Ein klares Bekenntnis zur EU tut Not
Vermischte Bemerkungen über den Verlust des Mittelstands, über die Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen als Lackmus-Test demokratischer Errungenschaften und über die Sorge, wir könnten uns gegenüber den Konsequenzen, die eine weitere Enteuropäisierung angesichts des angelaufenen globalen Finanzkriegs mit sich bringt, als blind erweisen.
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Bereits zum dritten Mal findet in diesen Tagen die Sommerakademie der Pädagogischen Hochschule Kärnten statt. Sie bietet LehrerInnen aller Fächer die Gelegenheit, eine Woche lang mit KünstlerInnen zusammen zu arbeiten und dabei die eigenen ästhetischen Gestaltungsfähigkeiten zu erproben.
Ich war eingeladen, den Eröffnungsvortrag zum Motto „Jeder Lehrer ist ein Künstler. Jede Lehrerin ist eine Künstlerin“ zu halten. Bereits in meinem ersten Satz beging ich einen Versprecher, als ich den Titel in „Jeder Lehrer ist ein Schüler“ veränderte und damit für Heiterkeit sorgte. Ob die Belustigung daran lag, dass sich die anwesenden LehrerInnen eher in die Rolle von SchülerInnen als von KünstlerInnen hinzuversetzen vermögen, trau ich mir nicht zu sagen; wohl aber, dass damit unbeabsichtigt das eigentliche Programm der Veranstalter angesprochen wurde, nämlich die permanente Fähigkeit, sich auch und gerade als Lehrende selbst lernend weiter zu entwickeln und damit für die SchülerInnen ein glaubwürdiges Role Model abzugeben.
A propos lernen: Ich will an dieser Stelle nicht die Details des Vortrags wiederholen (diesen finden Sie ab nächster Woche auf der EDUCULT-Website). Ich will statt dessen davon berichten, dass ich im Lauf des Vortrages selbst auf zumindest zwei Dinge draufgekommen bin, die mich seither nicht mehr loslassen und die ich gerne mit Ihnen teilen würde.
Da ist zum einen die Geschichte des traditionellen Kulturbetriebs (Oper, Konzert, Theater, Museum,…), der für mich stark mit dem Repräsentationsbedürfnis eines aufkommenden Mittelstandes verbunden ist. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert haben wir es mit einem, in der Regel akademisch gebildeten Bürgertum zu tun, dass sich im elaborierten Angebot des Kunstbetriebs wieder erkennen wollte und daraus seine sozialen Distinktionsgewinne zog. Dieses gebildete Bürgertum fungierte die längste Zeit als Trägerin des Kulturbetriebs, aus dem es vielfältiges symbolisches Kapital zu ziehen vermochte.
Dass das bis heute so ist, beweisen jüngste Studienergebnisse von EDUCULT, die anhand vorliegender PISA-Daten noch einmal deutlich machen, dass junge Menschen aus Akademiker-Haushalten zu den vorrangigen NutzerInnen des traditionellen Kulturbetriebs zählen.
Die Sozialdemokratie der 1970er Jahre konnte mit ihrem Schlachtruf „Kultur für alle“ dort noch glaubwürdig sein, wo sie auf der Grundlage vielfältiger Reformen in der Bildungs-, Jugend- oder Familienpolitik eine umfassende Vermittelständigung versprach, die sich aus der umfassenden Verbesserung der materiellen und immateriellen Lebensbedingungen breiter Teile der Bevölkerung ergeben sollte. Dieser neue, verbreiterte Mittelstand (damit nicht schon „alle“ aber zumindest wesentlich „mehr“ BürgerInnen) sollten die Bildungsvoraussetzungen mitbringen, das Angebot des Kulturbetriebs Wert zu schätzen und weiter zu tragen.
Der neoliberale Turn ab den 1980er Jahren sollten den erhofften Trend zur Vermittelständigung in eine neue Richtung lenken: Angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten verwandelte sich der neue Mittelstand rasch in ein räsonierendes Kleinbürgertum, das sich zunehmend verzweifelt bemüht, zu retten was zu retten ist. Statt als souveräner Träger des Kulturbetriebs zu wirken sehen sich immer mehr Menschen in der Angst, erreichte Lebensstandards nicht länger halten zu können, um sich statt dessen auf eine zunehmend unsichere Zukunft einzurichten.
