„Die Wahrheit ist konkret“ (Bert Brecht)
In diesen Tagen fand am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft (IKM) der Musikuniversität Wien ein Workshop zum Thema „Kulturarbeit im internationalen Kontext“ statt. Gekommen waren eine Handvoll Studierender, deren Anzahl es leicht mit der der ReferentInnen aufnehmen konnte. Damit bestätigte sich der Befund, der erstmals im Rahmen einer Veranstaltung Ende November 2012 zu „Kulturdiplomatie heute“ auszumachen war: Das Interesse, gemeinsam über Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kulturprojekte nachzudenken, hält sich in sehr in Grenzen.
Mir wurde von den Veranstaltern die Aufgabe zugewiesen, nach einer Reihe von Präsentationen von zum Teil sehr beeindruckenden Good Practice Beispielen im Bereich von „Kunst und Kultur in der Entwicklungszusammenarbeit“, ein paar kritische Anmerkungen zu machen, um damit eine anregende Diskussion zu ermöglichen.
Den wenigen TeilnehmerInnen gegenübersitzend kam mir das Bild des Goldfisches, der eingeladen ist, sich über den Zustand der Welt zu äußern. Also war für mich die Ausgangsfrage naheliegend, worin denn die Gründe zu suchen seien, dass sich nur so wenige, auch fachlich einschlägig Befasste für das Thema interessieren.
Erhellend war da für mich vor allem die Präsentation eines geplanten Theaterprojektes des Schauspielers und Regisseurs Thomas Groß „Slobodija Odysseia mon amour“, das sich mit den Wanderungs-Erfahrungen heutiger Roma im Verhältnis zur antiken Odysee beschäftigt und sowohl in Wien als auch in den europäischen Kulturhauptstädten 2013, Marseille-Provence und Košice, gezeigt werden soll.
Groß hielt sich nicht lange mit allgemeinen Überlegungen auf, inwiefern sich „Kultur“ dazu eignet, Entwicklungsprozesse über die nationalen Grenzen hinweg anzustoßen. Sein Bericht bezog sich in erster Linie auf die konkreten Realisierungsbedingungen, wen er wann angesprochen hat, um PartnerInnen und UnterstützerInnen für sein Vorhaben zu finden; darüber hinaus wie er versucht hat, Ressourcen aufzutreiben und was er seinem Team zuzumuten beabsichtigt und was nicht. Folgerichtig schloss er seinen Beitrag mit der Frage an das Publikum: „Wo noch könnte ich um Förderung ansuchen?“
Ganz ähnlich erging es mir bereits beim Symposium anlässlich der Verleihung des UNESCO Chairs „Cultural Policy for the Arts in Development“ an das Institut für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim (siehe dazu den Blogbeitrag „Kulturpolitik darf nicht „Kugelmugel werden“), im Rahmen dessen Fragen der kulturellen Entwicklungszusammenarbeit zwischen der deutschen Kleinstadt und dem Kontinent Afrika verhandelt wurden. Die beiden als MitdiskutantInnen eingeladenen KünstlerInnen Monika Gintersdorfer und Knut Klassen verhielten sich ganz ähnlich wie Thomas Groß, als sie vom Rektor der Hildesheimer Universität nach einer Reihe allgemeiner Bekenntnisse zur Wichtigkeit von Kultur und Entwicklung fast flehentlich gefragt wurden, was sie sich vom neuen UNESCO-Chair erwarten würden. Ihre Antwort erwies sich als ebenso pragmatisch wie konkret: „Was wir brauchen ist jemand vor Ort, mit dem wir uns verständigen können; darüber hinaus sind wir auf verlässliche Informationen angewiesen, wie wir die Technik organisieren können oder welche (allenfalls auch diplomatische) Schritte wir ergreifen müssen, um den afrikanischen Künstler-KollegInnen die Mitwirkung an Performances in Europa zu ermöglichen“.
In Vorbereitung auf die Tagung in Wien bin ich auf einen bereits älteren Text des Kulturphilosophen Thomas Macho mit dem Titel „Hoffnung auf Kultur?" gestoßen, der mit den vorrangigen Anliegen einzelner KünstlerInnen zur Realisierung ihrer Projekte hinaus, einen Versuch unternimmt, die herrschende Diskussionsmüdigkeit zu erklären.
Darin analysiert er einen grundlegenden Widerspruch innerhalb dessen, was wir gerne unter dem Begriff „Kultur“ verhandeln. Da ist einerseits eine konservativ-erhaltende Dimension, die Kultur als Synonym für alles setzt, was man hat, ohne es loswerden zu können (Sprache, Religion, Architektur, Geschichte, Kunst, Staat, Feste, Umgangsformen oder Nahrungs- und Lebensgewohnheiten). Sie sind uns mit der Geburt ebenso zufällig wie zwanghaft zugewachsen und vieles spricht dafür, dass wir uns auf diese Dimensionen umso mehr beziehen, je unsicherer und krisenhafter sich die konkreten Lebensumstände gestalten.
