Die Kulturpolitik und die U-Bahn-NutzerInnen
Vergangenen Freitag war es wieder einmal so weit. Mitglieder der deutschen und der österreichischen Gesellschaft für Kulturpolitik fanden sich zu einer gemeinsamen Podiumsdiskussion mit dem Titel „Initiativen im Spannungsfeld zwischen Partizipation und Marketing“ zusammen. Und fast wie selbstverständlich verfielen die ReferentInnen rasch in ein nur allzu vertrautes Vokabular zum ewigen Lob einer „Kultur für alle“, „Kultur als Gesellschaftspolitik“ „Künstler als Avantgarde der Gesellschaft“, „mehr Förderung der öffentlichen Hand“, „Mittelumverteilung“ oder „breiter Zugang für alle“. Und so tauchte sie nochmals auf, die gute alte Zeit, in der PolitikerInnen Anspruch auf kulturellen Fortschritt erheben und Kulturinitiativen das Gefühl haben konnten, mit ihren Forderungen von der Politik wahr- und ernst genommen zu werden.
Und doch mussten selbst diese, überwiegend in die Jahre gekommenen LobbyistInnen für die kulturelle Sache im Lauf des Gespräches zugeben, zumindest in Teilen ihrer Hoffnungsproduktion gescheitert zu sein. Zu deutlich sind die Evidenzen, dass der Zuspruch gegenüber den öffentlich geförderten Kunst- und Kultureinrichtungen in den letzten Jahren nicht nachhaltig zugenommen hat („Die immer selben nutzen Kulturangebote immer öfter“). Nach wie vor ist die Nutzung ihrer Angebote stark vom erreichten Bildungsgrad (bzw. von der sozialen Zugehörigkeit) abhängig ist und auch das Verhältnis zwischen der Politik und den freien und autonomen Szenen hat schon bessere Zeiten erlebt.
Gegen diesen Kontinuitäten kultureller Ungleichheit steht die beeindruckende Zunahme eines kommerziellen Kulturangebots, das zu einer nachhaltigen Veränderung der Nutzungsgewohnheiten nicht nur einer kleinen, überkommenen Elite sondern breiter Bevölkerungsschichten geführt hat. Besonders auffällig ist das gerade in den zur Zeit innovativsten und damit kulturell höchst relevanten Sektoren, wo sich die Politik dazu entschlossen hat, erst gar keine öffentlichen Einrichtungen im Bereich der digitalen Medien zu errichten, zu betreiben oder zumindest zu fördern sondern diese von Anfang an ausschließlich der herrschenden Marktlogik zu überlassen (wodurch sie möglicher Weise einen entscheidenden Fehler wiederholt, der zu einem weitgehenden kulturpolitischen Missachtung der überragenden Bedeutung des Films als kulturellem Leitmedium des 20. Jahrhunderts geführt hat).
In Bezug auf die Einschätzung von „Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik“ blieb in der Diskussion weitgehend ausgeklammert, dass sich dieser Anspruch vor allem einer spezifischen historischen Situation verdankt. Diese zeigt sich zumindest aus heutiger Sicht als „Überschuss“ einer auf umfassende Wohlfahrsstaatlichkeit setzenden Politikgestaltung, im Rahmen derer führende KulturpolitikerInnen meinten, nicht nur Sozialleistungen sondern auch Kulturleistungen ließen sich neue verteilen (nicht so wie bisher von unten nach oben sondern auch umgekehrt). Dies wurde als ein politisch gewollter Beitrag zur sozialen Integration gesehen, der es – ganz im Sinn von „Kultur für alle“ – a la longue allen BürgerInnen ermöglichen sollte, in gleicher (oder zumindest gleichberechtigter) Weise ebenso am sozialen wie am kulturellen Leben teilzunehmen.
Diesem Zukunftsoptimismus sollten Milton Friedmann und seine neoliberalen Apologeten ein (zumindest vorläufiges) Ende machen. Sie setzten auf die nachhaltige Schwächung des politischen Integrationswillens und damit auf sukzessiven Abbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Ab sofort dessen sollte das Konkurrenzprinzip für ungebremstes Wirtschaftswachstum sorgen. Und so durchdringt das Paradigma sozialer Desintegration seit den 1980er Jahren nicht nur die unmittelbar ökonomische sondern zunehmend alle übrigen gesellschaftlichen Sphären durchdringt und auf diese Weise die kulturellen Wertvorstellungen nachhaltig verändert.
