Die Fremde, die Kunst und die sozialen Veränderungen
Die Urlaubszeit ist vorbei und wir sitzen wieder an unseren Arbeitsplätzen, um uns auf die neue Saison einzustimmen. Manche Reiseerfahrungen aber lassen jedenfalls mich nicht los, vor allem, wenn sie mich mit Fragen und Einsichten beschäftigen, die ich so schnell nicht vergessen kann und auch gar nicht will.
Mich hat während des Sommers ein Auftrag der Open Society Foundations (OSF) des Finanzinvestors George Soros an EDUCULT nach Zentralasien geführt, damit in eine Weltgegend, die ich – ich muss es zu meiner eigenen Beschämung gestehen – bislang kaum wahrgenommen habe. Unsere Aufgabe bestand darin, das Kunst- und Kulturprogramm der Stiftung zu evaluieren. Das gab uns die Gelegenheit, mit einer Reihe von KünstlerInnen ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, was es heißt, in dieser Region Kunst zu machen und ihre BewohnerInnen einzuladen, sich damit zu beschäftigen.
Begonnen hat der Besuch mit einem Spaziergang durch das sonntägliche Bishkek, der Hauptstadt Kirgistans, formell das einzige Land Zentralasiens mit demokratischer Verfassung (auch wenn diese mit einem hohen Korruptionsfaktor durchsetzt ist). Mein erster Eindruck nach dem Verlassen des Hotels: brütende Hitze, riesige, massenaufmarschtaugliche, jetzt aber weitgehend menschenleere Avenuen. Dazwischen einige etwas heruntergekommene gemauerte Zeugnisse der Sowjetzeit, die bis heute die zentralen Kultureinrichtungen beherbergen.
Am riesigen zentralen Platz Ala-Too, von dem aus in den letzten Jahren zwei Revolutionen ihren Ausgang genommen haben, erhebt sich vor dem martialischen Nationalmuseum das Denkmal von Manas, einem kirgisischen Helden von vor tausend Jahren. Seine Geschichte erzählt ein kirgisisches Nationalepos aus dem 18. Jahrhundert zur Verherrlichung der Sufischeichs von Shirkent und Kasan.
Bis vor wenigen Jahren stand an dieser Stelle noch eine Statue von Lenin, die – zum Unterschied zu anderen zentralasiatischen Städten – nicht zerstört oder abgebaut, sondern an die Rückseite des zentralen Gedächtnisortes gebracht wurde. Dort ist der Weltrevolutionär bis heute – geschützt von einem eigenen Gesetz – beliebtestes Fotomotiv für Hochzeiter und andere Feiernde.
Unter dem Platz, der an Wochenenden mit russischem Pop beschallt wird, befindet sich ein Labyrinth von Kellerräumen – die, wie uns später das Künstlerpaar Muratbek Djumaliev und Gulnara Kasmalieva mit ihrer Initiative East Art berichtete, für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst etwa zum Thema „In the Shadow of Hereos“ genutzt wurden. Staatliche Stellen haben diese Initiative zwar nicht finanziell unterstützt, aber immerhin einen Sicherheitsdienst gestellt.
Mich hat die Konstellation ein wenig an Wien, vor allem an das MuseumsQuartier erinnert, wo ebenfalls über der Erde die große Vergangenheit verhandelt wird, während das zeitgenössische Kunstschaffen, frei nach dem Motto „umso gegenwartsbezogener desto unterirdischer“ in den hermetischen Vulkanblock des Museums moderner Kunst verwiesen ist. Das im Wiener Jargon „Russendenkmal“ genannte Pendant zu Lenin ist zwar etwas außerhalb; dafür ist auch hier sein Bestand durch die österreichische Bundesverfassung garantiert.
Apropos Russen: Auch wenn Länder wie Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan oder eben auch Kirgistan seit den 1990er Jahren den Status der formalen Unabhängigkeit erreicht haben, so zeigt sich vielerorts ein anhaltender russischer Einfluss. Das russische Fernsehen mit seinen vielen Privatsendern ist jedenfalls in der Hauptstadt allgegenwärtig und beeinflusst das kulturelle Verhalten der lokalen Bevölkerung.
