Europa darf nicht Theresienstadt werden
Nach der Besetzung Dänemarks im Jahr 1943 überzog das NS-Regime auch dieses Land mit einer Verhaftungswelle unter der jüdischen Bevölkerung. Den deutschen Häschern fielen rund 450 Juden in die Hände, die nach ihrem Aufgreifen in das Vorzeige-Konzentrationslager Theresienstadt in Tschechien gebracht wurden. Die mutige dänische Regierung forderte daraufhin die Behörden in Berlin auf, sie über den Verbleib ihrer Landsleute zu informieren.
1944 gestattete der, für die Judenvernichtung des deutschen Reiches zuständige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann einen Besuch des Internationalen Roten Kreuzes in Theresienstadt. Zuvor ordnete er eine groß angelegte „Verschönerungsaktion“ an: Den jüdischen Häftlingen wurde befohlen, die Häuserfronten zu streichen, Blumenbeete und einen Spielplatz für Kinder anzulegen, die Turnhalle in eine Bühne und eine Bibliothek zu verwandeln sowie einen Musikpavillon zu errichten. Um das Gelände weniger überfüllt erscheinen zu lassen, wurden rund 7 500 Personen vorzeitig nach Auschwitz geschafft.
Die Inspektoren des Roten Kreuzes ließen sich von den falschen Fassaden vollständig täuschen, sodass die Vertreter davon absahen, danach auch noch andere Lager im Osten, insbesondere das „Arbeitslager“ Auschwitz zu besichtigen. Der groß angelegte Schwindel erwies sich als ein großer Sieg für die Nazi-Propaganda.
Wenige Wochen nach der Inspektion begannen die Dreharbeiten zum Film „Theresienstadt“, der unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ in die Geschichte eingehen sollte. Der Film, der nicht vollständig erhalten geblieben ist, zeigt die scheinbare Idylle eines Lagers, in dem einander geregelte Arbeit mit vielfältigen sportlichen und kulturellen Freizeitaktivitäten abwechseln. Gezeigt werden u. a. „eine gut besuchte Vortragsreihe über wissenschaftlich und künstlerische Themen“, „kreatives Schaffen in einer Töpferei“, ein „Fußballspiel“ und eine „musikalische Darbietung eines Werkes eines in Theresienstadt lebenden jüdischen Komponisten“ durch ein großes Orchester.
Ein Großteil der jüdischen DarstellerInnen erlebte die Fertigstellung des Films nicht. Sie wurden unmittelbar nach Ende der Aufnahmen in andere Konzentrationslager weiter transportiert (unter ihnen auch der „Regisseur“ des Films Kurt Gerron, die in Auschwitz-Birkenau umkam). Die Nazis beabsichtigten, den Film in zahlreichern Kopien an internationale Organisationen zu versenden, um den Gerüchten über die deutsche Massenvernichtung entgegen zu wirken. Der Zusammenbruch der Ostfront und damit das Offensichtlichwerden der Gräueltaten des NS-Regimes sollte diesen späten Versuch euphemistischer Propaganda zunichte machen. Aber erst die Zeugenschaft der wenigen Überlebenden machte das ganze Ausmaß der Infamie des Lagerlebens deutlich, in dem sich Kabarett-, Theater- und Musikaufführungen mit zum Teil prominenten Ausführenden des kulturellen Lebens mit brutaler Repression vermengten (So überlebten von den rund 15 000 Kindern, für die u. a. die Oper „Brundibar“ 55mal aufgeführt wurde nur rund 150 das Kriegsende).
Der tendenzielle Verlust des (politischen) Realitätssinns
Diese, nur scheinbar weit hergeholte Assoziation über ein, das Europa des 20. Jahrhunderts prägenden Geschehens, überkam mich, als ich jüngst eine Veranstaltung des Österreichischen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur zu „Kreative Partnerschaften“ besuchte. U. a. berichtete dort eine Mitarbeiterin der englischen Vermittlungseinrichtung „Culture, Creativity, Education“ in bewegten Worten über ihr Flagship-Programm „Creative Partnerships“. Einmal mehr zeigten sich die österreichischen ZuhörerInnen über die schieren finanziellen Größenordnungen fasziniert, darüber hinaus von den vollmundigen Versprechungen und den Beweisen, welchen nachhaltig positiven Beitrag das Programm für die Verbesserung der Lebenschancen gerade für benachteiligte junge Menschen zu leisten vermag.
