Die Wand, die vom Leben trennt und das Leben ermöglicht
Der an der Universität für angewandte Kunst in Wien lehrende Philosoph Robert Pfaller hat gerade das Buch „Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere“ veröffentlicht. Es handelt sich um eine Art Gebrauchsanleitung für ein „richtiges Leben“, das er mit der Fähigkeit verknüpft, eine Balance zwischen Realität und Wunschproduktion aufrechtzuerhalten.
In seinem Beitrag „Warum brauchen wir ‚zweite Welten‘?“ für das Album der Tageszeitung Standard vom 20. Oktober bietet er eine Art Kurzfassung seines Buches anhand eines französischen Sprichworts, wonach „das Leben das sei, was passiert, während man auf etwas anderes wartet“. Das, was da in einer „zweiten Welt“ vonstattengehe, beziehe sich aber nicht auf etwas Erwartbares. Vielmehr sei es gerade das Unerwartete, das Abweichende, damit wohl auch das Irritierende und Verstörende, das eine Bedingung für das Leben sei: „Wir brauchen eine bestimmte Vorstellung, eine bestimmte Erwartung an das Leben, damit sich ganz gegen diese Vorstellung plötzlich, während wir noch warten, etwas Unerwartetes, Lebendiges einstellen kann.“
Diese Gedankenfigur hat für mich gut auf meine Erfahrung mit dem Film „Die Wand“ gepasst, den Julian Pölsler mit Martina Gedeck nach der gleichnamigen Romanvorlage von Marlen Haushofer gedreht hat. Inhalt des Films ist das Hereinbrechen von etwas Unerwartetem ins Leben: Eine Frau unternimmt mit einem Ehepaar einen Ausflug in ein Jagdhaus in den Bergen. Die Freunde gehen abends noch ins Wirtshaus ins Tal, die Frau bleibt mit dem Hund zurück. Als das Ehepaar am nächsten Morgen nicht zurückgekehrt ist, macht sich die Frau auf den Weg ins Dorf – und Mehr »ist mit einer fundamentalen, unvorhersehbaren Veränderung ihrer Lebensbedingungen konfrontiert: Eine unsichtbare Wand trennt sie vom Rest der Welt, in der – wenn man durchschaut, alles stillzustehen scheint. Allein mit dem Hund, einer Katze und einer Kuh versucht sie, sich in den neuen Umständen einzufinden. Ihre Gedanken, Sorgen und Nöte hält sie in Aufzeichnungen fest, die vielleicht niemals jemand lesen wird.
Als BeobachterInnen erfahren wir, die LeserInnen bzw. ZuschauerInnen, wie eine Frau aus der gewohnten Realität des Lebens und den damit verbundenen Erwartungen (in diesem Fall einen netten Ausflug mit FreundInnen in einem Jagdhaus zu verbringen) in eine andere Welt wechselt, wo vieles nach wie vor so ist wie im alltäglichen Leben und doch alles anders.
Haushofer beschreibt den Übergang in ihrem Roman so: „Verdutzt streckte ich die Hand aus und berührte etwas Glattes und Kühles: einen glatten kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft. Zögernd versuchte ich es noch einmal, und wieder ruhte meine Hand wie auf der Scheibe eines Fensters. Dann hörte ich lautes Pochen und sah um mich, ehe ich begriff, dass es mein eigener Herzschlag war, der mir in den Ohren dröhnte“.
Das kann nicht sein. Das ist nicht möglich. Das ist nicht real. Wir alle wissen, dass wir – und damit wohl auch die Erzählerin – nicht über Nacht von einer ebenso unsichtbaren wie unüberwindbaren Mauer vom Rest der Welt getrennt werden können. Das ist bestenfalls der Auswuchs eines kranken Gehirns. Entsprechend wurde der 1968 erstmals veröffentlichte Roman auch als eine Krankengeschichte interpretiert, wonach es sich bei der Wand um eine Wahnvorstellung handelt, die den Aktionsradius der namenlosen Protagonistin drastisch einschränkt, um sie in ihren täglichen Verrichtungen auf sich selbst zurückzuwerfen.
