
Europa wird kulturell sein oder es wird nicht sein
In einem Radiointerview zur Vorstellung seines Buches Europa – Ein Plädoyer meinte zuletzt der Politologe Anton Pelinka, Europa wäre als ein „Hirnprojekt“ nach wie vor nicht im „Bauch der EuropäerInnen“ angekommen.
Dem möchte man zustimmen, wäre da nicht der hohe Aggressions-, ja Zornpegel eines wachsenden Anteils der Bevölkerungen, der darauf schließen lässt, dass zumindest in der Ablehnung dessen, was Menschen heute als Europa entgegentritt, durchaus den „Bauch“ in Form von heftigen Emotionen erreicht hat, die sich als Wasser auf den Mühlen der Renationalisten nutzen lassen.
Diese backlash der Gefühle ist auch Ausdruck einer kollektiven Hilflosigkeit angesichts einer medialen Berichterstattung, die täglich neu von gigantischen Transaktionen europäischer Finanzjongleure („Schuldenkrise!“) erzählt, die Europa angeblich retten sollen und doch bei den Menschen in erster Linie als eine Verschlechterung der Arbeits- und Lebensverhältnisse („Sparpakete!“) ankommt. Dass dieser Widerspruch die Stimmung für Europa nicht hebt, versteht sich da schon fast von selbst.
Eine intellektuelle Minderheit wie Anton Pelinka halten dagegen, dass dieses „unvollendete Projekt“ nach 1945 eine Reihe von Errungenschaften hervorgebracht hat – unter ihnen Frieden, soziale Sicherheit, individuelle Freiheitsrechte und Entfaltungsmöglichkeiten, Demokratie und Menschenrechte, die nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die selbst bei eingefleischten Euroskeptikern als unhintergehbar gelten und doch im Zuge eines drohenden Auseinanderbrechens der Europäischen Union (und einer damit verbundenen Zunahme innereuropäischer Konflikte) wieder in Frage gestellt wären.
Um die Zukunft Europas – wie es jetzt einem staunenden und zugleich seinen Handlungsmöglichkeiten beraubtem Publikum suggeriert wird – nicht ausschließlich einigen wenigen Bankern (und ihnen nach der Pfeife tanzenden Politikern) zu überlassen, beschäftigt mich insbesondere die Frage, ob und wenn ja Bildung und Kultur dazu beitragen können, den aktuellen europäischen Defaitismus zu bremsen und die dadurch hervorgerufene negative Energie in eine neue Form des pro-europäischen Engagements umzuwandeln.
Nationale Bildungs- und Kulturpolitiken als Bremsen des europäischen Integrationsprozesses
Vorab müssen wir zugeben, dass die Voraussetzungen dafür nicht gut sind. Immerhin sehen alle bisherigen europäischen Verträge vor, dass die politischen Zuständigkeiten sowohl für Bildung als auch für Kultur bei den Nationalstaaten verbleiben. Dieser Umstand verweist auf die Entstehungsgeschichte der nationalen Bildungssysteme, die auf den beiden Grundpfeilern „Stärkung der nationalen Identität“ und „Forcierung der Industrialisierung“ beruhten. In der Schule sollten die jungen Menschen auf ihre Rolle als loyale BürgerInnen ihrer jeweiligen Nation vorbereitet werden. Darüber hinaus funktionierte Schule als umfassende Selektionsmaschine, um dafür zu sorgen, dass die jungen PatriotInnen ihren Platz im industriellen System (als ProduzentInnen und zunehmend auch als KonsumentInnen) einzunehmen vermochten.
Die unmittelbaren Folgen zeigen sich bis heute, wenn Schule auf einen Mythos nationaler Besonderheiten abstellt, die die politischen Versuche einer weiteren europäischen Integration einfach ins Leere laufen lassen. Und so versuchen Bildungspolitiker einer Reihe von Ländern (unter ihnen Frankreich, Dänemark oder die Niederlande) krampfhaft noch einmal so etwas wie nationale Wissenskanons durchzusetzen, während die Vermittlung europäischer Wissensstände (etwa in Form europäischer Geschichtsbücher) nach wie vor die krasse Ausnahme bildet.
