Es gibt ein sinnerfülltes Leben jenseits der Arbeit
„Lesen ist der Anfang von allem, was den Menschen zum immer unvollkommenen Schöpfer seiner Welt macht. Doch auch das biologische Leben ist nur als Kunstwerk haltbar, das einem jeden Augenblick den Atem rauben könnte.“ (Aus dem Roman „Der weiße Freitag“ von Adolf Muschg.)
Spätestens mit der Durchdringung der digitalen Medien aller Arbeits- und Lebensbereiche sind wir mit einem fundamentalen Widerspruch konfrontiert, der unsere Hoffnungen auf ein sinnstiftendes Leben zu untergraben droht. Da erreichen uns in diesen Tagen wissenschaftlich begründete Informationen, dass auf Grund fortschreitender Automatisierung in den nächsten Jahren in den westlichen Industriestaaten zumindest 40% der Arbeitsplätze unwiederbringlich verloren gehen werden. Diese dramatischen Verknappungen auf dem Arbeitsmarkt werden nicht nur einfache repetitive Tätigkeiten betreffen; auch hoch- und höchstqualifizierte Berufsgruppen wie ÄrztInnen, RechtsanwältInnen und wohl auch LehrerInnen haben sich darauf einzustellen, dass weite Teile ihrer Tätigkeiten früher oder später von Robotern übernommen werden. Sie können trotz hohem Qualifikationsaufwand durch Maschinen ersetzt werden und sind dazu verurteilt, mit ihrer menschlichen Fehleranfälligkeit aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden.
Und da sind andererseits die ungebrochenen Forderungen nach hohen Beschäftigungszahlen als Ausweis erfolgreicher Politik. Immerhin hat die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 zu massiven Einbrüchen auf den europäischen Arbeitsmärkten (mit horrenden Zahlen von jugendlichen Arbeitslosen vor allem in Südeuropa) geführt. Aber jetzt werden mit dem vorsichtigen Anstieg der Wirtschaftswachstumsdaten erneut Hoffnungen geweckt, der Verlust an Arbeitsplätzen ließe sich noch einmal in sein Gegenteil verkehren. Entsprechend hoch sind die Erwartungen, die Hegemonie der überkommenen Wirtschafts- und Arbeitsformen könnte mit Hilfe wirtschaftlicher Anreizsysteme aufrechterhalten werden.
Über das wahrscheinliche Ende der Arbeitsgesellschaft
Zweifel an dieser These gibt es seit zumindest 30 Jahren. Immerhin hatte sich die SPÖ als ehemals erste Adresse von ArbeitnehmerInnen-Interessen bereits 1983 vom politischen Primat der Vollbeschäftigung verabschiedet. Bereits damals war die Rede von einer drohenden „Zweidrittelgesellschaft“, die vor allem schlecht ausgebildete Arbeitskräfte auf Dauer vom Arbeitsmarkt verdrängen würden. Es war weniger die Angst, mit dem Ausschluss vom Arbeitsmarkt mehr und mehr Menschen einer existentiellen Perspektivlosigkeit auszuliefern, als die Sorge um die künftige Finanzierung des Sozialstaates, dessen Aufrechterhaltung bis heute im Wesentlichen auf den Erträgen der Arbeitsgesellschaft beruht. Gefordert wurde nicht nur eine generelle Arbeitszeitverkürzung auf 35 oder gar 32 Stunden sondern auch die Einhebung einer „Maschinensteuer“, die erstmals von Sozialminister Alfred Dallinger (1980-1989) in die politische Diskussion gebracht wurde.