Martina Gedeck als grandiose Darstellerin vermittelt aber nicht den Eindruck einer psychisch kranken Person (die uns erlauben würde, die Distanz der gesunden, immerhin erstaunten ZuschauerInnen einzunehmen). Ihr Spiel läuft auf die unmittelbare Erfahrung hinaus, dass wir alle mittendrin stecken, dass ein solches Ereignis uns allen längst passiert ist, wir aber nicht bereit oder fähig sind, es zur Kenntnis zu nehmen.
Könnte es also sein, dass wir alle von einer solchen unsichtbaren Wand umgeben sind, dass wir sie uns sogar selbst gebaut haben, um angesichts der Unvorsehbarkeit des Lebendigen zu überleben? Dann aber hätten wir es bei der Wand mit einem Symbol zu tun, die in Form einer Schnittstelle zwischen Realität und der von Pfaller angesprochenen „zweiten Welt“ darüber entscheidet, wie weit unsere Vorstellungskraft reicht und welche und wie viele unserer Vorstellungen wir uns zumuten bzw. auf unser wirkliches Leben anwenden.
Die Protagonistin lernt, sich ihr Leben innerhalb der neuen Grenzen zu organisieren. Mit ihrer Weigerung, ihr ganzes Ausmaß auszuloten, macht sie deutlich, dass eine Erwartung, es könnte doch noch einen Ausgang geben, für sie nicht handlungsleitend ist. Stattdessen tritt nochmals das Unerwartete in Gestalt eines Mannes in Erscheinung, der dabei ist, ihre Tiere bestialisch umzubringen und in ihr die kreatürliche Kraft freisetzt, diesen Mann zu töten – mit der Konsequenz für die Frau, ein weiteres Mal zu desillusioniert zu werden und damit ihren ausgesetzten Zustand, allein zu sein, zu verfestigen.
Sie ist in ihrer neuen Welt angekommen. Und auch wenn die Wand nunmehr die Grundlage dafür darstellt, antwortet sie darauf nicht mit der Produktion von neuen Erwartungen (die nach Pfaller die Grundbedingung dafür sind, dass überhaupt etwas passiert), um in ihr die Vorstellung davon wachzuhalten, wie es wäre, in ihr früheres Dasein zurückzufinden oder ein neues Leben, außerhalb ihres umstellten Wirkens- und Gedankenraums zu beginnen.
Und doch ist sie voller diffuser Angst. Um dieser zu begegnen, erzeugt sie keine Wunschbilder, sondern beschließt, die ihr zugängliche Existenz in einem Bericht abzubilden, der sich aus ihren Erinnerungen speist. Auch wenn sich – wie Haushofer schreibt – damit nicht vermeiden lasse, dass sich vieles anders ausnimmt, als sie es wirklich erlebt hat: „Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte. […] Ich habe diese Aufgabe auf mich genommen, weil sie mich davor bewahren soll, in die Dämmerung zu starren und mich zu fürchten. Denn ich fürchte mich. Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht und überwältigt. Ich werde schreiben, bis es dunkel wird und dies neue, ungewohnte Arbeit soll meinen Kopf müde machen, leer und schläfrig“. Schreiben in der Hoffnung, die „zweite Welt“, in der das Unerwartete im Unerwarteten lauert, zumindest für kurze Zeit auszuschalten und das aushaltbar zu machen, was ist.
Der Film besticht durch grandios-kitschige Naturaufnahmen, in der sich die Eingeschlossene mit ihrer kleinen Tiermenagerie aus Kuh, Hund und Katze bewegt. Der Eindruck von einer erhabenen Bergwelt wird zu einem eigengesetzlichen Akteur, demgegenüber das einzelne Individuum seine sich selbst zugeschriebene Bedeutung verliert. Und wir erfahren sinnlich den Widerspruch des einzelnen Menschen, der als Teil der Natur in ihr aufgehen möchte und doch nicht anders kann, als sich von ihr abzugrenzen.