Was die Kollegin aus England aber mit keinem Wort erwähnte, das waren die geänderten politischen Rahmenbedingungen, die mit dem Amtsantritt der Regierung Cameron/Clegg dem Projekt ein baldiges Ende vorsehen. Dabei hatte der Direktor Paul Collard von CCE bereits vorigen Oktober öffentlich gemacht, dass die neue Regierung – sehr zu seinem Bedauern – nicht bereit war, den in mehreren Evaluierungen nachgewiesenen positiven Wirkungen Rechnung zu tragen und statt dessen im Rahmen des allgemeinen Sparkurses eine schrittweise Beendigung bis 2012 vorzunehmen. Als einer der Gründe wurde die Herkunft des neuen Erziehungsministers Michael Gove ins Treffen geführt, der sich als wie viele seiner aktuellen Amtskollegen eine andere Bildung, als die er selbst in einer der britischen
Eliteschulen genossen habe, gar nicht vorstellen könne.
Diese Art der rhetorischen Realitätsverweigerung schien mir umso erstaunlicher, als ich bei anderen europäischen Treffen der jüngsten Zeit durchaus den Eindruck gewinnen konnte, dass den englischen KollegInnen die politisch verordneten Grenzen bisheriger Advocacy-Strategien zugunsten einer neuen Lehr- und Kernkultur angesichts des parteipolitischen Wechsels der Kräfteverhältnisse durchaus zum Nachdenken gebracht haben.
Die Erfolge von „Creative Partnerships“ und die perspektivlosen Realitäten für junge Menschen am Arbeitsmarkt
An die Grenzen meiner Verständnisbereitschaft aber bin ich gestoßen als die Mitarbeiterin von CCE einen ehemaligen englischen Minister zitierte („Und wenn es ein Minister sagt, dann muss es ja wahr sein“) der gemeint haben soll, 60
% der Jobs, den die SchülerInnen von heute einmal ausfüllen würden, seien noch gar nicht „erfunden“ worden. Daher habe sich “Creative Partnerships” zum Ziel gesetzt, den jungen Menschen die Haltung zu vermitteln „not to seek for a job but to create a job“.
Ginge es darum, den Beweis für diesbezügliche Arbeitsmarkterfolge von “Creative Partnerships” anzutreten, dann kämen wir rasch in Verlegenheit (und müssten möglicher weise der englischen Regierung sogar zustimmen, das Projekt möglichst rasch zu stoppen). Immerhin wies England – „Creative Partnerships“ hin oder her – im März dieses Jahres einen Höchststand der Arbeitslosigkeit im Ausmaß von 2,53 Mio. aus. Dabei nahm der Anteil der Jugendarbeitslosigkeit nochmals eine Sonderstellung ein. Sie beträgt bei 16 – 24jährigen – dem Office of National Statistics zufolge – mittlerweile über 20%.
Völlig irrwitzig aber wird die Behauptung, kulturelle Bildung wäre in der Lage, die Beschäftigungschancen junger Menschen nicht nur punktuell sondern strukturell zu verbessern, wenn man in den Süden Europas blickt. So hat die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien mittlerweile ein völlig unerträgliches Ausmaß von 50% erreicht, gefolgt von Griechenland, dessen von völligem Zusammenbruch bedrohte Wirtschaft nur mehr in der Lage ist, rund 55% der Jugendlichen Aussicht auf Beschäftigung zu bieten. Und angesichts dieser schieren Zahlen wird wohl niemand argumentativ versuchen wollen, kulturelle Bildung als Maßnahme für einen nachhaltigen Verbesserung der Arbeitsmärkte anzupreisen.
Ich erwähne dieses Beispiel, weil sich damit sehr gut die zunehmende Verselbständigung eines Diskurses nachzeichnen lässt, der immer weniger in der Lage ist, auf die realen Verhältnisse derer, an die sich kulturelle Bildung vorgeblich richtet Bezug zu nehmen. Und so verständigen sich in der Regel pragmatisierte Lobbyisten, die nie auch nur einen einzigen Job geschaffen haben, in erster Linie zur eigenen Psychohygiene über junge Menschen, denen kulturelle Bildung dazu verhelfen soll, ihren eigenen Job zu kreieren. Und werden nicht einmal rot dabei.
Die Zukunft Europas steht auf dem Spiel
Die erschreckenden Arbeitslosenzahlen sind nur ein, dafür besonders signifikantes Zeichen für eine für eine umfassende politische Perspektivlosigkeit der demokratischen Kräfte in Europa.. Entsprechend erlebt der Kontinent in diesen Tagen eine fundamentale Krise, die die Grundfesten des Zusammenlebens seiner Gesellschaften erschüttert. Was sich hier zusammenbraut, das ist ein globaler Wirtschaftskrieg, dem Europa mit seinen wachsenden zentrifugal wirkenden nationalistischen Kräften, denen nur sehr unzulänglichen Kooperationsstrukturen entgegenstehen, kaum gewachsen zu sein scheint. Und plötzlich stehen fundamentale europäische Werte zur Disposition, wenn von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien in einer immer mehr Ländern mühsam errungene demokratische Errungenschaften angezweifelt und bislang selbstverständliche Solidaritäten in Frage gestellt werden.
