Die Würde des Menschen und die ungebrochene Macht der sinnlichen Erscheinung
Es ist in diesen Tagen nicht möglich, welches Thema auch immer zu verhandeln, ohne dass es von Bildern des aktuellen Flüchtlingselends überlagert würde. Der Krieg rückt Europa näher und macht deutlich, dass dieses Friedensprojekt auf die Konsequenzen kriegerischer Entwicklungen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nur sehr unzureichend vorbereitet ist. Umso beeindruckender ist das zivilgesellschaftliche Engagement, das versucht, der wachsenden politischen Polarisierung Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität zu setzen. Dabei spielen unterschiedliche religiöse, ethnische oder kulturelle Hintergründe keine Rolle mehr; es geht ums schiere Überleben; darüber hinaus um eine vielfache tätige Behauptung, dass die humanitären Grundsätze, auf die sich eine europäische Rhetorik gerne bezieht, nicht beim ersten Ansturm von In-Not-Geratener verloren gehen.
Ja, der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen aus den aktuellen Krisengebieten stellt ein großes, wenn auch politisch lösbares Problem dar. Erfreulich immerhin, dass sich angesichts der Bilder tausender auf ungarischen Autobahnen herumirrender Flüchtlinge Aussagen von PolitikerInnen, denen im Versuch der unbedingten Machterhaltung der letzten Jahre jegliche Haltung abhandengekommen schien, nunmehr deutliche Worte zu einem voraussetzungslosen Menschenrecht auf Würde und Schutz, um sich so von nationalistischen Parolen samt ihren Forderungen zur Errichtung eiserner Vorhänge abzugrenzen.
MigrantInnen als Potentiale gesellschaftlicher Entwicklung
In der aktuellen Orientierungslosigkeit im Umgang mit Flüchtlingen (und damit grassierenden Ängsten in der Bevölkerung) wird gerne übersehen, dass der Zuzug von Menschen aus anderen Ländern nicht ausschließlich ein Problem darstellt. Darauf hat der Demografieforscher Rainer Münz in seiner jüngsten Rede beim Forum Alpbach zum Thema „Ungleichheit“ eindrücklich hingewiesen. Immerhin kommt mit den Menschen nicht nur Elend, es kommen auch Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, von denen die europäischen Gesellschaften durchaus Nutzen ziehen könnten. Voraussetzung dafür ist freilich, diese erst einmal zur Kenntnis zu nehmen, in der Folge diese wertschätzen zu lernen und dann auch noch zu ermöglichen, diese umzusetzen. Als einen kleinen Beitrag dazu, wird EDUCULT ab der kommenden Newsletter-Ausgabe Menschen mit einem Flüchtlingsschicksal vorstellen und sie zu fragen, welche Talente und Wünsche sie haben und was sie gerne in Österreich einbringen wollen.
Erzählen wollte ich diesmal eigentlich von einer Erfahrung ganz anderer Art; von einem Besuch im Kloster Reichersberg an der österreichisch-deutschen Grenze. Stifte und Klöster sind ja zuletzt nicht gut weggekommen, wenn es darum ging, ihre Pforten für Flüchtlinge zu öffnen. Es bedurfte einer starken Ansage Kardinal Schönborns, der sich dafür zuletzt stark gemacht hat für ein größeres Engagement der katholischen Kirche in Sachen Flüchtlingsbetreuung. Flüchtlinge habe ich in Stift Reichersberg keine gesehen, dafür aber eine Gruppe von Studierenden, die sich an diesem beschaulichen Ort mit Fragen der Musikvermittlung beschäftigt haben und dabei das traditionelle Ambiente sichtlich genossen haben.
Innerhalb der Reichersberger Klostermauern ist es schön, es ist ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen und seinen Gedanken nachhängen kann. Seine Architektur atmet eine lange religiöse Geschichte und suggeriert ein Aus-der-Welt-Sein, dem man sich nur schwer entziehen mag, in der Hoffnung, die Fährnisse des Alltags zumindest für Momente hinter sich zu lassen. Heute wird das Stift von einigen wenigen Augustiner Chorherren aufrechterhalten, die das schiere Gegenteil von dem repräsentieren, was die Welt außerhalb ausmacht.
Über eine andere Art der Islamisierung Europas
Es trifft sich, dass mir just dort das aktuelle Buch von Navid Kermani „Ungläubiges Staunen“ in die Hände gefallen ist. Kermani ist gläubiger Moslem und habilitierter Islamwissenschafter und durchaus nicht „aus der Welt“, wenn er bereits 2006 (!) in seiner Rede zur 60sten Wiederkehr der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters vor den Folgen wachsender Krisenerscheinungen in der arabischen Welt inklusive zu erwartender Flüchtlingsströme nach Europa gewarnt hat.
In „Ungläubiges Staunen“ formuliert er seine Version der Islamisierung Europas anhand der Betrachtung ausgewählter Arbeiten europäischer bildender Kunst, die sich mit religiösen Themen beschäftigen. Die damit verbundenen Sinneseindrücke bestätigen ihn in seiner Vermutung, dass es bei Religion zunächst einmal um eine sinnliche Erfahrung geht und nicht um eine des Verstandes („Religion ist eine sinnliche Erfahrung“, Interview mit Navid Kermani in Die Zeit).