Dazu kommt der Fortbestand einer kulturellen Infrastruktur an Museen, Theatern und Konzerthäusern, die das kulturelle Selbstverständnis einer schmalen Bildungselite, die in der Sowjetära die Schule besucht hat, bis heute nachhaltig bestimmt. Erst in den Gesprächen mit KünstlerInnen wurde mir bewusst, wie deutlich die Sowjetunion als frühere Kolonialmacht den zentralasiatischen Gesellschaften einen klassischen, ins Russisch übersetzten Kulturbegriff übergestülpt hat, der viel mit Goethe, Shakespeare oder Beethoven allenfalls auch Puschkin und Tschaikowsky zu tun hat und wenig mit dem vielsprachigen Forterzählen lokaler Volksepen.
Jetzt versucht sich die staatliche Kulturpolitik zumindest programmatisch – in der Hoffnung auf Stärkung der nationalen Identität – wieder stärker auf ein vorsowjetisches lokales kulturelles Erbe zu beziehen. Die Realität im Kulturbetrieb zeichnet sich hingegen durch eine weitgehende Fortschreibung einer russischen Kulturhegemonie ab, die bis weit in die Ausbildung von KünstlerInnen an den Kunstakademien reicht, in denen der „soziale Realismus“ bis heute den beherrschenden Qualitätsmaßstab bildet.
Nicht nur in den Katakomben des Ala-Too-Platzes, sondern auch in einigen anderen Nischen versuchen sich einige vorwiegend junge KünstlerInnen als Avantgarde neuer Kunstformen zu etablieren und sich das, was hierzulande als „Konzeptkunst“ verhandelt wird, anzueignen. Ihre Realisierungsmöglichkeiten sind mehr als bescheiden. Sie agieren zumeist isoliert, umso mehr als staatliche Stellen – wenn überhaupt – vorrangig traditionelle Seilschaften bedienen und „neuer Kunst“ weitgehend verständnislos gegenüber stehen.
Ihre VertreterInnen stellen gerne unmittelbare, zum Teil extreme Körpererfahrungen in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten. Ihre Videos und Performances sind durchaus als Provokationen angelegt, die beabsichtigen, traditionelle Kunstvorstellungen zu irritieren, wenn nicht gar zu überwinden. Insbesondere über die kasachische aktuelle Kunstszene gibt einen sehr erhellenden Film des englischen Kunstkritikers Waldemar Januszczak „Kazakhstan Swings“, der von einigen, durchaus extremen Kunstaktionen berichtet. Der Film war bis vor wenigen Tagen auf youtube zu sehen, wurde jedoch – aus welchen Gründen immer – jüngst vom Netz genommen.
Bei unseren Beobachtungen konnten wir feststellen, dass diese Szene bislang nicht über ein breites Publikum verfügt. Die Rezeption der Arbeiten beschränkt sich stattdessen auf einen kleinen Kreis von KennerInnen, ein Umstand, der die beteiligten KünstlerInnen in erster Linie darauf hinarbeiten lässt, international zu reüssieren als auf nationale Anerkennung zu vertrauen.
In Ermangelung von staatlichen Förderungen ist die Szene wesentlich auf internationales Engagement angewiesen. Stiftungen wie OSF ist es in den letzten Jahren immerhin gelungen, die Überlebensbedingungen – wenn auch auf einem sehr bescheidenen Niveau – aufrecht zu erhalten, vielleicht sogar ein wenig zu verbessern (auch wenn von einem lokalen Kunstmarkt bislang keine Rede sein kann). Im Rahmen von Events wie dem Zentralasiatischen Pavillon auf der Biennale in Venedig wird ausgewählten VertreterInnen ein Zugang zum internationalen Kunstbetrieb ermöglicht.
Gerade OSF, die sich der Leitidee einer offenen, demokratisch verfassten Gesellschaft verpflichtet fühlen, betreiben dieses Engagement weniger in der Hoffnung, damit dem globalen Kunstgeschäft mit unverbrauchten innovativen Kräften aus einer bislang weitgehend vernachlässigten Weltregion neue Attraktion zu verleihen, sondern um Kunst als Instrument von „social change“ zu nutzen.
Die Stiftung kann sich dabei auf herausragende Vorbilder beziehen, wenn etwa dissidente Bewegungen in der Tschechoslowakei, in Ungarn, in Polen und auch in der Sowjetunion von Intellektuellen und KünstlerInnen (vor allem AutorInnen) getragen waren, die mit ihrem gesellschaftskritischen Engagement wesentlich zum Niedergang der totalitären Regime beigetragen haben.