Den Preis zahlen nicht nur die politisch zunehmend ausgegrenzten MigrantInnen; die Verunsicherung reicht mittlerweile weit in mittelständische Milieus, die traditionell als die entscheidenden Träger des kulturellen Lebens gelten, jetzt aber ganz andere Probleme haben, weil sie ihre Zukunftsperspektiven in Frage gestellt sehen. Dazu warnte jüngst der ehemalige österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, sich vom bislang gemeinsamen Ziel eines sozialen Europa zu verabschieden. Die einzig verbleibende Antwort der Betroffenen sieht er in der Verschärfung sozialer Konflikte bzw. im Ausbrechen einer neuen Welle durchaus handgreiflicher Revolutionen. Es wäre das dann die tätige Umsetzung von Stéphane Hessel’s Forderung nach „Indignez Vous!“ mit unabsehbaren gesellschaftspolitischen Folgen.
Was hier – von den RepräsentantInnen kultureller Bildung weitgehend ignoriert und damit unkommentiert – passiert ist nach Gusenbauer „die schrittweise Zerlegung sozialer Erfahrungen und Bedürfnisse, die die Abschaffung von deren Erfordernissen durch angewandtes Ignorantentum vorbereitet. Wenn man wissen will, wie Staaten aussehen können, die sich bereits auf der Zielgeraden des neu eingeschlagenen Weges befinden, braucht man nur nach Ungarn oder Italien zu schauen“.
Liegt Europas Ausweg in seiner umfassenden Musealisierung?
Bereits 2006 hatte der deutsche Professor für Ästhetik Bazon Brock im Rahmen seines „Lustmarsches durchs Theoriegelände“ vor einer Niederlage Europas in diesem zunehmend brisanter werdenden Konkurrenzkampf gewarnt. Auch wenn manche RepräsentantInnen kultureller Bildung dem vielleicht sogar etwas abgewinnen können, prognostizierte er bereits vor fünf Jahren den künftigen Funktionszuschreibung Europas als eines großen Museums der überkommenden Werte. Seine geopolitische Position im Rahmen einer künftigen internationalen Arbeitsteilung würde sich im wesentlichen darauf beschränken, bei seinen Gästen die Erinnerung am realpolitisch verloren gegangener Werte wie Demokratie, Solidarität aber auch Kultur oder Kunst wach zu halten, die hierzulande als Museumsobjekte noch einmal in ihrer ganzen gesellschaftspolitische Wirkungslosigkeit bestaunt werden können.
In äußerster Zuspitzung hätten wir es dann mit einem europaweiten Theresienstadt zu tun: Ja, auch in einem solchen Zukunftsszenario könnten die Menschen Musik machen, Theater spielen, vielleicht sogar Filme drehen. Diese Tätigkeiten mögen ihre Lebensbedingungen zumindest für den jeweiligen Augenblick erträglich erscheinen lassen, vielleicht sogar Hoffnungen auf einen Ausweg wach halten. Und doch werden diese kulturellen Tätigkeiten in erster Linie zu einer Bestätigung, dass sie als EuropäerInnen nicht mehr Herr oder Frau ihrer Lage sind; dass politisch Mächtige ganz andernorts über sie bestimmen und über ihr Leben – und im letzten auch über ihr Sterben – entscheiden (um dabei auch noch auf das reiche kulturelle Leben als wirkungsvolles Propagandaargument zur Bestätigung der eigenen Machtansprüche ins Treffen zu führen).
Für ein Kulturleben jenseits der politischen Verdummung
In diesen Tagen ist das Buch „Blödmaschinen – Die Fabrikation der Stupidität“ von Markus Metz und Georg Seeßlen herausgekommen. Ich würde gerne künftigen Diskussionen zu kultureller Bildung das Motto dieser umfassenden Gesellschaftsanalyse ans Herz legen: „Diese Gesellschaft verwandelt sich von einem System, das von sich nichts wissen kann, über ein System, das von sich nichts wissen darf, in ein System, das von sich nichts wissen will“.
Um diese These zu falsifizieren empfehle ich uns allen die Lektüre des Buches, vielleicht während der kommenden Sommerferien am Strand einer griechischen Insel, in der Hoffnung, damit einen ganz konkreten, weil finanzwirksamen Beitrag zu leisten, der mithilft, den völligen Kollaps dieses EU- Mitgliedsstaates (und bei der Gelegenheit vielleicht auch gleich des ganzen europäischen Projekts) abzuwenden.
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