Und schon damals tat sich eine Kluft auf zwischen denjenigen, die davon ausgingen, dass immer mehr menschliche Tätigkeiten von Maschinen kostengünstiger und auch besser ausgeführt werden können, um auf diese Weise Lohnarbeit als zentrale Sinnstiftung zu relativieren. Und denjenigen, die behauptet haben, es liege in der Natur des permanenten Wandels der kapitalistischen Produktionsweise, nicht mehr notwendige Formen der Beschäftigung im Rahmen innovativer Prozesse durch neue, lukrativere zu ersetzen, um so den Primat einer Arbeitsgesellschaft aufrecht zu erhalten. Wenn heute selbst zentrale Wirtschaftsakteure wie Bill Gates nachzudenken beginnen und sich für die Einhebung einer Robotersteuer aussprechen, so zeugt diese von einer beträchtlichen Infragestellung diesbezüglicher Hoffnungen.
Nun hat sich der Arbeitsmarkt in den letzten Jahren nachhaltig geändert. Eine Reihe neuer, in den 1990er Jahren noch undenkbarer, nur von Höchstqualifizierten ausfüllbare Jobprofile ist entstanden. Zugleich hat sich ein neues Service-Proletariat gebildet, das mit seinen geringen Arbeitseinkommen in nur sehr prekärer Weise in der Lage erscheint, über die Runden zu kommen. Und es bleibt ein wachsender Rest, für den sich schon auf Grund mangelnder schulischer Bildung (zur Zeit verfügen mehr als ein Drittel der SchulabgängerInnen in Österreich über beträchtliche Defizite in zumindest einer der elementaren Kulturtechniken) eine Existenz als lebenslanger arbeitsloser Sozialfall abgezeichnet. Während aber in Österreich die Frage eines, seit der Diskussion um die „Zweidrittelgesellschaft“ virulent gewordenen „bedingungslosen Grundeinkommens“ wieder eingeschlafen erscheint, nehmen andere Länder wie Finnland einen Paradigmenwechsel der Arbeitsgesellschaft, die in Zukunft nur mehr einer beschränkten Anzahl von BürgerInnen bezahlte Arbeitsplätze zur Verfügung stellen wird können, als weitgehend gegeben und experimentieren mit neuen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Konzepten.
Das MAK plant unter dem Titel „Roboter.Arbeit.Unsere Zukunft“ ab dem Juni dieses Jahres eine Biennale, um sich mit diesen Fragen vor allem aus künstlerischer Sicht noch einmal grundsätzlich auseinanderzusetzen. Die Ankündigung verspricht nicht mehr und nicht weniger als „mit kreativen Ideen und künstlerischen Projekten zur Verbesserung der Welt beizutragen“. Mit einer solchen breitgefassten Zielsetzung werden die OrganisatorInnen um Fragen, ob wir leben, um zu arbeiten oder ob wir arbeiten, um zu leben oder ob es gar möglich ist, ein sinnerfülltes Leben jenseits der Logiken der Arbeitsgesellschaft zu führen, nicht herumkommen.
Vom „Reich der Notwendigkeit“ ins „Reich der Freiheit“
Obwohl zurzeit der Film „Der junge Karl Marx“ eine interessierte Zuschauerschaft findet, hat das seit 1989 für alternativlos erklärte kapitalistische Wirtschaftsregime viele seiner Denkanregungen in Vergessenheit treten lassen. Ein – für den Kulturbereich besonders eindrücklicher – Impuls bestand darin, zwischen einem „Reich der Notwendigkeit“ und einem „Reich der Freiheit“ zu unterscheiden. Ersteres war von Marx für die arbeitenden Menschen nur als ein, eben notwendiges Übergangsstadium gedacht, um sie früher oder später in zweiterem zu ihrer eigentlichen Bestimmung finden zu lassen. Gekommen ist es dazu trotz aller revolutionären Versuche der grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzung bis heute nicht. Stattdessen fand diese theoretische Trennung in der bürgerlichen Existenz eine erste und doch unzulängliche Synergie. Immerhin sind ihre RepräsentantInnen zur Schaffung ihrer Lebensgrundlagen mehr auf die Zwänge der Arbeitsgesellschaft, als dem Reich der Notwendigkeit, verwiesen. Zugleich sollen sie in ihrer knapp bemessenen Freizeit für diese Form der Unterwerfung mit einen vielfältigen Angebot des Kunst- und Kulturbetriebs (als vorweggenommenes Reich der Freiheit) belohnt werden.