Biographische Hinweise deuten darauf hin, dass Marlen Haushofer nicht eben ein glückliches Leben geführt hat. Ihr war das Schreiben – das ihre Umgebung lange Zeit für einen Spleen gehalten hat – nicht ein Ersatz sondern das Leben in seiner Eigentlichkeit: „Vermutlich schrieb sie, weil sie so, wie sie sein wollte, nicht werden durfte. Deshalb ging sie in die innere Emigration, lebte ihr eigentliches Leben in der Literatur, in der sie litt, mehr als im Leben draußen, für die anderen, aber auch an sich“.
Womit wir noch einmal beim Problem der „zweiten Welt“ und seiner möglichen Entlastungsfunktion im Verhältnis zum wirklichen Leben wären. In diesem Fall, in Form von Literatur, von der sich nicht mehr zweifelsfrei sagen lässt, was sie ist: eine formale Gestaltung einer Vorstellung des Lebens oder dieses selbst.
Die Protagonistin des Romans bzw. des Films führt uns ihr neues Leben vor wenn sie beginnt, sich mit all dem Zeug, das eine Welt, die noch in Ordnung schien, hinterlassen hat, eine ihr gemäße Existenz unter den gegebenen Bedingungen zu entwickeln. Dass sie das schafft ermöglicht – ganz en passant – eine Zivilisationskritik, die uns die Idee der Freiheit innerhalb der naturischen Zwänge auf neue Weise erfahren lässt.
Die Autorin hingegen wollte sich nicht dreinfinden in die beengenden Grenzen einer durch „Fesseln der Familie, Eintönigkeit des Alltags und der frostigen Kälte von ihr durchaus wohlgesonnenen Kleinbürgern“ gekennzeichneten Welt. Vielmehr ist es ihr mit Hilfe der Literatur gelungen, die Wand zu überwinden und eine Welt aufzusuchen, in der „Begegnung mit dem eigenen Ich […], wo man sich entweder erneuert oder aber sich selbst auslöscht“ möglich ist. Die „zweite Welt“ wird ihr zur „ersten“.
Wahrscheinlich ist diese Form, sich mit künstlerischen Mitteln mit sich selbst und seiner Umwelt auseinanderzusetzen, die radikalste Form der kulturellen Bildung. Sie erzwingt die Gestaltung des eigenen Lebens angesichts der bestehenden, uns umgebenden, mehr oder weniger hermetisch empfundenen, Wände selbst in die Hand zu nehmen.
Der Film „Die Wand“ macht auf ebenso erschreckende, wie berührende Weise sinnlich wahrnehmbar, dass diese Wände in und um uns existieren und dass wir uns dazu verhalten können – ja müssen – wenn wir ein Leben führen wollen, das diesen Namen verdient.
Zum Schluss ein Hinweis auf einen weiteren Philosophen. In seinem jüngsten Buch „Lob der Grenze“ bietet Konrad Paul Liessmann einen Versuch, den Begriff des „lebenslangen Lernens“ nicht auf Effizienz, Employability und Funktionalität zugunsten einer angepassten Existenz in der ersten Welt zu beschränken, sondern „gegen die Wand“ eines utilitaristischen Bildungsdiskurses noch einmal den Versuch zu unternehmen, „die geistige, seelische und kulturelle Selbstformung des Menschen als Selbstzweck“ in den Mittelpunkt zu rücken, um die Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz (wie uns der Mainstream einzureden versucht) auf immer wieder neue Weise in Frage zu stellen.
Eine intensivere Beschäftigung mit dem Film „Die Wand“ schafft dafür eine gute Grundlage. Entsprechend empfehle ich sowohl die Relektüre als auch den Kinobesuch.
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