„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ (Ingeborg Bachmann)
Diesmal ein paar grundsätzlichere Bemerkungen. Anlass dafür ist ein Workshop zum Thema „International Perspectives of Research in Arts Education“, der vor einigen Tagen vom Deutschen Ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Bonn ausgerichtet worden ist. Einen Schwerpunkt der Diskussionen bildeten Versuche der Darstellbarkeit bzw. Messbarkeit des impact von arts education, darüber hinaus Fragen, ob und wenn ja welche Transfereffekte sich nachweisen lassen.
Gerade die Frage nach den externen Effekten blieb einmal mehr unentschieden; dies hat wohl auch mit den unterschiedlichen Erwartungshaltungen der ForscherInnen zu tun. Und so prallten schon einmal Behauptungen zur prinzipiellen Offenheit künstlerischer Erfahrungen auf Einschätzungen zum wachsenden Druck des Bildungssystems, auch in der kulturellen Bildung nachvollziehbare Standards und Diagnoseverfahren zu entwickeln, um so Aussagen zu (vergleichbaren) Wirkungen des Feldes zu ermöglichen.
Es ist offensichtlich, dass sich hinter diesen Verhandlungen die Tendenz verbirgt, kulturelle Bildung als einen Fachzusammenhang aus seiner traditionell isolierten und selbsreferentiellen Position zu befreien und als einen nachhaltig wirksamen Faktor (gesamt-)gesellschaftlicher Entwicklung zu profilieren.
Darüber kann man sich freuen. Und doch fällt anhand der bisherigen Beiträge zur Fachdiskussion auf, wie selektiv die Wahrnehmung dessen (noch) ist, was das „Material“ von kultureller Bildung ist und damit die konkreten Bedingungen, mit denen junge Menschen zurechtkommen müssen. Stattdessen vermischen sich im wissenschaftlichen Diskurs ungebrochen anwaltschaftliche Behauptungen (advocacy approach) mit Erfolgsgeschichten von good practices, die sich – nach meinem Dafürhalten – immer weiter von den Lebensrealitäten derer, an die sich kulturelle Bildung richtet, entfernen.
Kulturelle Bildung und ihre blinden Flecke
Eines der schlagendsten Argumente dafür scheint mir die konsequente Nichterwähnung der fundamentalen Krisenerscheinungen, denen die europäischen Gesellschaften seit nunmehr fünf Jahren ausgesetzt sind. Das mag diesmal am Austragungsort des Workshops gelegen sein, wenn Deutschland bislang vergleichsweise gut durch die Krise gekommen zu sein scheint (in dem Zusammenhang fällt mir ein, dass die griechischen KollegInnen, die etwa mit dem Melina-Mercouri-Projekt noch vor einigen Jahren wichtige Positionen vertreten haben, mittlerweile völlig von der Bildfläche verschwunden sind).
Darüber hinaus vermute ich, dass diese Form der Realitätsverweigerung auf eine spezifische Analyseunfähigkeit zurückzuführen ist, die die geänderten Arbeits- und Lebensrealitäten ihrer AdressatInnen einfach nicht einzuschätzen vermag. In der Konsequenz müssen sich die SprecherInnen – polemisch gesprochen – auf stereotype Fragestellungen, etwa ob Tanzen bessere Ergebnisse in Mathematik zeitigt oder nicht – beschränken, während sich in Europa das kulturelle Gefüge nachhaltig verändert (und mit ihm die individuellen und kollektiven Perspektiven gerade in den dynamischsten Altersgruppen).
Jetzt will ich nicht behaupten, kulturelle Bildung könnte – jedenfalls in ihrer derzeitigen Verfassung – einen signifikanten Beitrag zur Lösung der Krise leisten. Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, dafür zu plädieren, dass die Änderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Fachdiskurs überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Das wäre die Voraussetzung dafür, sich als Mitakteur zu verstehen, der darüber mitentscheidet, welche Funktion dem Sektor im aktuellen Geschehen zukommen kann bzw. zukommt. Ich beziehe mich dabei auf eine Aussage des legendären Frankfurter Kulturpolitikers Hilmar Hoffmann, der in den 1980er Jahren den Inhalt dessen, um was es bei kultureller Bildung geht, so beschrieben hat: Kultur ist „das System, das einer Gesellschaft eine unverwechselbare Gestalt und wesentliche Wertorientierungen begründet. Die Künste sind dann die ästhetischen Ausdrucksformen eben dieser Kultur“.
