigenen Reihen zu verteidigen.
Menschen wie ich hadern gerade mit der en vogue gewordenen Zuschreibung „alter weißer Mann“, zumal deren Verwendung gerade durch die Angesprochenen nicht so mancher Koketterie entbehrt. Und doch überkommt mich das Gefühl, dass mit solchen völlig überzogenen Verteidigungsstrategien eben dieser Gruppe die Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierung ins Herz des kulturbetrieblichen Geschehens vorgedrungen ist. In den letzten Jahren gerne als exotisches Ausnahmephänomen verdrängt, zeigen die Reaktionen von Akteuren wie Ortner oder Sinkovicz, dass wir es ab sofort mit einem zentralen Problem des Kulturbetriebs zu tun haben, dessen Behandlung über etwa das, was Popmusik zur kommerzialisierbaren Identitätsstiftung anbietet, hinausreicht…….
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Bild: Wiener Konzerthaus ©wikimedia
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