Vielleicht noch problematischer ist die Aufrechterhaltung einer „industriellen Logik“ von Schule in einer Zeit, in der in Europa gerade noch 8% des wirtschaftlichen Gesamtumsatzes der materiellen Güterproduktion zugeschrieben werden kann.
Absurd aber wahr: Nach wie vor tradiert Schule ein für alle gleichermaßen verbindliches wie starres Zeitgerüst von 45 oder 50 Minuten, in dem weitgehend unvermittelt die verschiedenen Stoffgebiete nacheinander behandelt werden. Dabei scheint irrelevant, dass diese – jedenfalls aus der Sicht vieler SchülerInnen – immer weniger mit deren Lebens- und Arbeitswirklichkeit zu tun haben. Und wenn in Europa die Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit in einzelnen Ländern wie Spanien oder Ungarn mittlerweile bis zu 50% erreichen, dann zeigt sich das ganze Ausmaß der dadurch verursachten verheerenden Konsequenzen für junge Menschen ganz unmittelbar. Und so ist es nur logisch, dass sie angesichts dieser Form der massenhaften Marginalisierung dem europäischen Projekt nichts Positives abgewinnen können.
Wir brauchen eine Neuerfindung von Schule
Ganz offensichtlich tut sich Schule wie kaum eine andere öffentliche Einrichtung schwer „the transition from an economic age to a cultural age“ (Paul Schafer: Revolution or Renaissance) zu schaffen. Und das, obwohl die Wortführer der internationalen Bildungsdiskussion seit vielen Jahren einen grundlegenden Wandel der nationalen Bildungssysteme fordern.
Nicht zufällig fällt mir in diesem Zusammenhang immer wieder Ken Robinson ein, der zuletzt in seinen TED lectures die ganze Antiquiertheit der gegenwärtigen nationalen Schulsysteme auf witzige, ja kabarettistische Weise auf den Punkt zu bringen sucht.
Man muss seine überzogenen Erwartungen an den schwachen Begriff der „Kreativität“ nicht teilen und kann doch auf die Idee kommen, dass Schule in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit eher dazu tendiere, die vielfältigen Potentiale junger Menschen zu behindern statt zu befördern. Allein die traditionelle Gegenstandshierarchie, die den Künsten (und damit einer engeren Verknüpfung von kognitiv-reflexiven und sinnlich-emotionalen Dimensionen von Lernen) bestenfalls einen Platz am Rand zuweist, führt dazu, dass viele potentiellen Stärken der jungen Menschen gar nicht als solche erkannt, geschweige denn gefördert bzw. genutzt werden.
Dazu kommt die vorwiegend passive Haltung, die den jungen Menschen nach wie vor in der Schule aufgezwungen wird. Alle erziehungswissenschaftlichen Befunde der letzten Zeit (unter ihnen auch die EDUCULT-Evaluierung des deutschen Projekts „Kultur.Forscher!“) kommen zum Schluss, dass ein forschender Zugang zu ausgewählten (in der Regel fachübergreifenden) Themenstellungen, der das Eigeninteresse und die Neugierde fördert sowie die möglichst aktive Einbeziehung der SchülerInnen in den Projektverlauf den Schlüssel für erfolgreiches Lernen darstellen.
Vereinfacht gesagt: Während sich die nationalen BildungspolitikerInnen in immer neuen Versuchen verheddern, Kosmetik am bestehenden Schulsystem zu betreiben (in der Hoffnung, es damit zu optimieren), wird immer deutlicher, das sich damit keine nationale und schon gar keine europäische Zukunftsperspektive mehr generieren lässt. Jeder, der einmal eine neue Schule wie das Orestad College (siehe Bild) in Kopenhagen besucht hat, in der sich architektonischer Anspruch mit einer schülerzentrierte Lehr- und Lernkultur zu einer neuen Form des schulischen Alltags verbinden, erfährt unmittelbar die Unhaltbarkeit des bestehenden Bildungsgefüges.