Und in der Tat liegt es in der Natur religiöser Praxis, ein vielfältiges sinnliches Reizangebot zu inszenieren. Insbesondere die katholische Kirche verstand sich als eine Meisterin darin, ihre Gläubigen mit allen Sinnen anzusprechen; das reichte von Bildwerken und zeremonieller Gewandung über Sprache, Musik bis zu olfaktorischen Angeboten (Weihrauch!). Dieses „Gesamtkunstwerk“ schuf die Voraussetzung, die Gläubigen in ganz umfassender Weise anzusprechen, ja sie zu überwältigen. Kermanis Befund: „Die Kulturleistung des Glaubens funktioniert über die Sinne.“
Umso größer ist seine Enttäuschung, wenn er für die Gegenwart konstatiert, dass sich in den religiösen Praktiken ein grauslicher, anbiedernder Gedanke eingeschlichen habe, die Menschen dort abholen zu wollen, wo sie sind. Dies habe zu einer ästhetischen Verarmung und zu einer theologischen Verarmung geführt: „Heute muss ich in die Philharmonie gehen, um religiös berückt zu werden. In der Philharmonie werde ich nicht abgeholt, wo ich ästhetisch in meiner Alltagswelt bin, sondern herausgefordert und überwältigt.“
Übertragen auf Reichersberg bedeutet das: Das (religiöse) Fest ist zu Ende. Es sind vor allem ältere Menschen, die da noch etwas verloren herumlaufen und nostalgischen Erinnerungen nachhängen, wie das vielleicht einmal war, als eine umfassende Inszenierung es noch geschafft hat, sie “mit Haut und Haar“ in ihren Bann zu ziehen.
KulturvermittlerInnen als die Chorherren der Zukunft?
Als kritischer Beobachter kann man diese Entwicklung positiv zur Kenntnis nehmen und sich darüber freuen, dass es für eine sinnliche Erfahrung keines Glaubens an das Jenseits mehr bedarf. Die Karawane der Gläubigen ist weiter gezogen; um ihre sinnlichen Bedürfnisse zu stillen sind neue Institutionen an die Stelle der Kirche getreten. Freilich sind sie in der Regel nicht mehr so umfassend ausgerichtet und können nicht mehr mit dem vollen sinnlichen Geschäft auffahren. Stattdessen hat sich ein ausdifferenzierter Betrieb zu etablieren vermocht, der wahlweise unterschiedliche Sinne anspricht und in der Tat da oder dort durchaus „überwältigend“ wirken kann.
Was mir bei den kulturpessimistischen Überlegungen Kermanis zu denken gibt ist die Frage, warum es der Kirche – trotz ihres so beeindruckenden sinnlichen Angebotes – heute nicht mehr gelingt, auf Menschen eine unwiderstehliche Sogwirkung auszuüben. Wenn die Antwort aber darin besteht, dass sich seine Attraktivität nur aus seiner Zeit (und so für heute für weite Teile der Bevölkerung als weitgehend nicht nachvollziehbar und so als irrelevant) erklären lassen, dann lässt sich Ähnliches für seine Nachfolge, den Kulturbetrieb, nicht völlig ausschließen. Immerhin verdankt sich seine Entstehung ebenfalls ganz bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen, von denen nicht sicher ist, ob diese heute noch gegeben sind. Und so könnte es durchaus sein, dass dem Zusammenbruch des Totalitätsanspruchs der Kirche irgendwann ein vergleichbarer Niedergang des kulturbetrieblichen sinnlichen Angebotes folgen könnte, weil sich die nachfolgenden Generationen darin nicht (mehr) wieder zu erkennen vermögen.
Während die katholische Kirche ihre Bemühungen – zumindest in Europa – um Missionierung aller weitgehend aufgegeben hat, meint der Kulturbetrieb noch sich mit dem Slogan der „Kultur für alle“ hinreichend legitimieren zu können. Die schieren Zahlen sprechen eine andere Sprache, wenn das Angebot trotz aller Vermittlungsbemühungen nur von einem kleinen, zudem alternden Teil der Gesellschaft aktiv wahrgenommen wird. Und so kann für die nächste Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann, dass VertreterInnen des Kulturbetriebs einen ähnlich kurios überkommenen Eindruck machen werden wie die wenigen verbliebenen Augustiner-Chorherren in Reichersberg.
Geht es nach den Veranstaltern der diesjährigen Ars Electronica, dann können die sinnliche Erfahrungen der Zukunft im Labor der „POST CITY“ erfahren werden. Nicht mehr Kirchen, nicht mehr spezielle Kultureinrichtungen sind dort für den Sinneshaushalt der Menschen verantwortlich, sondern ein umfassendes sinnliches Reizangebot, das den Alltag an der Schnittstelle physischer und digitaler Welterfahrung permanent durchdringt. Traditionelle Arbeitsteiligkeiten zwischen Priestern, KünstlerInnen, WissenschafterInnen, TechnikerInnen oder PädagogInnen scheinen weitgehend aufgelöst und erlaubten die Bearbeitung von Zukunftsproblemen im Rahmen eines ebenso den gesamten Menschen durchdringenden wie alltäglichen „Gesamtkunstwerks“.