Im Verlauf unseres Aufenthaltes in Zentralasien wurde ich immer unsicherer, ob ein diesbezüglicher Vergleich wirklich zulässig ist, wenn etwa die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas in der Zeit kommunistischer Vorherrschaft über einen breiten Mittelstand verfügt haben, der in der Lage war, als Träger künstlerischer Dissidenz aufzutreten. Dagegen scheint in den vergleichsweise jungen Gesellschaften Zentralasiens ein zeitgenössisches Kunstschaffen, das nicht bereit ist, sich den Stempel des herrschenden Kulturbetriebs aufdrücken zu lassen, von Weiten der überdurchschnittlich jungen Bevölkerung überhaupt nicht wahrgenommen und daher an den Rand gedrängt wird.
Im Vergleich dazu hat in den (post-)modernen Gesellschaften des Westens eine Ausdifferenzierung der Wertsphären stattgefunden, die darauf hinausläuft, dass „Kunst alles darf“. Die gesellschaftsliberalen Milieus haben dafür gesorgt, dass ihr zunehmend ihre Provokationskraft abhandengekommen ist.
Nun kann ich mir gut vorstellen, dass für viele Kunstschaffende und darüber hinaus Kunstinteressierte das letzte Stirnrunzeln eines in die Jahre gekommenen Bildungsbürgertums kein hinreichendes Kompensat für die erlittene narzisstische Kränkung darstellt. Also könnte man im Versuch einer Wiederankurbelung der künstlerischen Hoffnungsproduktion doch versuchen, wenn schon nicht hierorts, so zumindest andernorts, wo man sich noch einem umfassenden Herrschaftsdiktat zu beugen hat, diese als eine gesellschaftsverändernde Kraft in Stellung zu bringen.
Damit sind die wenigen KünstlerInnen, die sich in Kirgistan für zeitgenössische Kunst einsetzen, einem doppelten Druck ausgesetzt. Der eine besteht in der Nichtakzeptanz der lokalen Kulturpolitik, der andere in der zusätzlichen Bürde seitens westlicher Förderer, sie dort, wo die politischen Kräfte versagen, für den gesellschaftlichen Wandel verantwortlich zu erklären. Und doch sind sie als EinzelkämpferInnen, die in sehr prekären Verhältnissen agieren, die wahrscheinlich am wenigsten geeignete Gruppe, um die in sie gesetzten Erwartungen unmittelbarer Gesellschaftsveränderung zu erfüllen.
Gerne wird in dem Zusammenhang der Mut von „Pussy Riot“ ins Treffen geführt, deren Aktionen ihnen ebenso eine internationale Medienpräsenz wie zwei Jahre Haft eingetragen haben. Vergessen wird dabei aber gerne, dass diese jungen anarchistischen KünstlerInnen zusammen mit nur einigen wenigen anderen KritikerInnen, die auch aus dem Kunstfeld kommen, die Ausnahme darstellen, während es allein in Moskau zur Zeit drei Museen zeitgenössischer Kunst (und zwei für Medienkunst) gibt, deren RepräsentantInnen mit dem repressiven Charakter der russischen Regierung offensichtlich keine gravierenden Problem haben.
Die Frage bleibt also auch nach meinem Besuch, ob zeitgenössische Kunst per se gesellschaftsverändernde Wirkungen hat oder ob es nicht doch zuallererst auf das jeweilige politische Bewusstsein derer ankommt, die sich für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen, seien sie nun KünstlerInnen oder VertreterInnen anderer Berufsgruppen.
Es trifft sich, dass sich demnächst das Kunstfestival „steirischer herbst“ mit der Frage nach „künstlerischen Strategien in der Politik und politischen Strategien in der Kunst“ im Rahmen eines siebentägigen Camps beschäftigen wird, auch wenn ich in der TeilnehmerInnenliste keine VertreterInnen Zentralasiens gefunden habe.
Übrigens: Unser Evaluierungsauftrag hat uns auch nach Kasachstan geführt (das ist dort, wo unser früherer Bundeskanzler Alfred Gusenbauer den auf einem riesigen Ölbohrloch sitzenden Potentaten des neungrößten Landes der Welt, Nursultan Nasarbajev berät). Davon vielleicht ein anderes Mal mehr.
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