Ken Robinson hat in seinem Buch The Element – How Finding Your Passion Changes Everything auf der Grundlage von Interviews ganz unterschiedlicher Personen eine perspektivische Vorstellung von Lernen entwickelt. Nicht mehr die Einübung in nationale Identität und auch nicht die Zurichtung für eine bestimmte Produktionsweise stehen bei ihm im Vordergrund sondern die Fähigkeit der einzelnen LernerInnen, die innewohnenden Potentiale so zu entwickeln, dass sie daraus ein Leben lang Energie, Leidenschaft, Haltung und Sinn – auch und gerade in einer unübersichtlich gewordenen Umgebung – zu schöpfen vermögen. Kurz: Dass sie in ihrem Element sein können und daraus Stärke und Engagement ziehen.
Alle Beobachtungen zeigen, dass diejenigen, die gelernt haben, ihre Stärken zu erkennen und auf sie zu vertrauen, nicht notwendig eine neue Szene selbstbezüglicher Autisten bilden müssen. Ganz im Gegenteil: Eine positive Haltung zum eigenen Selbst erscheint als der entscheidende Ausgangspunkt für ein neues Interesse an anderen, an der eigenen Umgebung und damit an der Welt. Das gilt auch und gerade für ein Europa, das von der Mehrheit der in den überkommenen Zwängen der nationalen Schulsysteme verstrickten SchülerInnen überhaupt erst entdeckt und mit Leben erfüllt werden will (und daher fundamental auf die Neugierde und der aktiven Teilnahmebereitschaft nicht nur der jungen Generation angewiesen ist).
Vielfalt und Schönheit bedingen einander
Einen Grund, warum Schule sich gar so schwer tut, die Beschäftigung mit Kunst zu einem zentralen Thema zu machen habe ich in einem Buch von Josef Reichholf mit dem Titel Der Ursprung der Schönheit gefunden. Anhand Darwins Evolutionstheorie verhandelt Reichholf die herrschenden Vorstellungen von Schönheit, in denen er nicht den Ausdruck eines allgemein Verbindlichen, sondern – ganz im Gegenteil – als Repräsentation dessen sieht, was davon abweicht. Also verweist Kunst als Provokation, sich mit Schönheit zu beschäftigen, unmittelbar auf den Anspruch auf Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit. Wir können bei uns selbst leicht nachvollziehen, dass Idealbilder in der Regel zwar angenehm wirken, zugleich aber auch nichts sagend und wenig attraktiv, weil ihnen der Stachel der Abweichung fehlt.
Unversehens geraten damit die Begriffe „Schönheit“ und „Freiheit“ in ein enges Verhältnis, wobei Reichholf „Freiheit“ als unmittelbares Ergebnis der Suche nach Schönheit erkennt. Wenn sich aber Schönheit nicht in der Wiedererkennung eines erwarteten Durchschnittsmusters erschöpft und sich statt dessen in der Abweichung zeigt, dann wird deutlich, dass die Beschäftigung mit Kunst dazu führt, die Grundlagen einer Schule, die sich im Verlauf ihres Bestehens auf die Vermeidung jedweder Devianz spezialisiert hat, zu erschüttern.
Auch wenn wir Europa bislang nur sehr rudimentär erfahren haben; eines wissen wir mit Bestimmtheit: es ist vielfältig und es ist vielgestaltig.
Vor dieser Eigenschaft kann man sich fürchten. Oder man kann lernen, mit ihr umzugehen, um sie als eine besondere Qualität und Bereicherung zu erfahren. Als eine besonders attraktive Lernform plädiere ich in diesem Zusammenhang für eine intensivere Beschäftigung mit Kunst in der Schule (und auch außerhalb).
Immerhin ermöglicht sie – ganz im Sinne von Anton Pelinka und seinen Versuchen, Europa nicht nur im Kopf sondern auch im Bauch zu verankern – auf gleichermaßen kognitive wie sinnlich-emotionale Weise die Einübung in eine Freiheit, Schönheit in der Andersartigkeit und in der Vielfalt zu erkennen.
Wenn das gelingt, wäre viel für Europa gewonnen.
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