Die Welt ändert sich und wir uns mit ihr
„Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; jeder empfängt ihn mit einem seinen wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend reich zubereiteten Mahle. Sind die Vorräte aufgezehrt, dann weist der, der eben noch Gastgeber war, den Weg zu einem anderen gastlichen Hause und geht selbst mit, uneingeladen betreten sie den nächsten Hof: und der Empfang ist nicht weniger herzlich. Im Gastrecht macht keiner einen Unterschied zwischen Bekannten und Unbekannten. Zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied zwischen mein und sein.“
Ich haben dieses Zitat aus Tacitus‘ „Germania“ in Jenny Erpenbecks jüngstem Roman „Gehen, ging, gegangen“ gefunden. In diesem Plot freundet sich ein emeritierter Professor mit dem Gedanken an, gegenüber der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen nicht die Augen zu verschließen, sondern sich den durch sie herbeigeführten geänderten Lebensverhältnissen zu stellen – und sich dabei selbst zu verändern.
Als der Limes nicht verhindert hat, dass die Alamannen das Römische Reich überrannt haben
So positiv Tacitus, einer der herausragenden römischen Historiker des ersten nachchristlichen Jahrhunderts und darüber hinaus als Politiker in allen damals bekannten Weltgegenden tätig, in seinem Hauptwerk „Germania“ die Gastfreundschaft der „Barbaren“ beschreibt , so wenig konnte er verhindern, dass sich die römischen Machthaber gegen die „Germanenflut“ mit Hilfe eines Limes in Form eines mächtigen, 500 km langen Festungsbauwerkes abzugrenzen versuchten. Diese aufwendigen Abwehrversuche funktionierten eine Weile ganz gut, bis sie schließlich die Alamannen überrannten und dem römischen Machtanspruch ein Ende setzten.
Bringen 1,6% Zuwanderung das europäische Haus zum Einsturz?
Die aktuellen Prognosen der Europäischen Kommission gehen davon aus, dass bis Ende 2017 rund drei Millionen Flüchtlinge in Europa Schutz suchen werden. Das ist eine große Zahl und erscheint doch im Vergleich zur Gesamtzahl der EinwohnerInnen des Kontinents von rund 500 Millionen als eine bewältigbare Größenordnung – könnte man meinen. Wenn aber, wie jüngst geschehen, die Verteilung von gerade einmal 30 (!) Flüchtlingen von Griechenland nach Luxemburg von den eigens angereisten Spitzenpolitikern Tsipras (griechischer Ministerpräsident), Schulz (EU-Parlamentspräsident), Asselborn (luxemburgischer Außenminister) und Avramopoulos (EU-Migrationskommisar) bereits als ein Erfolg verkauft wird, dann stimmt etwas ganz grundsätzlich nicht im Gefüge der europäischen Politik. Erste Stimmen sprechen deshalb angesichts einer eklatanten, immer mehr Menschen verunsichernden Unfähigkeit der politischen Eliten, den aktuellen Zustrom von Schutzsuchenden menschenwürdig zu organisieren, von einem möglichen Zerbrechen der mühsam aufgebauten EU-Architektur.
Was alles ein Zaun ist, bestimme ich
Die österreichische Innenministerin Mikl-Leitner wird in diesen Tagen, wenn von der jetzt geforderten Gastfreundschaft die Rede ist, immer dünnlippiger. Stattdessen lenkt sie den politischen Diskurs darauf, was kein Zaun ist aber wie ein Zaun wirken soll. Ganz offensichtlich greift sie dabei auf das Konzept von Tacitus‘ schärfstem Widersacher in Gestalt Kaiser Domitians zurück, der im Norden seines Reiches ein umfassendes Grenzüberwachungssystem installieren ließ (und auch kein Problem damit hatte, es als solches zu bezeichnen). Mikl-Leitner erfüllt damit die zunehmende Erwartung an die Politik nach klaren, möglichst unüberwindbaren Grenzziehungen. Und schon erinnert die FPÖ – mit ihrem Ohr immer am Ressentiment des Volkes – daran, dass der Eiserne Vorhang ja ohnehin nicht so schlecht gewesen sei; immerhin habe er die österreichischen Grenzen wirksam geschützt. Da kann man schon mal vergessen machen, dass seine eigentliche Funktion eine ganz andere war.
