Eine Kultur für alle!
In einem ihrer Pasticcio-Sendungen hat mich Mirjam Jessa auf einen Auftritt Friedrich Guldas aufmerksam gemacht. Der Pianist spielte in Montepellier seine Version von Stücken aus der Fledermaus und erntete dafür frenetischen Applaus.
Nun gehört diese Operette von Johann Strauss wahrscheinlich zum Wienerischsten, was das Musikrepertoire zu bieten hat. Und auch Friedrich Gulda mag seine Herkunft als Kind aus Erdberg nicht verhehlen. Aber ganz offensichtlich tut dieses Lokal-Kolorit dem Umstand keinen Abbruch, dass auch Franzosen mit seiner Interpretation von „Brüderlein und Schwesterlein“ etwas anfangen können.
Das Vorurteil, nur ein „echter“ Wiener könne diese Musik „richtig“ erfassen, lässt sich nicht nur an diesem Beispiel sehr einfach falsifizieren. Für mindestens ebenso dumm halte ich die Behauptung, Musik – noch dazu egal welche – wäre ein Medium, das jeder verstehen könne; sie wäre uns irgendwie in die Wiege gelegt und so allen gleichermaßen zugänglich. Dass dem nicht so ist kann ich an mir selbst belegen, wenn ich lange Zeit mit Strauss’scher Musik gar nichts anfangen konnte, besser wollte: Sie erschien mir als ein besonderer Ausdruck eines bildungsbürgerlichen Standesdünkels, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Also musste ich mich auf einen durchaus mühsamen und kontroversiellen Prozess der Aneignung einlassen, bei dem mir die Interpretationen Friedrich Guldas sehr geholfen haben.
Und ich musste lernen, dass ich mich mit Musik auseinandersetzen, mich um sie bemühen muss. Dass sie sich jedenfalls nicht von selbst erschließt, auch nicht ihre typisch Wienerische Variante. Dass ich selbst in Wien geboren bin, ändert nichts an diesem Auftrag. Und ich vermute, dass es Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen nicht anders geht, egal ob in St. Pölten, Paris, New York oder Shanghai; wenn sie vom Empfang des Neujahrskonzertes mehr erwarten, als sich von der Aura des Goldenen Saales beeindrucken zu lassen.
Vielleicht liegt ja die eigentliche Qualität nicht nur der typisch Strauss’schen Musik gerade darin, mich ebenso lernend wie spielerisch auf fremdes Terrain zu locken, damit dorthin, wo sich ganz unerwartete Abgründe hinter den eingängigen Melodien auftun und ich mich – wie in Montpellier- plötzlich an einem musikalischen Ort finde, wo ich noch nie davor war. Und ich mich im Spiegel der Musik auf neue Weise zu erkennen vermag.
Auf dem Weg zurück, dorthin, wo wir Sicherheit in der Kultur zu finden hoffen
Wenn Musik das vermag, dann erscheint es mir erstaunlich, dass sich seit einigen Jahren wieder verstärkt Bemühungen bemerkbar machen, die für Heranwachsende ein verbindliches Set an kulturellen Gegebenheiten fordern. Dieses – so das große Versprechen – soll eine Verbindlichkeit schaffen, die selbst eine Ahnung über die Abgründigkeit künstlerisch-ästhetischer Erfahrung erst gar nicht aufkommen lässt. Konkret haben sich einige Länder, allen voran die Niederlande und Dänemark, dazu entschlossen, in ihren schulischen Curricula noch einmal einen Kanon vorzuschreiben, an dem sich kulturelle Bildungsmaßnahmen orientieren sollen. Verkürzt: Alle Bürger*innen sollen sich unter einer ihnen amtlich zugeschriebenen Kultur versammeln, hinter deren scheinbarer Selbstverständlichkeit sich nichts Fremdes mehr finden lässt.
Die Gründe lassen sich freilich nicht in einer Neufassung ästhetischer Theorie, zumal in Bezug auf geänderte Rezeptionsweisen finden. Stattdessen stellen sie eine Antwort auf Herausforderungen liberaler Gesellschaften dar, die den Primat einer für alle verbindlichen nationalen Kultur hinter sich gelassen haben und sich dementsprechend mit unübersichtlichen Heterogenisierungsprozessen herumschlagen müssen. Es drohe die Gefahr von „Parallelgesellschaften“, deren Mitglieder sich der Identifikation mit einer nationalstaatlichen kulturellen Hegemonie verweigern würden. Ihnen wird vorgeworfen, nicht nur kulturell eigene Wege gehen zu wollen……
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Bild: wikimedia: “Ehre_sei_Gott_in_der_Höhe“/Ludwig Ernst Gebhardi. CC BY-NC-SA.
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