Wenn wir dieser Aussage auch heute noch zuzustimmen vermögen, dann kommen wir um den Befund nicht herum, dass sich das, was wir als Gesellschaft bezeichnen samt den in ihr verhandelten Wertvorstellungen beträchtlich verändert hat. Dies aber hat bislang nicht zu einer inhaltlichen Neuausrichtung kultureller Bildung geführt (am weitesten ist dabei England gegangen, das mit Projekten wie creative partnerships versucht hat, kulturelle Bildung für eine weitere Marktliberalisierung zu instrumentalisieren in der Hoffnung, damit die Berufschancen junger Menschen auf den Hoffnungsmärkten cultural and creative industries zu verbessern; ein Experiment, das unter konservativ-liberalen Vorzeichen mittlerweile eingestellt wurde).
Auf dem Weg in die Postdemokratie
Im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Diskussion sind zuletzt eine Reihe von Autoren angetreten, die aktuellen Krisenentwicklungen zu analysieren. Die meisten von ihnen kommen zu wenig erfreulichen Befunden, die in Vorstellungen post-demokratischer Verfasstheiten (siehe dazu etwa „Postdemokratie“ von Colin Crouch) münden und damit bisherige Formen der (politischen) Mitgestaltung des Zusammenlebens nachhaltig in Frage stellen.
Neben Wolfgang Streeck, der mit seinem Buch „Die gekaufte Zeit“ den Verfall des demokratischen Kapitalismus als Konstitutiv der Nachkriegsordnung beschreibt, war mir zuletzt der Beitrag von Claus Offe „Zweieinhalb Theorien über den demokratischen Kapitalismus“ (erschienen in Transit 44) hilfreich, wenn es darum geht, „die Lage“ besser einschätzen zu lernen und die daraus resultierenden Wertvorstellungen auf den Bereich kultureller Bildung zu beziehen.
Offe beginnt seinen historischen Abriss mit der Vorstellung einer sozialdemokratischen Theorie des demokratischen Kapitalismus aus den 1970er Jahren. Deren Qualität lag in einer strikten Entkopplung von (ungleich verteilten) sozioökonomischen Ressourcen und (gleichen) politischen Rechten, um zu vermeiden, Eigentum an Wirtschaftsgütern in politische Macht konvertieren zu lassen. Diese sollte als Korrektiv marktwirtschaftlicher Verungleichung auftreten und sich dabei an den jeweils herrschenden Auffassungen sozialer Gerechtigkeit orientieren, wenn es darum ging, die Ausgestaltung der Marktdynamik und die Verteilung wirtschaftlicher Güter zu beeinflussen.
Über den Verlust politischer Hegemonie – und was es dagegen zu tun gilt
Mit dem Dominantwerden einer marktliberalen Theorie spätestens seit 1989 zeichnet Offe den Versuch, eine streng symmetrische Trennung von Markt und staatlicher Politik vorzunehmen. Dabei sollten sich die Marktkräfte möglichst von staatlichen Einflüssen ungehindert entfalten können, während sich das politische System auf Garantien von Eigentumsrechten bzw. der Bereitstellung von Infrastruktur und Dienstleistungen (so auch Bildungs- und Kulturangebote) zu beschränken hätte. Als gesellschaftliche Grundlage diente eine „post-ideologische“ politische Kultur, die die BürgerInnen dazu brachte, sich zu den meisten politischen Fragen distanziert bis gleichgültig zu verhalten, um die notwendige Stabilität zu gewährleisten. Den (großen) Rest würde die Eigendynamik der Märkte ganz allein erledigen.
