Eine neue Renaissance ist möglich
Jüngst bin ich auf das Buch „Die Wende – Wie die Renaissance begann“ gestoßen. Darin schildert Stephen Greenblatt, Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Autor einer faszinierenden Shakespeare-Biographie, die abenteuerliche Entdeckung des letzten Exemplars eines antiken Textes mit dem Titel „de rerum natura“ von Lukrez. Greenblatts Recherchen zufolge hätte sich 1417 der Sekretär von Papst Johannes Paul des XXIII (dieser Name findet sich als einziger zweimal in der päpstlichen Ahnengalerie), Poggio Bracciolini, nach dessen Absetzung in Konstanz auf eine höchst unsichere Reise nach Süddeutschland aufgemacht und in einem Kloster das letzte erhalten gebliebene handgeschriebene Manuskript entdeckt.
Das Außerordentliche an dem Fund bestand nicht nur darin, dass damit ein viele Jahrhunderte hinter dicken Klostermauern versteckter Text einer mittelalterlichen Nachwelt zugänglich wurde. Es bestand auch in der inhaltlichen Brisanz der Botschaft selbst, der das alles beherrschende theokratische Weltbild des frühen 15. Jahrhunderts ursächlich in Frage stellte und damit die bislang von Gott gegebene strenge gesellschaftliche Ordnung nachhaltig ins Wanken brachte. Lukrez, der sich selbst in der Nachfolge Epikurs sah, vertrat in seinem mehrere hundert Seiten starken Gedicht die Lehre des „Atomismus“. Diese sah Welt nicht von den Göttern gelenkt (wenn es sie denn gäbe, dann hätten sie anderes zu tun, als sich um die Welt zu kümmern), sondern aus sich selbst gestaltet.
Nach Greenblatt habe diese Entdeckung die Grundfesten des mittelalterlichen Denkens erschüttert und mit seinen – viele Jahrhunderte vergessenen – unerhörten Aussagen das Aufkommen der Renaissance wesentlich mitbestimmt. Damit ermöglichte Bracciolini nicht mehr und nicht weniger als die Grundlage einer modernen Weltsicht, die im Sinne einer humanistischen Fortschrittsgeschichte bis heute nicht an ihr Ende gekommen ist. Wenn auch nicht alle Kritiker bereit sind, dieser These gleichermaßen zu folgen, so scheint mit dieser Erzählung doch ein grundsätzlicher Widerspruch angesprochen, der – jedenfalls in Bezug auf das Bildungssystem – bis heute nicht gelöst scheint.
In dem Gedicht von Lukrez findet sich der Satz: „quo quaeque modo fiant opera sine divom“ („Woraus folgt, dass alles ohne Götter geschieht“). Diese explizite Formulierung a-theistischer Vorstellungen muss zum Zeitpunkt seiner Wiederentdeckung als eine ungeheuerliche Provokation verstanden worden sein. Immerhin traf es auf ein Bewusstsein einer mittelalterlichen Gesellschaft, die sich in der unbedingten Abhängigkeit eines umfassenden göttlichen Willens wusste, der all ihr Sinnen und Handeln bestimmte. Entsprechend kam alles, was ihr tägliches Leben ausmachte, „von oben“ und war bestimmt durch eine außerirdische Instanz, die es verstand, ihren Willen mit Hilfe ihrer irdischen Stellvertreter durchzusetzen. Alle anderen hatten – auf ewiges Gedeih und Verderb – diesem Willen zu gehorchen.
Die gedankliche Außerkraftsetzung einer solchen umfassenden göttlichen Ordnung öffnete die Tür für einen Humanismus, der den Menschen die Werkzeuge an die Hand geben sollte, sich ihre Welt selbst zu gestalten (und sie sich nicht mehr von Gott vorschreiben zu lassen). Es ist gut nachvollziehbar, zu welchen existentiellen Ängsten des Verlassenseins (und damit verbundener Gegenwehr) der Rückzug eines göttlichen Universalanspruchs führen musste. Ganz offensichtlich setzte er aber auch eine unerhörte, bislang unbekannte Kreativität bzw. einen Gestaltungswillen frei, der die Epoche der Renaissance mit einer ganz neuen Haltung von Künstlern und Wissenschaftern gegenüber der Welt bestimmen sollte.
Dieser Anspruch einer anthropozentrischen Weltsicht sollte seine Entsprechung in einer humanistischen Bildung finden, die sich – weit über Lukrez hinausgehend – an antiken Vorstellungen orientierte und zugleich weit in die Zukunft wies (überdies konnte sie durch die Erfindung des Buchdrucks breiteren Kreisen der gelehrten Welt bekannt gemacht werden). Die antike Bildung wurde als unübertreffliches Vorbild empfunden und das lebensbejahende und schöpferische Individuum zum erstrangigen Maßstab gesellschaftlicher Entwicklung erhoben.