Die kulturpolitischen Konsequenzen liegen auf der Hand, wenn sich die Akteure des Kulturbetriebs gezwungen sehen, sich aus schieren Überlebensgründen als Mitwirkende dieses Konkurrenzkampfes zu positionieren bzw. an ausschließlich ökonomisch fassbaren Erfolgskriterien messen zu lassen.
Der entscheidende Hebel zum Erfolg des Neoliberalismus aber liegt in der Sinnentleerung des Politischen, um auf diese Weise die Fähigkeit der Politik überzeugende Ideen für eine bessere Zukunft zu generieren, nachhaltig zu schwächen. Damit bleibt den PolitikerInnen bestenfalls die Aufgabe, hinter den immer undurchschaubareren Winkelzügen einer zunehmend transnational agierenden Ökonomie herzuhecheln und sich dabei mit all ihren Schwächen täglich medial neu vorführen zu lassen.
Auf diese Weise erleidet der Kulturbereich den Verlust eines politischen Gegenüber, das in der Lage wäre, sich als ein ebenbürtiger Partner bei der Gegenwartsinterpretation oder gar Perspektivenentwicklung zu empfehlen. Statt dessen beschränken sich amtierende PolitikerInnen auf ihre Fähigkeiten, auf der Erfolgswelle eines kulturellen Mainstreams mit zu schwimmen. Als TrittbrettfahrerInnen der neuen kulturellen Hegemonie versuchen sie erst gar nicht mehr, den vorherrschenden Marktkräften politisch gegenzusteuern.
Die Antwort des Kulturbetriebs auf diesen Verlust könnte nicht deutlicher sein: Auch ihre VertreterInnen haben es weitgehend aufgegeben, sich an einer, wie immer gearteten gesellschaftspolitisch relevanten „Zukunftsproduktion“ zu beteiligen. Ihre vorherrschende Blickrichtung weist „zurück“ und äußert sich in einer mittlerweile unüberblickbaren Vielfalt von Retro-Stilen, die historische Versatzstücke weitgehend beliebig zu bekömmlich-affirmativen Melangen verrühren.
Das ist vielleicht einer der Gründe, warum amtierende KulturpolitikerInnen bei Veranstaltungen wie die der Kulturpolitischen Gesellschaft erst gar nicht mehr auftauchen. Sie glauben nicht mehr an die nostalgische Wiederholung der Rhetorik der 1970er Jahre, Das ist nachvollziehbar. Sie sind aber auch nicht bereit, über eine neue Rhetorik, geschweige denn neue kulturpolitische Konzepte nachzudenken, die den kulturellen Wirkungen von heute oder gar von morgen angemessen wären.
Und so sind wir heute in einer schizophrenen Situation: Wir konstatieren einerseits, dass immer mehr kulturelle Einrichtungen in immer avancierteren Marketingstrategien im Standortwettbewerb zu überbieten trachten. Gleichzeitig sind sie gezwungen, neue Zielgruppen mit neuen Formen der Partizipation an sich zu binden. Das hat zu einer Hausse an Bildungs- und Vermittlungsangeboten geführt, die – ganz im Sinn der alten kulturpolitischen Rhetorik – auch als ein Beitrag zur sozialen Integration legitimiert werden. Und gleichzeitig erleben wir eine dramatisch wachsende gesellschaftliche Desintegration, die immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft verweist und damit eben diese Bemühungen zur kulturellen Partizipation ad absurdum führt.
Oliver Scheytt von Ruhr2010 als eine der Redner der Veranstaltung sprach davon, das überkommene Konzept des Bildungsbürgers durch das des „Kulturbürgers“ zu ersetzen. Einem solchen neuen Typus kulturellen Engagements attestiert Scheytt einen souveränen Umgang mit dem Angebot sowohl des öffentlichen als auch des privaten Kulturangebots.
Den angesprochenen Widerspruch verdeutlichend sind ihm die jüngsten PISA-Daten zur Lesekompetenz entgegen zu halten, der zu folge mittlerweile rund 28% nach dem Pflichtschulabschluss nicht in der Lage sind, sinnstiftend zu lesen und zu schreiben (35% Burschen, 21% junge Frauen) und sich gar 35% der 15jährigen sich als mediale Illiteraten herausgestellt hätten.