Der fundamentale Widerspruch, der da für mich entsteht, liegt im Umstand, dass sich Kulturpolitik mit ihren aktuellen Kunst- und Kulturvermittlungsbemühungen mehr denn je auf den Slogan „Kultur für alle“ bezieht, ohne freilich mit zu berücksichtigen, dass sich seither die soziologischen Eckdaten fundamental verändert haben. Und so erleben wir heute die Fortsetzung eines traditionellen Programmangebotes des Kulturbetriebs an einen Mittelstand, den es allein auf Grund der geänderten Bildungsvoraussetzungen immer weniger gibt. Statt aber das Programm zu verändern, überbieten sich die Einrichtungen in Vermittlungsbemühungen an ausgerechnet dienjenigen, die deren Wert auf Grund ihrer mangelnden Bildungsvoraussetzungen gar nicht verstehen können.
Da hilft auch nichts, dass sich in der letzten Ausgabe der Wochenzeitschrift Die Zeit Jens Jenssen unter dem Titel: „Hoch die Hochkultur!“ sich noch einmal mit einem flammenden Plädoyer für die Hochkultur ins Zeug legt. Zu vermuten ist auch in diesem Fall, dass die Anzahl der LeserInnen aus bildungsfernen Schichten als eher gering zu veranschlagen ist.
Die Antwort einer pluralistischen Gesellschaft wird wohl a la longue radikaler ausfallen müssen als Selbstbestätigung durch Vermittlung. Sie heißt schlicht: Weiterentwicklung des Programmangebotes entlang der geänderten Bildungs- und Rezeptionsvoraussetzungen. Dass das mehr bedeuten könnte, als sich an den Vorgaben einer kommerziellen Kulturindustrie zu orientieren, scheint mit die eigentliche kultur- und bildungspolitische Herausforderung.
Die zweite Vermutung, die mir während meines Vortrages gekommen ist, betrifft die Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen. Nicht nur der große US-amerikanische „Art Educator“ Eliot Eisner betonte in seinen Schriften immer wieder die Bedeutung von Beziehungen im Zusammenhang mit der Organisation von Lernprozessen. Auch da gibt es für mich eine Analogie aus der Geschichte, wo es zu den ursprünglichen Kernkompetenzen des Lehrers gehört hat, die SchülerInnen zu folgsamen und unbedingt obrigkeitsgläubigen Bürgern zu erziehen. Damit diese Lernziele erreicht wurden, musste eine extrem ungleiche Beziehung aufgebaut werden, die die Rollen zwischen Befehls- und Wissensgeber und Befehls- und Wissensnehmer klar verteilte.
Diese streng hierarchisierten Beziehungen haben sich in der Zwischenzeit gelockert, freilich ohne ganz verschwunden zu sein. Nach wie vor entscheidet der/die LehrerIn weitgehend einseitig über die Fähigkeiten und Fertigkeiten und damit über die Lebenschancen der ihm/ihr Anempfohlenen.
Wieder stellt sich die Frage nach einer adäquaten LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung in einer pluralistischen Gesellschaft. Vieles spricht dafür, dass Gehorchen nicht mehr das zentrale Beziehungsscharnier für ein gedeihliches Zusammenleben auf Augenhöhe angesehen werden kann. Statt dessen wird ganz offensichtlich die Kompetenz, eigene, wenn auch begründete Entscheidungen treffen zu können, immer wichtiger. Das Erlernen dieser Fähigkeit (das man übrigens anhand der spielerischen Beschäftigung mit Kunst zur Ausbildung eines artikulierten Geschmacksurteils wunderbar erproben kann) hängt eminent mit der Fähigkeit des/der LehrerIn ab, sich zurückzunehmen und statt vordergründigem Aktionismus auf das allmähliche Entwickeln eines wechselseitigen Vertrauensverhältnisses zu setzen.
Wieder sind es jüngste EDUCULT-Studien, die mich in diesem Befund bestärken, wenn SchülerInnen in Deutschland unisono zurückmelden, dass ihre Bereitschaft, sich an Lernprozessen zu beteiligen, signifikant steigt, wenn sie selbst in Entscheidungen eingebunden werden; wenn sie Verantwortung übernehmen können und wenn man ihnen bestimmte Aufgabe nicht nur formal überträgt sondern auch faktisch zutraut.