Das (falsche) Lob der Grenze
Mit der weiteren Propagierung solcher vermeintlich sicherer Grenzziehungen ist zu erwarten, dass diese nicht nur dazu benutzt werden, Menschen physisch abzuhalten, fremdes Gebiet zu betreten. Als wesentlich wirksamer könnte sich die Wiedererrichtung mentaler Barrieren erweisen, die in unseren Köpfen noch einmal versuchen, das Eigene vom Fremden scharf zu trennen und das Leben danach auszurichten. Dazu lohnt sich ein Blick in Konrad Paul Liessmanns Buch „Lob der Grenze“ (2012) mit dem beziehungsreichen Untertitel „Kritik der politischen Urteilskraft“. In seinen Essays weist er darauf hin, dass Kritik als zentrales Erkenntnismittel dazu dient, das, was ist, voneinander zu unterscheiden, Differenzen herauszufinden und sich dazu zu verhalten. Diese spezifische Herangehensweise an sich und die Welt zeige sich auch und gerade am Begriff der Krise, dessen Etymologie auf eine Phase hinweist, die darauf gerichtet ist, die Dinge voneinander zu scheiden. Um sie zu bewältigen, bedarf es der Kritik als unverzichtbare Kunst der Beurteilung. Diese beruht wiederum auf der Fähigkeit, zu unterscheiden und Unterschiede zu erkennen.
Aus diesem Umstand schließt Liessmann – für mich etwas kurzschlüssig – auf den unhintergehbaren Bedarf an Grenzen. Auch und gerade im Kunstbetrieb stellt Kritikfähigkeit unzweifelhaft ein zentrales Movens dar. Sie findet ihren Ausdruck in einem ästhetischen Geschmacksurteil, das die Voraussetzung dafür darstellt, dass es so etwas wie Kunst überhaupt gibt. Folgt man Kants Prinzip der Urteilskraft, dann ist dieses – im Unterschied zu logischen oder ethischen Urteilen – kein Erkenntnisurteil, sondern ein ästhetisches Urteil, „worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“ Als solche sind sie nicht allgemein und behaupten dennoch, allgemein zustimmungsfähig zu sein: Sie beanspruchen Allgemeingültigkeit, insofern sie „das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne(n)…“
Die Kunst als Schule des Standhaltens gegenüber dem Grenzenlosen
Über eine solche Spezifik des ästhetischen Geschmacksurteils, das mit der unaufhebbaren Differenz zwischen individuellem Geschmack und allgemeinem Anspruch umgehen gelernt hat, bin ich nochmals auf Umberto Ecos bahnbrechendes Werk „Das offene Kunstwerk“ (im Original aus dem Jahr 1962) gestoßen, das sich mit der Erweiterung eines bislang klar begrenzten Werkbegriffs beschäftigt. Er bezieht sich dabei auf die Avantgarden der Zwischenkriegszeit, die erstmals damit begonnen haben, einen klar definierbaren Werkbegriff in Frage zu stellen, in der Hoffnung, damit Kunst und Leben noch einmal miteinander zu versöhnen. In den 1950er Jahren war es dann die Einbeziehung des Zufalls bzw. der Unbestimmheit, die die tradierten Vorstellungen des Kunstwerkes zunehmend obsolet erscheinen lassen sollten. Eco unterscheidet in seinen Überlegungen mehrere Grade der Offenheit von Kunstwerken. Da ist zum einen der Umstand, dass alle Kunstphänomene per se gleich welcher Epoche und Kultur als offen bezeichnet werden müssen, weil sie im Prinzip eine unendliche Reihe von Interpretationen zulassen. Für ihn ist die Rezeption von Kunst Interpretation und Realisation zugleich, „da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt“. Damit hätte Kunst keinen eindeutig bestimmbaren Sinn. Sie sei nur als ein Teil einer gesellschaftlichen Bewegung verstehbar, die sowohl von den ProduzentInnen als auch von den RezipientInnen ein immer wieder erneuertes schöpferisch-erfinderisches Verhalten verlangt. Als solche ist Kunst nie fertig; sie will auf immer wieder neue Weise interpretiert und damit weiter entwickelt werden.