Von der Aristokratie lernen
Als radikaler erwiesen sich da schon die bourgeoisen VorgängerInnen in Gestalt einer von den Mühen der Arbeit weitgehend befreiten Aristokratie, die von ihren Freiheiten nicht nur in Form radikaler Ausbeutung der niederen Stände Gebrauch gemacht haben, sondern auch in der Ausgestaltung eines künstlerischen Ambientes. Die Resultate können bis heute von einem interessierten Bildungsbürgertum, das das Privileg genießt, sich in den Niederungen der Arbeitsgesellschaft nicht völlig erschöpfen zu müssen, in den Tempeln des kulturellen Erbes bewundert werden.
In einer solchen Rückschau liegt die besondere Herausforderung der aktuellen Transformationsprozesse im Bereich der Arbeitsgesellschaft nicht allein darin, die großen, in künstlerischen Artefakten repräsentierten Zeugnisse einer von Arbeit befreiten aristokratischen Lebensweise zu bestaunen, sondern in deren Fähigkeit, ihre Sinnstiftung vor allem in der Kultivierung ihrer Verkehrsformen zu finden. Darin ist den Künsten – als nicht unmittelbar nutzenorientierte Ausdrucksform einer ebenso sinnlichen wie sinnstiftenden Lebensweise – eine, bis heute neidvoll wahrgenommene besondere Bedeutung zugekommen.
Es war – nicht nur aus marxistischer Sicht – eine zentrale revolutionäre Forderung, die überkommene Herrschaft der Aristokratie (und bei der Gelegenheit auch gleich die der auf sie folgenden Bourgeoisie) zu brechen. Das änderte aber nichts daran, dass die aristokratische Lebensweise erstmals in der Geschichte die Tür zum „Reich der Freiheit“ aufgestoßen hat, die bis heute darauf wartet, nicht nur in einer zunehmend karg bemessenen Freizeit durchlaufen, sondern mit den unerschöpflichen Inhalten eines selbstbestimmten Lebens ausgestaltet zu werden.
Über eine sinnstiftende Lebensgestaltung jenseits der Logik der Arbeitsgesellschaft
Nun liegt mir nichts ferner, als mir die Rückkehr einer feudalen Gesellschaftsverfassung zu wünschen. Vor dem Hintergrund bereits erreichter Freiheiten bei der Lebensgestaltung als einem „Gesamtkunstwerk“ (zugegeben einer kleinen Elite) aber könnte sich die Mühe lohnen, die oben angesprochenen radikalen Automatisierungstendenzen nicht nur als Bedrohung zu erfahren, sondern als eine Möglichkeit für mehr und mehr Menschen, ein von den engen Zwängen des Arbeitslebens befreites und damit selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu führen, von denen frühere Generationen nicht einmal zu träumen gewagt haben. Eine solche Existenzweise beruhte heute nicht mehr auf der Ausbeutung einer Vielzahl an „Kulturlosen“, denen man glaubte, ihnen aufgrund ihrer inferioren sozialen Stellung den Austritt aus dem „Reich der Notwendigkeit“ verweigern zu können. Diese Form der Emanzipation würde ermöglicht durch den massenhaften Einsatz von Automatisierung, mit dem Ziel, im wahrsten Sinn mehr und mehr Menschen „freizusetzen“ und auf diese Weise ins „Reich der Freiheit“ zu entlassen.
Statt aber diesen Gedanken weiter zu denken scheinen wir heute mehr denn je gefangen in der Vorstellung, sich um fast jeden Preis den Mühen der fremdbestimmten Erwerbsarbeit unterziehen zu müssen, weil sie bislang als einzige Rückversicherung für ein sinnstiftendes Leben propagiert wird. Und wundern uns, dass vor allem mehr und mehr junge Menschen drauf und dran sind, sich diesem Diktat nicht zu unterwerfen und sich stattdessen auf den Wunsch beschränken, einfach ein gutes Leben führen zu wollen.