Da ist mir die Vermutung gekommen, ob man an der Beziehung zwischen LehrerInnen und SchülerInnen in der Schule unmittelbar etwas über den Zustand unserer Demokratie ablesen kann; mehr, ob nicht diese Beziehung über die Qualität der demokratischen Verhältnisse entscheidet.
Und jetzt noch etwas ganz anderes: Heute morgen strapazierte die österreichische Finanzministerin Maria Fekter angesichts galoppierender Finanzmärkte den Vergleich mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Damals grassierende Entsolidarisierungstendenzen
hätten wesentlich dazu beigetragen, den Kontinent in den Krieg zu führen. Deutlicher kann man es wohl nicht mehr sagen, um den europäischer Nationen zu verdeutlichen.
Kaum haben wir uns an die Gerade-Noch-Rettung Griechenlands durch eine widerstrebende EU zur Kenntnis genommen, droht die Zahlungsunfähigkeit weiterer EU-Länder wie Portugal, Spanien und jetzt auch Italien. Parallel dazu hören wir vom politischen Patt in den USA, die die Weltmacht bereits im August zahlungsunfähig machen könnte.
Und so vertieft sich der Eindruck, dass da über den Köpfen weiter Teile der nationalen Bevölkerungen hinweg ein transatlantischer Finanz- und Wirtschaftskrieg, vorrangig zwischen den USA und Europa ausgefochten wird, der zwar noch nicht unmittelbar Menschenleben fordert, aber sich dennoch in bewusster Zerstörungsabsicht gegenüber materiellen und auch immateriellen Werten als für immer mehr Menschen lebensbedrohlich erweist.
Man mag es drehen oder wenden wie man will aber die konkreten Lebensverhältnisse vor allem für junge Menschen verschlechtern sich in diesen Tagen auf nachhaltige Weise und erzeugen damit ein gefährliches Potential, das den erreichten sozialen Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften nachhaltig bedroht. Hier geht es nicht mehr um die Zuwanderung einiger weniger, die sich schwer mit der Integration tun; hier geht es um das Auseinanderdriften der nationalen Gesellschaften in einige wenige Krisengewinner und in die vielen Krisenverlierer.
Spätestens hier sollten wir aufhören, den Sirenenklängen der europäischen Rechten zu misstrauen: In diesem transnationalen Konflikt um die Hegemonie über die globale Finanz(un)ordnung haben nationale Regierungen mit ihren Souveränitätsansprüchen längst keine Chance mehr. Wenn als eines der Assets der Europäischen Union immer wieder hervorgehoben hat, dass sie dem Kontinent 60 Jahre Frieden beschert hat, dann beweist allein die Aussage der konservativen Maria Fekter, dass es bei dieser Qualität nicht um eine nostalgische Reminiszenz handelt sondern um eine existentielle Herausforderung, die die Union auf Gedeih und Verderb miteinander verbindet.
Wenn, wenn nicht jetzt sind gemeinsame europäische Antworten gefragt, die als einzige in der Lage sind, den globalen Finanzakteuren noch einmal, wenn auch sehr spät, noch einmal Paroli zu bieten.
Die Renationalisierungsstrategien der Rechten a la Strache und Le Pen („Griechenland raus aus der EU“ oder „Die EU ist tot“) nehmen – Zuwanderung hin oder her – wissentlich die Verelendung weiter Teile der nationalen Gesellschaften in Kauf. Und es ist genau diese Verelendung, die sie zu brauchen meinen, um ihren Herrschaftsanspruch umsetzen zu können. Das wäre dann der Zeitpunkt, wo der heute noch kalte Wirtschafts- und Finanzkrieg der alten Wirtschaftsmächte noch einmal in einen heißen umzuschlagen droht, in dem wirtschaftliche und politische Interessen gewaltsam ausgetragen werden.
Und dieser Bedrohung sollten wir mit einem klaren EU-Bekenntnis – gerade und ganz besonders jetzt – begegnen. Zum Unterschied von Fektor will ich mir dieAlternative gar nicht vorstellen.
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