Der Widerspruch, der sich mir in diesem Zusammenhang auftut, besteht in dem Umstand, dass ganz offensichtlich bereits damals alle gedanklichen Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, das lernende Individuum in den Mittelpunkt von Bildungsprozessen zu rücken. Aus humanistischer Sicht ist es ihm seit damals aufgetragen, einen aktiven Part in der Gestaltung von Welt zu übernehmen und sich so von der Dominanz irdischer und überirdischer Vorherrschaft zu emanzipieren. Das ist – ganz offensichtlich – bis heute nicht in vollem Maß gelungen.
Einer der Gründe mag darin liegen, dass es die Kirche verstanden hat, sich das Bildungsmonopol und damit die Definitionsmacht darüber, worin Bildung besteht, nicht aus der Hand schlagen zu lassen. Und so verblieb das Schulwesen weitgehend in göttlicher Hand, was u.a. dazu führte, dass die italienischen Humanisten bereits zur Hochzeit der Renaissance zu einer Kompromissvorstellung fanden – mit der sich Lukrez nicht zufrieden gegeben hätte –, wonach der Mensch als Ebenbild Gottes anzusehen sei und in dieser Verfasstheit die Krone der Schöpfung darstelle.
Ganz offensichtlich ist es bereits in der Phase des Aufbruchs in die Moderne nicht gelungen, Bildung aus der Umklammerung theozentrischer Vorstellungen zu befreien und damit den Selbstgestaltungswillen des Lernenden zu seinem vollen Recht zu verhelfen. Sieht man von einigen gelehrten Zirkeln ab, so scheint eher das Gegenteil der Fall gewesen. Überdeutlich zeigt sich in den folgenden Jahrhunderten ein ungebrochener Wille zur Indoktrination, der Lernen nach wie vor als einen einseitigen Prozess „von oben nach unten“ begreift und den Lernenden mit Ausnahme der Wiederholung des Gelernten keinerlei Selbstausdruck gestattet.
Diese Figur eines „von oben angeleiteten Lernens“ aus dem Geist der Theokratie (die bis heute in der Organisation des absolutistischen Vatikanstaates besichtigt werden kann) scheint mit einer immensen Kraft ausgestattet. Immerhin setzen sich auch mit dem Übergang von kirchlicher zu staatlicher Organisation des Schulwesens diese Abhängigkeitsverhältnisse mehr oder weniger ungebrochen fort. Etwa, wenn mit dem Aufkommen des Industrialismus die massenhafte Zurichtung von Menschen als gut funktionierende Verlängerungen von Maschinen den Lehrplan bestimmte.
Es ist zwar nicht mehr der Herrgott, der die Lernenden beim Erwerb unabdingbarer Untertanenmentalität in Angst besetzter Abhängigkeit hält. Aber auch seine säkularen Substitute verhalten sich nicht viel anders, wenn sie genau zu wissen vorgeben und wenn sie im vorgeblichen Wissen, was für „ihre“ SchülerInnen gut ist und was nicht, nicht bereit sind, die Definitionsmacht von Lernprozessen mit den ihnen Anvertrauten zu teilen. Daran haben auch alle Versuche einer Minderheit, etwa im Rahmen reformpädagogischer Konzepte, die SchülerInnen in den Mittelpunkt zu rücken und ihnen mehr Kompetenz zur Mitgestaltung von Lernprozessen zu überantworten, im Grundsatz nur wenig geändert.
Ich hatte Gelegenheit, vor wenigen Tagen an einer Konferenz in Vilnius teilzunehmen, die sich damit beschäftigt hat, ein großes Projekt zur Schulentwicklung auf den Weg zu bringen. Von „Creative Partnerships“ aus England lernend (und mit Mitteln des Europäischen Strukturfonds ausgestattet) haben sich dort sowohl die beiden für Kultur und Bildung zuständigen Minister als auch eine hoch motivierte Gruppe von PraktikerInnen aus Schule und dem Kulturbetrieb aufgemacht, einen Neuanfang zu wagen. Im Gegensatz zu Versuchen in anderen Ländern war für mich bemerkenswert, dass sich die BetreiberInnen dieser litauischen Initiative der Mühe unterzogen haben, konzeptive Grundlagen für ihr Handeln zu entwickeln. Entsprechend nahm die Auseinandersetzung zur Ausgestaltung eines zeitgemäßen Begriffs von humanistischer Bildung einen großen Stellenwert ein.