Das Dominantwerden der Finanzwirtschaft läutete die dritte Phase ein. Offe beschreibt die aktuellen Krisenerscheinungen und ihre Logik der gesellschaftlichen Organisation als ein Wettspiel zuallererst als ein Obsoletwerden bisheriger Gesellschaftstheorien. Ihre Charakteristik läge u.a. darin, dass ihre Dynamik – jedenfalls bislang – ohne jede normative Theorie bzw. Rechtfertigung auskommt. Stattdessen hätten die begünstigten Inhaber finanzieller Ressourcen – quasi putschartig, weil ohne demokratische Legitimation – die Agenda der politischen Entscheidungsproduktion übernommen. In einer Umkehrung der Asymmetrie der 1970er Jahre bestimmten nunmehr die „Imperative der Märkte“ die Handlungsspielräume von Politik (und nicht umgekehrt). Diese sei folglich immer weniger in der Lage, die Vorherrschaft von Akkumulation, Profit, Effizient, Wettbewerbsfähigkeit, Austerität oder Kommodifizierung zugunsten traditioneller Werte wie soziale Rechte, politische Umverteilung oder Nachhaltigkeit zu beeinspruchen.
Die Außerordentlichkeit liege in der schieren Faktizität der Vorgaben der wirtschaftlichen Entscheidungsträger, die sich eine Position erkämpft haben, von der aus sie ihre neuen brutalen Realitäten ohne jedes legitimierende Versprechen wie „Fortschritt“, „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ oder „Stabilität“ durchsetzen können und dabei die demokratisch gewählten PolitikerInnen zunehmend schwach aussehen lassen (in dem Zusammenhang belegen die aktuellen Koalitionsverhandlungen in Österreich zum mehr oder weniger großen „Budgetloch“ eindrücklich Offes These, dass nationalstaatliche Politiken, die ursprünglich angetreten waren, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen, mittlerweile durch den „allgegenwärtigen Lärm des Sparimperativs weitgehend ertaubt sind“). Die einzige verbleibende „Überlebenschance“ des Staates scheint in seiner Transformation vom „Steuerstaat“ zum „Schuldenstaat“ zu liegen. Im Zuge dessen sei er gezwungen, die Interessen und Forderungen von Akteuren auf der „Nachfrageseite“ zu negieren und die Bereitstellung von Dienstleistungen und Infrastruktur zu verringern.
Offe nennt am Ende einige Möglichkeiten, wie das – von den Angeboten der Medienindustrie zusätzlich verfestigte – „fatalistische Schweigen“ der BürgerInnen gebrochen werden könnte. Eine „Do-it-your-self-Politik“ der Zivilgesellschaft gehört hier ebenso dazu wie das Anschwellen eines gern mit ethnisch-kulturellen Ein- und Ausschlussverfahren agierenden Rechtspopulismus. Besonderes Augenmerk legt er auf neue Institutionen und Verfahren der politischen Beteiligung zur „Re-demokratisierung“ der Demokratie“: Dabei sollte den sozialen Bedingungen bzw. den argumentativen und deliberativen Verfahren besondere Bedeutung zukommen, unter denen Interessen und politische Präferenzen gebildet werden, und nicht nur die Vermehrung der Gelegenheiten, sie zum Ausdruck zu bringen.
Über den geänderten gesellschaftlichen Kontext kultureller Bildung
Dieses Dreiphasen-Modell – und das wäre im Detail auszuarbeiten – spiegelt sich auch in den Wertvorstellungen des kulturellen Bildungssektors. Immerhin verstand sich das Angebot kultureller Bildung ursprünglich als ein eminenter Beitrag zur Realisierung eines Mehr an sozialer Gerechtigkeit („Kulturpolitik als Fortsetzung von Sozialpolitik“). Diesbezügliche theoretische Ansätze beeinflussen bis heute zumindest die Absichtserklärungen von kulturellen Bildungsprogrammen, wenn es darum geht, bei der Programmentwicklung auch und gerade sozial benachteiligte junge Menschen zu berücksichtigen. Dabei weggefallen ist mittlerweile freilich der Impetus, über eine allfällige Änderung ihres kulturellen Verhaltens hinaus ihre politischen Mitwirkungsmöglichkeiten zu verbessern.
Die darauf folgende marktliberale Phase hat sowohl Form als auch Inhalt kultureller Bildungsprogramme nachhaltig verändert. Aus dieser Zeit stammt eine bislang unbekannte Sprachregelung, in die Begriffe wie „Management“, „Zielgruppenorientierung“, „Effizienz“, „Drittmittelfinanzierung“ oder eben „Impact“ als handlungsleitende Parameter Eingang gefunden haben. Im gleichen Ausmaß verringerte sich die Fähigkeit des Sektors, dem Anspruch einer „wertorientierten Marktkorrektur“ (Kurt Blaukopf) zu folgen und dabei kulturelle Bildung als ein politisches Projekt zu definieren und danach auszurichten.