Der magische Moment…
EDUCULT hat gerade ein zweijähriges Forschungsprojekt „Lernen in, mit und durch Kultur“ zum Thema „Vermittlung von Kompetenzen“ beendet. Gelernt haben wir dabei u.a., wie weit entfernt das kulturelle Selbstverständnis vieler der beteiligten jungen Menschen vom aktuellen Kulturangebot ist – und damit, wie groß der Verständigungsbedarf ist.
Insbesondere in der Beschäftigung damit, was „Kunst“ ist, sind wir übereingekommen, dass es nicht genügt, über Fachwissen, über einschlägige Fertigkeiten und darüber hinaus über spezifische Haltungen zu verfügen. Immer wieder ist zusätzlich die Erfahrung ins Spiel gekommen, dass da etwas ganz Besonderes passiert, etwas, was Staunen hervorruft oder gar den Atem stocken lässt, etwas Unerwartetes, vielleicht sogar etwas Vorher-nicht-für-möglich-Gehaltenes. Wir haben es den „magischen Moment“ genannt, der im Lauf des Projektes immer wieder gekehrt ist. Diesen magischen Moment kann man nicht lernen, nicht machen, nicht herstellen oder gar erzwingen. Er entscheidet, ob er und wenn ja wann er kommt oder eben nicht. Aber man kann dafür sensibel werden, sich darauf einstellen, sich öffnen, sich aussetzen. Und dann ist er plötzlich da und man ist irgendwie außer sich und doch ganz bei sich.
Dieser „magische Moment“ stellt eine Provokation nicht nur für alle pädagogischen Zielsetzungen dar. Als solcher unterläuft er jede vorgedachte Nutzenorientierung und scheint doch konstitutiv für das Leben selbst. Noch einmal nach Reichersberg zurückkehrend zeigt er sich in der Idee der „Versenkung“, des „Sich-ganz-und-gar-hineinfallen-Lassens“ als Voraussetzung für das Stillen der Sehnsucht der möglichsten „Einswerdung mit Gott“.
Und er findet sich – siehe Kermani – im Konzert- oder Theaterraum für diejenigen, die noch bereit sind, sich sinnlich beeindrucken, ja „überwältigen“ zu lassen – um den Preis, dass die Welt nach dieser Erfahrung anders aussieht als zuvor. Ob solche kathartischen Erfahrungen auch in der „POST CITY“ des 21. Jahrhunderts gemacht werden können, traue ich mir noch nicht zu beantworten; die vielfältigen Suchbewegungen sprechen für eine ungebrochene Sehnsucht danach.
…und seine ungebrochene Wirkung
In Verbindung mit Kunst erfährt der magische Moment nur zu gerne eine vorschnelle Aufladung. Ihm wohnt aber auch – wie allem Menschlichen – ein möglicher Schrecken inne. In ihrer jüngsten Analyse des Kunstbetriebs des KZ Theresienstadt im Spektrum der Presse () macht die Sozialwissenschafterin Lisa Fischer nochmals den Doppelcharakter von Kunst in gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen deutlich: einerseits als NS-Inszenierung eines trügerisch-beschaulichen Lebens der jüdischen Bevölkerung als Gegensatz zu den sterbenden Soldaten an der Front. Und andererseits als Form des Widerstands von Menschen in einem Vernichtungslagers zwischen Totenmesse, Totentanz und zeitvergessenem Glücksempfinden, eben als magischen Moment.
Eine ähnliche Magie geht heute vom Bild des toten Aylan Kurdi am Strand von Bodrum aus, dessen Veröffentlichung eine intensive öffentliche Diskussion ausgelöst hat. In seiner Wirkung weist es zurück auf die überwältigende Macht der Bilder, die sich die katholische Kirche so virtuos zur höheren Ehre Gottes zu Nutze gemacht hat und der sich in Zeiten religiöser Hegemonie die wenigsten entziehen konnten. Und so wie die Abbildung des bethlehemitischen Kindermordes den Gläubigen in der Vergangenheit den richtigen Weg zu weisen vermochte, so zeigen auch heute alle irgendwie empathiefähigen Menschen, unter ihnen selbst hartgesottene europäische PolitikerInnen Wirkung und ringen sich zu neuen politischen Lösungen durch.
Es ist nicht das erste Bild von auf der Flucht umgekommener Flüchtlinge, das uns über die diversen Medien erreicht hat. Aber es ist offenbar eines, das in der Lage ist, den Zorn ebenso wie die Hilflosigkeit angesichts einer unerträglichen Situation auf den sinnlich-ästhetischen Punkt zu bringen. Und so enthüllt ausgerechnet das Bild eines kleinen, scheinbar ganz ruhig daliegenden Jungen auf magisch-ästhetische Weise die ganze Unerträglichkeit dessen, was gerade vor unserer Haustüre stattfindet. Also ist jetzt ist nichts mehr wie es vorher war.
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