Als was sonst als eine kapitale kulturpolitische Niederlage muss ein solcher Befund interpretiert werden, der mittlerweile zwischen einem Viertel und einem Drittel der nachwachsenden Bevölkerung die grundlegenden kulturellen Kompetenzen verwehrt, um damit am gesellschaftlichen Leben angemessen teilzunehmen oder gar als „Kulturbürger“ diese Gesellschaft aktiv mitzugestalten.
Das ist nicht die Schuld der Kultureinrichtungen und Kulturinitiativen, die sich bemühen, auf neue Zielgruppen zuzugehen bzw. auf deren Bedürfnisse abgestellte Angebote zu entwickeln. Und doch erscheint es notwendig, zur Einschätzung diesbezüglicher Wirkungen diese Bemühungen auf das zu beziehen, was gesellschaftspolitisch Sache ist, um so die engen kulturpolitischen Grenzen, in denen der Diskurs heute gefangen zu sein scheint, besser einschätzen zu können.
Oder vielleicht ist doch alles anders.
Für den Heimweg habe ich die U-Bahn benützt. Freitag ½ 11 Uhr abends. Naturgemäß waren vorwiegend junge Menschen unterwegs, viele von ihnen in Feierlaune auf dem Weg zu einer Party oder in ein Lokal. Fast alle hatten eine Büchse Bier in der Hand, viele waren „verstöpselt“ und zumindest einigen war anzusehen, dass sie schon ziemlich in der „Ölung“ und nur zu gern auf einen „Wickel“ aus waren.
Und ich bin dagesessen mit meinen Eindrücken dieser kulturpolitischen Veranstaltung, in der es angeblich um genau diese Jugendlichen und ihre kulturellen Vorstellungen, Gewohnheiten und Haltungen. Und nun waren sie unmittelbar mit mir auf engem Raum. Eine Situation, um bestenfalls ein Selbstgespräch zu beginnen, das mich u. a. fragen ließ: Was kann ich diesen Menschen von der Veranstaltung erzählen? Wie kann ich ihnen verständlich machen, um was es da gegangen ist? Was für Gründe könnte es geben, dass mir diese Jugendlichen überhaupt zu hören? Noch schwerer: Was könnte ich ihnen erzählen, damit sie antworten: klingt interessant, ja, ist eine Überlegung wert; sollte ich mich intensiver damit beschäftigen?
Ich muss zugeben, ich bin mit meinen Überlegungen nicht weit gekommen. Aber eines wurde mit unmittelbar einsichtig: In dieser Konstellation habe ich wenig Chance, meinen unbekannten Reisenachbarn Partizipation vorzuschlagen.
Und mir wurde klar: Wenn da einer Bedarf auf Partizipation hat, dann bin ich es. Und die einzige Chance, diesem Bedürfnis nachzugehen, ist, mich auf mein Gegenüber ein zulassen, zuerst einmal zuzuhören, verstehen zu lernen, wie sie „ticken“ und irgendwann einmal so etwas wie gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Die U-Bahn ist dafür wahrscheinlich nicht der optimale Platz. Aber dafür geeignete Räume aufzusuchen bzw. wenn nicht vorhanden zu gestalten, könnte eine lohnende kulturpolitische Aufgabe sein.
Denn, wenn ich mich begnüge, weiter meine kulturpolitischen Leerformeln von wegen „Kultur für alle“ vor mir herzutragen, könnte es leicht sein, dass mich meine Mitreisenden nicht mehr lange partizipieren lassen. Da könnten die, die schon jetzt in erster Linie auf einen „Wickel“ aus sind, rasch Rückenwind bekommen.
Und jetzt noch ein Hinweis: Vorige Woche ist mein Buch „Kultur und Demokratie – Systematische Darstellung der Kulturpolitik in Österreich“ im Innsbrucker Studienverlag herausgekommen. Darüber freue ich mich und lege es Ihnen zru Lektüre ans Herz.
Und weil ich meine Freude gerne mit Ihnen teilen möchte, ersuche ich Sie, mich in meinem Selbstgespräch nicht allein zu lassen wollen. Den ÜberbringerInnen der ersten Ratschläge, wie man mit meinen Mitreisenden ins kulturpolitische Gespräch kommen könnte, sende ich auf Wunsch gerne ein Gratisexemplar zu.
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