Stattdessen mutierten seine VertreterInnen zu Mitakteuren (und damit Bestätiger) einer „post-ideologischen“ gesellschaftspolitischen Verfassung, die darauf setzte, die sinkende Bedeutung des Politischen durch neue Kooperationsformen mit den Marktkräften zu kompensieren. Die Beschäftigung mit der Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen wird seither tendenziell als die bessere Form des Miteinander hochstilisiert, mit dem Effekt, sich auf diese Weise über die Niederungen einer ignoranten Politik erheben zu können. Darüber hinaus – und hier zeichnet sich eine mögliche Ungleichzeitigkeit ab – diente kulturelle Bildung als einer der wenigen verbliebenen Versicherungen der ungebrochenen Stärke der Nationalstaaten angesichts der zunehmenden Hilflosigkeit des politischen Personals gegenüber den global agierenden Finanzakteuren (das würde die Hausse kultureller Bildung der letzten Jahre in einigen europäischen Ländern erklären).
Was aber ist oder kann die Bedeutung von kultureller Bildung in einer Phase post-demokratischer Entwicklung sein, in der eine Handvoll Finanzinvestoren das wirtschaftliche UND politische Regime übernommen haben und die politischen Interventionschancen dramatisch gesunken sind?
Der Schleiertanz kultureller Bildung
In Ermangelung einer theoretischen Grundlegung hat der Sektor (noch) die Wahl. Der bisherige Unwillen zum gesellschaftskritischen Diskurs nährt die Versuchung, sich angesichts der Refeudalisierung der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse (siehe dazu: Sighard Neckel: Refeudalisierung der Ökonomie) mit einer behübschenden und verschleiernden Funktion zufrieden zu geben. Auf den Punkt gebracht: Singen und Tanzen, um dem Frust des Alltags für zumindest einige Stunden zu entfliehen. In der Zwischenzeit wird Politik von denjenigen gemacht, mit denen wir nichts zu tun haben wollen, weil uns der Boulevard (mit seinen wirtschaftlichen Eigeninteressen) gelehrt hat sie zu verachten.
Und doch gibt es auch die Option, die eigene Arbeit noch einmal politisch aufzuladen und sie damit in ein Verhältnis zu dem zu setzen, was Hofmann als Gegenstand kultureller Bildung definiert hat. Die vorliegenden sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse machen deutlich, dass Europa keine temporäre zyklische Krise kapitalistischen Wirtschaftens durchläuft, sondern eine grundlegende kulturelle Transformation, die die Wertvorstellungen der Menschen nachhaltig beeinflusst. Das wissen die Millionen junger Menschen, deren Existenz zur Zeit auf den Wettergebnissen einzelner Finanzjongleure beruht. Sie müssen auf ihrem Weg in eine völlig unklare Zukunft „ohne spirituelle Resonanz, die ihre moralische und ihre zivilbürgerliche Phantasie in Bann zu ziehen vermag“ (Michael Sandel) auskommen. Und sie kennen die Konsequenzen aus eigenem Erleben besser eine ältere Generation, die ihre Schäfchen in ihren geschützten Werkstätten ins Trockene gebracht hat.
Über sie und mit ihnen sollten wir reden, wenn es um die Rekonstruktion eines gesellschaftlichen Lebens auf der Grundlage von heute fundamental gefährdeten Ideen geht, die die Eigenart Europas als Kulturraum die längste Zeit ausgezeichnet haben: Nicht Profit und Effizienz, sondern Freiheit, Mitwirkung und Gerechtigkeit.
Mehr „Was“ und weniger „Wie“
Auf der Grundlage dieser Diskussionen könnte es sich lohnen, die Bemühungen zur Implementierung neuer Partizipationsmodelle auch und gerade im Bereich kultureller Bildung und ihrer Beforschung fortzusetzen. Offes Modell einer stärker inhaltlichen Befassung, die die Interessen und Präferenzen derer ins Zentrum rückt, an die sich kulturelle Bildungsangebote richten, könnten dafür eine Richtschnur sein.
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