Einer der Gründe für diese Form der kollektiven Engstirnigkeit ist in der inhaltlichen Ausrichtung des gegenwärtigen Bildungssystems begründet. Es ist – weitgehend von unmittelbaren Verwertungsinteressen zur Förderung einer „Leistungsbereitschaft“ bedroht – in erster Linie darauf gerichtet, eine Zurichtung der jungen Menschen auf den Arbeitsmarkt mehr von gestern als von heute zu versuchen. Das strukturelle Dilemma besteht dabei darin, dass die Konturen des Arbeitsmarktes sich gegenwärtig dramatisch ändern und heute niemand sagen kann, welche Anforderungen dieser auch nur in wenigen Jahren stellen wird. Was wir aber wissen ist, dass es für mehr und mehr Menschen ungeachtet ihrer spezifischen Qualifikationen überhaupt keinen Zutritt zum Arbeitsmarkt mehr geben wird, sei es, weil sie einen solchen gar nicht mehr anstreben, sei es, dass er ihnen verweigert wird. Wenn das aber so ist, dann ist es höchste Zeit, die Bildungsziele von Schule nochmals grundlegend zu überdenken. Ihre aktuellen Prioritäten, für traditionelle Berufsbilder vorzubereiten, könnten sich als fatal erweisen, wenn es darum geht, die jungen Menschen auf ein sinnerfülltes und selbstbestimmtes Leben in Freiheit jenseits eines „Reiches der Notwendigkeit“ vorzubereiten.
Kulturelle Bildung als Begleitung auf dem Weg ins „Reich der Freiheit“
Der Rektor der Universität für angewandte Kunst Gerald Bast hat beim jüngsten europäischen Symposium „Kulturpolitik und Rechtspopulismus“ von Kunst, Kultur und Bildung als die zentralen Ressourcen für die Gestaltung der Zukunft gesprochen. Übersetzt auf den Bereich der kulturellen Bildung liegt in dieser Aussage auch eine große Verantwortung. Immerhin haben es ihre
VertreterInnen heute in der Hand, sich entweder darauf zu beschränken, die strukturelle Krise der Arbeitsgesellschaft für die wachsende Zahl der Leidtragenden mit einer Reihe von kompensatorischen Aktivitäten zu behübschen – oder aber als Anwalt emanzipatorischer Ansprüche Zukunftsszenarien zu antizipieren, die darauf hinauslaufen, die Logik der Arbeitsgesellschaft zu überwinden und Sinnstiftung außerhalb von in uns allen tief verwurzelten Zwängen zu ermöglichen.
Die arbeitslose Aristokratie hat uns gelehrt, dass dabei künstlerisches Tun als Ausdruck einer nicht unmittelbar nutzenorientierten spielerischen Ernsthaftigkeit ein zentrales Element darstellt. Mit dem Fortschritt der Automatisierung haben wir die Wahl zwischen der Verschärfung von fremdbestimmter Verelendung (in Gestalt eines wachsenden Heeres von lebenslang arbeitslosen Menschen) oder der Teilnahme am Kampf um sinnstiftende Selbstbestimmung. Und das für alle Menschen.
Kulturelle Bildung, die um solche grundsätzlichen Weichenstellungen weiß, könnte dabei ein zentraler Stellenwert bei der Begleitung nicht nur junger Menschen auf dem Weg ins „Reich der Freiheit“ und seiner inhaltlichen Ausgestaltung zukommen. Ihr ist nicht mehr und nicht weniger aufgegeben, als die Worte Adolf Muschgs, wonach eine humane Lebensgestaltung der Zukunft nur als Kunstwerk zu denken ist, in immer neue Weise Wirklichkeit werden zu lassen.
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