Eine solche Entgrenzung einer Kunstpraxis, die mittlerweile in weiten Teilen des Kunstbetriebs selbstverständlich geworden ist, scheint mir eine hervorragende Schule dafür, sich den Verlockungen jeder Art von Vereindeutigung zu entziehen. Warum– so frage ich mich – sollten wir diese weitgehend gefahrlose Einübung in Mehrdeutigkeit am Beispiel der Kunst nicht darüber hinaus auch auf andere Formen gesellschaftlicher Festschreibungen übertragen, um uns auf diese Weise den neuen Grenzziehern entgegen zu stellen. Die leidige Identitätsdebatte wäre dabei ein gutes Erprobungsfeld, wenn in diesen Tagen politisch noch einmal versucht wird, die Selbstversicherungsbedürfnisse der eigenen Leute gegen all die anderen mit ihren vermeintlich unvereinbaren Identitäten ins Treffen zu führen. Diesbezügliche Bemühungen führt der aus Indien stammende Ökonom Amartya Sen bei der Auflistung seiner verschiedenen Zugehörigkeiten ad absurdum:
„Was mich betrifft, so kann man mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeshischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Bramahnen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tode angeht“ (aus: Die Identitätsfalle – Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, 2006).
Vielleicht gehen wir noch einmal in uns und erkennen bei der Gelegenheit, dass es mit der Eindeutigkeit der Zuordenbarkeit auch bei uns gar nicht so einfach ist – und wohl auch nicht bei den aktuellen ZuwanderInnen, deren komplexe Hintergründe nicht nur den Bedarf verstärken, sich von ihnen abzugrenzen, sondern vielmehr draufzukommen, was wir an bislang unberücksichtigten Zugehörigkeiten gemeinsam haben.
Ethnisch-kulturelle Selbstverständnisse aus dem Geist der dörflichen Gemeinschaft
In seinem „Lob der Grenze“ verweist Liessmann auch auf Ferdinand Tönnies als einem Klassiker der Gesellschaftsanalyse. In seinem 1887 erschienenen Werk Gemeinschaft und Gesellschaft verdeutlicht Tönnies seine Idee von Gemeinschaft als eine Form des Miteinanders von Menschen, die sich gleichsam organisch aus der Grundtatsache des Lebens selbst entwickeln würde. Idealbild ist ihm das Zusammenleben in der dörflichen Gemeinschaft, in der jeder jeden von Geburt an kennt und alle mehr oder weniger essentiell aneinander gebunden sind. Diese Vorstellungen einer Gemeinschaft beruhen auf dem Umstand, dass die Kommunikation ihrer Mitglieder nicht über Vereinbarungen, Tauschakte oder Verträge erfolgt, sondern – im Idealfall – in Form eines stillschweigenden Einverständnisses. Wer in einer solchen Gemeinschaft lebt, weiß, worum es geht bzw. was, wo, wie funktioniert. Gemeinschaften müssen sich ihren Mitgliedern nicht ständig erklären; sie müssen auch nicht ständig beschworen werden. Sie verständigen sich in ihrem universalen Gefühl der Zugehörigkeit quasi von selbst. Und alle anderen, die nicht dazu gehören, haben draußen zu bleiben, wenn es sein muss mit Gewalt.