Dieser Dimension entgegengesetzt gibt es aber auch noch eine dynamisch-entwicklungsbezogene Begriffsbestimmung. In dem Zusammenhang steht „Kultur“ für alles, was man noch nicht hat, aber im höheren Auftrag gut meinender VertreterInnen einer Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts anstreben und erwerben sollte (Mehrsprachigkeit, Mobilität, soziale Kompetenz, permanente Bildungsbereitschaft, liberale, tolerante Haltung, antitotalitäre Gesinnung oder sexuelle, ethnische, politische und berufliche Flexibilität, um nur die wichtigsten zu nennen).
Reimt sich „Kultur“ noch auf Zukunft?
In diesem unauflöslichen Spannungsverhältnis stellt Macho die Frage, ob Kultur“ in Form dieser vielfältig-diffusen Ansprüche als etwas Allgemeines noch sinnvoll verhandelbar erscheint bzw. ob sich „Kultur“ überhaupt noch als ein Leitbegriff gesellschaftlicher Hoffnungen eignet. Man könnte es sich einfach machen und die Frage – zumal in Österreich – anhand der nach wie vor ebenso ungebrochenen wie eklatanten Priorisierung der Aufrechterhaltung des kulturellen Erbes durch die öffentliche Hand zu beantworten suchen.
Man könnte sie aber auch grundsätzlicher angehen und feststellen, dass sich z.B. politische Entscheidungsprozesse in weiten Teilen Europas, von ihren kulturellen Aufladungen, die sie die längste Zeit überformt haben (siehe dazu etwa die Interpretation des Ersten Weltkriegs als einem Kulturkampf des deutschen Politologen Claus Leggewie in seiner beeindruckenden Analyse „Kultur und Politik“, verabschiedet haben.
Man muss nicht gleich den Sager des deutschen Soziologen Niklas Luhmann hervorholen, der gemeint hat, bei „Kultur“ handle es sich aufgrund seiner weitgehenden Inhaltsleere um einen der schrecklichsten Begriffe, die jemals gebildet worden sind. Es genügt die Wahrnehmung, das spezifisch kulturelle Fragen transnationale politische Entscheidungsprozesse immer weniger mitbestimmen um die Vermutung zu erhärten, der Begriff jedenfalls in seiner allgemeinen Verwendung werde selbst von den meisten unmittelbar am Kulturbetrieb Beteiligten weitgehend verbraucht, um nicht zu sagen ausgelutscht angesehen. Jedenfalls erwüchsen aus seiner allgemeinen Verhandlung angesichts der wachsenden Ausdifferenzierung dessen, was darunter versucht wird zu subsumieren, keine handlungsleitende Energie mehr.
Kulturelle Aufladung versus Rationalisierung von Politik
Das mag man bedauern. Man könnte es aber auch als einen allgemeinen Fortschritt deuten, wonach gesellschaftliche Interessensartikulation und ihre Umsetzung heute nicht mehr mit einem ebenso übermächtigen wie diffusen Ballast des Kulturellen beschwert werden muss, sondern konkreter und damit nachvollziehbarer gehandhabt werden kann (dies auch vor dem Hintergrund, als es gerade die populistische, integrationsfeindliche Rechte ist, die in ebenso bewährter wie gefährlicher Weise nach wie vor dazu neigt, angesichts der aktuellen demographischen Veränderungen vorrangig auf die kulturelle Karte zu setzen, um auf diese Weise sich verschärfende soziale Konflikte zu „kulturalisieren“ und damit ihre politische Verhandelbarkeit zu erschweren).
Jedenfalls deutet vieles darauf hin, dass sich aktuelle europäische Politiken selbst in der gegenwärtigen Krise bislang davor zurückscheuen, ihre öffentlich vorgetragenen Argumente mit einem emphatischen Kulturverständnis aufzuladen. Was mehr denn je ansteht ist die Bearbeitung konkreter wirtschaftlicher und sozialer Interessenslagen, zu deren Durchsetzung es wenig beiträgt, sie an vermeintlichen kulturellen Eigenarten der daran Beteiligten scheitern zu lassen (und wenn ja – wie in der ebenso medial gehypten Gegenübersetzung kultureller Andersartigkeiten etwa zwischen Deutschland und Griechenland in der aktuellen Finanz- und Wirtschafts- und damit sozialen Krise – dann führt dies unmittelbar zur Schwächung der politischen Problemlösungskompetenz).