Auf dieser Grundlage waren sich die TeilnehmerInnen einig, dass auch noch so gut gemeinte Bemühungen, „Kreativität“ in die Schule zu tragen, bei Aufrechterhaltung der bestehenden Strukturen (und damit der Vorstellungen und Erwartungen der Beteiligten) nur wenig Chancen auf Umsetzung haben. Nach obigen Überlegungen hat das System hinlänglich den Beweis erbracht, wie gut es in der Lage ist, alle Ansprüche auf das, was „Kreativität“ im Wortsinn ausmacht, nämlich die umfassende Mitgestaltung der Lernenden ihrer Lebenswelt, abzuwehren.
Mir ist dabei gerade in Litauen, einem Land mit einer ebenso starken religiösen Tradition wie politischen Abhängigkeitserfahrung durch imperiale Mächte eine, zugegeben kühne, Assoziation gekommen. Sie besteht darin, den ursprünglichen Faden, den die Humanisten der ersten Stunde gelegt haben, noch einmal aufzunehmen und auf das Heute zu beziehen.
Wie damals Italien steht heute nicht nur Litauen vor der Grundsatzentscheidung, ob es jetzt möglich ist, überkommene Abhängigkeitsverhältnisse real und mental in und außerhalb der Schule zu überwinden und damit den Selbstgestaltungskräften in der Gesellschaft in umfassender Weise (nicht nur in einer Schulstunde jeweils am Dienstag von 9:20 bis 10:10) zum Ausdruck zu verhelfen. Auch in Bezug auf die mediale Entwicklung lassen sich Parallelen ziehen, wenn eine dem Buchdruck vergleichbare massenwirksame Innovation durch die digitalen Medien für ihre massenhafte Verbreitung sorgen kann.
In diesem Sinn haben mich die Erfahrungen in Vilnius dazu ermutigt, hinter dem täglichen Krisengeheul zur Bestärkung eines ebenso umfassenden wie verunsichernden Endzeitgefühls in Europa einer Ahnung von einer neuen Renaissance nachzuspüren, die das einlöst, was an humanistischen Vorstellungen bislang uneingelöst geblieben ist.
Vielleicht also sollten wir uns nochmals an die Lektüre von Renaissancetexten machen oder gar von „de rerum natura“ (das von einem neuerlichen Vergessen bedroht ist) nochmals hervorholen. Sie würde bestätigen, dass gerade an Zeitenwenden eine massenhafte Freisetzung schöpferischer Energien möglich ist. Aber sie ist verbunden mit der Zumutung, dass sich alle Mitglieder der Gesellschaft endlich das Recht herausnehmen, in Wahrnehmung ihrer Eigenverantwortung ihre kreativen Potentiale dazu zu nutzen, die Welt ohne Zuruf von oben mitzugestalten. Und dazu vermag Bildung, die den Lernenden ins Zentrum rückt, mehr denn je einen entscheidenden Beitrag zu leisten.
P.S.: Helfen könnten dazu Überlegungen von Axel Honneth, Professor für Philosophie, der in der jüngsten Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ noch einmal auf den engen und doch zuletzt in der öffentlichen Diskussion verlorengegangenen Zusammenhang von politischer Philosophie und Pädagogik hingewiesen hat. Er widerspricht dabei der aktuellen Verengung von Schule als Ort der individuellen Berufsvorbereitung (eine Engsicht, die durchaus auch im Rahmen des englischen Modells von „Creative Partnerships“ gepflegt wurde, wenn es darum ging, jungen Menschen in der Schule vornehmlich neue Berufschancen im Bereich der „Creative Industries“ zu eröffnen).
Stattdessen definiert er Schule – in der Nachfolge von Dewey und Durkheim – in erster Linie als Vorbereitung auf die zukünftige Staatsbürgerrolle zur gemeinsamen Gestaltung von Gesellschaft, die weniger in angemessener Wissensvermittlung, sondern vielmehr in praktischer Gewohnheitsbildung bestehe: „Was die Schüler erlernen sollen, um später an der demokratischen Willensbildung teilnehmen zu können, sind nicht in erster Linie überprüfbare Kenntnisse über politische und geschichtliche Zusammenhänge, sondern Verhaltensweisen, welche das moralisch selbstbewusste Auftreten in einer Gemeinschaft erlauben. Im Unterricht müssen die Heranwachsenden durch kooperative Lernmethoden, durch Mitbestimmung und schließlich durch eher gemeinschaftsbezogene als individuelle Formen des Tadels und der Ermutigung daran gewöhnt werden, sich jenen Geist des demokratischen Zusammenwirkens anzueignen, der ihnen im Erwachsenalter zu einem selbstbewussten Auftreten in der politischen Öffentlichkeit verhelfen kann.“
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