Im Gegensatz zum organischen Gebilde der Gemeinschaft begreift Tönnies Gesellschaft als ein weitgehend künstliches Gebilde. Gesellschaft ist ihm der Ort der Freiheit, der ihm in der Figur des Händlers paradigmatisch verkörpert erscheint, dessen vorrangiges Interaktionsfeld der Markt ist. Die Mitglieder einer Gesellschaft erkennen sich nicht mehr unmittelbar wieder oder verstehen sich ohne Worte. Für ein gedeihliches Zusammenleben sind sie auf das Schließen von Vereinbarungen angewiesen, die sie als handlungsleitend anerkennen. Es ist also nicht (mehr) das Blut, die Abstammung, die Sprache oder ein Mythos, mithin eine gemeinsame Kultur, die das Zusammenleben schicksalhaft bestimmen, sondern der erklärte Wille derer, die eine Gesellschaft bilden, bei aller Unterschiedlichkeit etwas miteinander zu tun haben zu wollen.
Von der liberalen Bürgerlichkeit zur konsumhedonistischen Massendemokratie
Im Zuge der Implementierung bürgerlich-liberaler Verfassungen erweiterte sich die Vorstellung vom zentralen gesellschaftlichen Akteur vom Händler zum Bürger, dessen Aufgabe im Kollektiv darin bestand, die gewonnene Freiheit dafür zu nutzen, das Zusammenleben ganz unterschiedlicher Menschen auf der Grundlage eines verbindlichen Werteverständnisses nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch zu ordnen und zu organisieren.
Es spricht viel dafür, dass heute ganzheitliche Vorstellungen liberaler Bürgerlichkeit als sozialer Referenzfigur in ihrem jeweils nationalen Rahmen an ihre Grenzen gekommen sind und die, jetzt freilich international agierenden Händler wieder das Regime übernehmen. In seinem posthum veröffentlichten Werk „Das Politische im 20. Jahrhundert – Von den Utopien zur Globalisierung“ konstatiert der politische Philosoph Panajotis Kondylis den schleichenden Übergang vom bürgerlichen Liberalismus, der sich im Homo politicus in einer republikanischen Öffentlichkeit realisiert, zu einer auf Konsumhedonismus basierenden Massendemokratie. Diese gesellschaftliche Verkehrsform würde alle Überreste an vermeintlich naturhaft entstandenen und als solche entlang irgendwelcher Zäune zu verteidigenden Gemeinschaften hinter sich lassen. Es bliebe der Markt als einzig herrschendes Ordnungsprinzip, der über die Durchsetzung individueller ebenso wie kollektiver Interessen entscheidet.
Ja, so meint er, ideologisch werden wir noch eine Weile weiter über unterschiedliche Herkunft, Zugehörigkeiten bzw. kulturelle Hintergründe sprechen. Eine solche Rede mag die Idee lokaler, regionaler oder auch nationaler Gemeinschaften in nostalgischer Erinnerung halten. Die Wirklichkeit aber, welche die Politik heute noch verzweifelt versucht, mit oder ohne Grenzzäune als Ort eines homogenen "Wir" zu interpretieren, spricht bereits eine ganz andere Sprache. Ihre aktuelle Ausformung hat längst antizipiert, dass es gerade die Unterschiede sind, welche die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben und die Fähigkeit zur flexiblen Interpretierbarkeit über den Erfolg künftiger Machtansprüche entscheiden wird.
Das schließt auch die „soziale Frage“ mit ein. Zurzeit ist es vor allem die Zivilgesellschaft, die aus einem, den bürgerlich-liberalen Tugenden entstammenden Mitgefühl heraus für eine bescheidene Ressourcenumverteilung zugunsten der Neuankommenden sorgt. Auf lange Sicht werden die Grenzziehungen aber entlang der Bereitschaft aller Überlebenswilligen verlaufen, das konsumhedonistische Spiel ohne Wenn und Aber mitzuspielen – oder zu verschwinden.
Religion, Kultur und was sonst noch alles dem Menschen als naturhafte Qualitäten zugesprochen wurde – damit kann sich allenfalls ein emeritierter Professor in Erpenbecks Roman herumschlagen. Mit Kondylis können wir vermuten, dass sich angesichts der aktuellen, ungebrochen ökonomisch bestimmten Wirklichkeiten diesbezügliche Aufregungen bis auf wenige Ausnahmen schon bald als das zeigen werden, was sie sind – als Ausdruck von Verteilungskämpfen. Die Kunst erweist sich da einmal mehr als eine Vorreiterin.
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