Was allenfalls noch bleibt ist ein Begriff der „Kultur“ als neutralisierende Restutopie, in deren Namen es gilt, den mehr oder weniger nostalgischen Abschied von den großen Wünschen und Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft zu zelebrieren, wobei die große Gefahr vor allem darin liegt, den pessimistischen Blick nach rückwärts zum Maßstab für alle möglichen aktuellen Fehlentwicklungen zu machen.
Entwicklung findet statt, mehr denn je
Aus dieser kleinen Verfallsgeschichte des Begriffs der „Kultur“ kann freilich kein Ende gesellschaftlicher „Entwicklung“ geschlossen werden. Ganz im Gegenteil: Soviel „Entwicklung“ war nie und es vergeht kein Tag, an dem uns nicht neue, oft völlig unerwartete gesellschaftliche Veränderungen um die Ohren sausen, bei denen uns manchmal Hören und Sehen vergeht, in jedem Fall die Fähigkeit zur kritischen Reflexion und damit kritischen Bewertung abhanden kommen lässt.
Einen wesentlichen Beitrag in der Erschaffung von möglichen Zukünften leisten die großen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen transnationaler Wirtschaftsunternehmen, die in aller Regel mit einem Vielfachen an Ressourcen ausgestattet sind als es sich auch ein noch so üppig ausgestatteter Kulturbetrieb je träumen lassen könnte. Für ihre MitarbeiterInnen sind entwicklungsrelevante Dimensionen wie die Fähigkeit zum interkulturellen Dialog oder zum globalen Lernen längst eine Selbstverständlichkeit weil eine wesentliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung einer produktiven Arbeitsatmosphäre. Auf Grund ihrer, weniger auf „Kultur“ als auf Realitäten gestützten Dominanz bestimmen sie mittlerweile weitgehend darüber, welche Entwicklungsszenarien sich durchsetzen werden bzw. welche von ihnen überhaupt noch politisch beeinflusst werden können.
Das Interesse des Kulturbereichs an diesen Entwicklungen hält sich nach meinem Dafürhalten in engen Grenzen, obwohl diese die materiellen und zunehmend auch immerateriellen Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nachhaltig beeinflussen. Und so spielen KünstlerInnen und Kulturschaffende bei der realen Ausgestaltung der technologischen, wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Rahmenbedingungen – wenn überhaupt dann nur – eine sehr bescheidene Rolle (und wenn ja, etwa wenn der Komiker Beppe Grillo in Italien sich gerade anschickt, die politischen Verhältnisse Italiens (und darüber hinaus ganz Europas) zu beeinflussen, kann er dies erst nach entsprechendem Rollentausch, der ihn nolens volens vom Künstler zum Politiker mutieren lässt).
Das mag man bedauern. Man könnte sich aber auch anhand dieses Umstands an eine spezifisch europäische Errungenschaft erinnern, die in der Freiheit des künstlerischen Schaffens liegt.
Die Freiheit der Kunst als wesentliche Errungenschaft europäischer Entwicklung
Vielleicht liegt ja die spezifische Stärke der Kunst gerade darin, sich nicht beliebig für die Durchsetzung des einen oder anderen Entwicklungsszenarios instrumentalisieren zu lassen und stattdessen auf ihren Eigenwert zu bestehen. Erst in dieser Eigenschaft ermöglicht sie zum Teil ganz unerwartete Ergebnisse, die weniger unseren Hoffnungen auf Planbarkeit als der Unvorhersehbarkeit des Lebendigen an sich entsprechen.
In dem Zusammenhang kam in der abschließenden Diskussion am IKM die Frage nach der Moral künstlerischer Tätigkeit auf, die – wie ein Teilnehmer meinte – quasi per definitionem auf die Verbesserung (und damit Entwicklung) der Gesellschaft gerichtet sein müsste. Er fand damit keine Mehrheit. Stattdessen überwog die Ansicht, die Qualität von Kunst bestünde in erster Linie darin, zu zeigen wie die Welt ist und nicht, wie sie sein sollte. Die Forderung nach Moral liege nicht beim Produzenten sondern beim Rezipienten, der darüber entscheide, welche Konsequenzen er oder sie bereit bzw. willens ist, aus seinen/ihren Kunsterfahrungen zu ziehen.
Für mich ein schöner Schluss, den ich aus dieser Veranstaltung ziehen durfte, der in der Lage war, die Autonomie der KünstlerInnen und damit ihre Leidenschaft, das zu tun, was sie für richtig und notwendig halten ins Verhältnis zu setzen, zum Auftrag an alle Mitglieder einer Gesellschaft, sich für deren Weiterentwicklung einzusetzen (und sich dabei – wenn sie das denn wollen – von Kunst inspirieren zu lassen).
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